Читать книгу Geliebt wird anders - Kadhira del Torro - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеAndy machte sich in den nächsten beiden Tagen rar. Wenn er kam, dann in Begleitung von Kollegen, die sich nach ihrem Befinden erkundigten, die Akte studierten und ihr Mut zusprachen.
Nicole lag nicht mehr im Bett. Sie war unruhig und wollte sich bewegen. Sie hatte aus der Tasche, die ihr Kim mitgebracht hatte, einen Jogginganzug geholt. Vor ihrem Fenster war der Krankenhausgarten und lockte mit seinen Sandwegen. Aber noch bevor sie das Zimmer verlassen konnte, kehrte Andy zurück, blieb gleich hinter der Tür stehen und musterte sie von oben bis unten.
„Wo willst du hin?“
„Ich muss hier raus, Andy. Ich brauche Bewegung. Da draußen ...“ sie wies aus dem Fenster, „... ist ein Garten, in dem ich ein paar Runden laufen will.“
„Kannst du damit noch 'ne halbe Stunde warten?“
„Warum?“
„Der Bürgermeister steht samt Gefolge auf dem Flur und versperrt den Weg. Er will dich besuchen.“
„Oh nein.“ Nicole verzog das Gesicht und hätte am liebsten noch mit dem Fuß aufgestampft.
Andy lächelte. „Nur ein paar Minuten. Ich bleibe hier, wenn du möchtest.“
„Das musst du nicht. Wenn du was anderes zu tun hast, brauchst du nicht den Babysitter für mich zu spielen.“
Er öffnete die Tür, schloss sie aber wieder und drehte sich um. „Nicole, was zwischen uns ...“
„Nein“, unterbrach sie ihn und hob abwehrend die Hand. „Belassen wir es dabei.“
Einen langen Moment sah er sie an und schien zu überlegen, ob er protestieren sollte. Aber dann hob er mit einem winzigen Lächeln die Schultern. „Ich werde dem Bürgermeister sagen, dass er nicht zu lange bleiben soll, okay?“
„Tu das.“ Sie sah ihm nach und wartete. Sollte sie sich wieder ins Bett legen oder doch lieber hier am Fenster stehen bleiben? Bevor sie sich für eine der beiden Möglichkeit entscheiden konnte, klopfte es. Zu spät. „Ja bitte.“
Zuerst kam ein ziemlich großer, ziemlich breiter und ziemlich mürrisch aussehender Mann in einem dunklen Anzug rein. Ihm folgte der Mann, den sie in einem ganz anderen Outfit kennengelernt hatte, nicht in so einem feinen Anzug. Nach ihm kamen zwei weitere männliche Gestalten, die an der Tür stehen blieben und einfach nur stumm guckten.
„Miss Baker.“ Der sportliche Bürgermeister kam mit einem breiten Lächeln auf sie zu, die Hände vorgestreckt. Er nahm ihre Hand in seine und hielt sie fest, schüttelte sie, als wäre er auf einem Staatsempfang vor laufenden Kameras. „Miss Baker“, wiederholte er, als wüsste sie ihren eigenen Namen nicht, oder er müsste ihn sich in Erinnerung rufen.
Andy kam herein. Er lehnte sich von innen gegen die Tür und sah sie aufmerksam an, bereit, beim geringsten Stimmungsumschwung einzugreifen.
„Ich kenne meinen Namen, Bürgermeister“, meinte sie, entzog ihm ihre Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. Andys amüsiertes Lächeln ignorierte sie. „Um das ganze abzukürzen, möchte ich Ihnen etwas sagen, was Sie bitte nicht persönlich nehmen. Wenn ich gewusst hätte, was im Park passieren wird, wäre ich an dem Morgen mit meinem entzückenden Hintern im Bett geblieben. Okay, wir hätten vielleicht einen neuen Bürgermeister gebraucht und ich hätte die Kriminalität in dieser Stadt verflucht, die nicht mal vor so einem ehrenwerten Mann wie Ihnen halt macht. Und dann hätte ich mir überlegt, ob ich nicht getreu den Gesetzen meinen Hund zukünftig anleinen sollte. Und wissen Sie was? Die Tatsache, dass ich gegen das Gesetz verstoßen habe, weil Rico frei herumlief, hat Ihren Arsch gerettet. Und die einzige Frage ist die, ob es das wirklich wert war.“
Er sah schon etwas betreten drein und Nicole nahm ihm diese Rolle sogar ab. „Miss Baker, es tut mir wirklich Leid, dass Ihr Hund dabei ums Leben kann. Ich bin überzeugt davon, dass er etwas ganz außergewöhnliches war und ich möchte mich ...“
„Vergessen Sie’s ganz einfach, okay?“, unterbrach sie ihn und winkte ab. „Ich verzichte auf Ihre Entschuldigung, weil sie absolut keine Ahnung haben. Ich nehme es Ihnen nicht mal übel, denn Sie haben garantiert mit Ihrer Politik genug zu tun. Also, warum verschwinden Sie jetzt nicht einfach wieder und kümmern sich um Dinge, von denen Sie angeblich etwas verstehen?“
„Ich kann Ihre Wut verstehen, Miss Baker. Aber ich kann nicht rückgängig machen, was passiert ist. Wenn ich gewusst hätte, was im Park passiert, wäre ich auch Zuhause geblieben. Ich kann Ihren Hund nicht wieder lebendig machen. Und wenn es in meiner Macht stünde, würde ich die Zeit zurückdrehen und dem Officer sagen, er soll Sie verwarnen und dafür sorgen, dass Sie Ihren Hund gefälligst an die Leine nehmen, wie es das Gesetz vorschreibt. Ich werde an diesem Gesetz nichts ändern, auch wenn es mich das Leben gekostet hätte. Es wurden mehr Menschen von frei laufenden Hunden angefallen und sind ums Leben gekommen, als durch Hunde wie Ihren gerettet wurden.“
Nicole sah den Bürgermeister mit hochgezogenen Brauen an. Er war laut geworden, hatte seiner Wut über ihre beleidigenden Worte Luft gemacht und atmete nun tief durch. Es entlockte ihr eines ihrer seltenen Lächeln. „Waren das jetzt Ihre eigenen Worte oder hat Ihnen jemand diese Rede geschrieben? Nur für alle Fälle?“
„Man hat mich vor Ihnen gewarnt, ja.“
„Haben Sie deswegen Ihre Leibwächter dabei? Aus Angst, dass ich Sie verprügeln könnte?“
Er drehte sich um und sah die Männer an. „Meine Herren? Würden sie uns bitte allein lassen?“
Es dauerte einen Moment bis sich der Raum geleert hatte. Auch Andy ging, hob grüßend die Hand und schloss die Tür hinter sich.
„Mein erster Gedanke war, Ihnen einen neuen Hund zu schenken.“
„Was natürlich ein sehr blöder Gedanke war.“
„Ja. Kein anderer Hund kann den ersetzen, den Sie verloren haben. Und das meine ich wirklich so. Ich hatte als Kind auch einen Hund und habe ihn abgöttisch geliebt. Er lief auf die Straße und wurde von einem Auto überfahren. Meine Eltern schenkten mir daraufhin einen neuen. Aber es war nicht das gleiche.“
„Ich weiß nicht mal, ob ich mir einen neuen zulegen will. Ich glaube, ein Hund ist in meinem Leben nicht sehr glücklich. Ich habe viel zu wenig Zeit.“
„Rico hat sich sehr wohl gefühlt.“
„Ja.“ Sie setzte sich auf die Bettkante und sah aus dem Fenster. „Rico war einzigartig.“
„Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann, dann ...“
Sie drehte sich zu ihm um. „Drehen Sie die Zeit zurück.“
„Das kann ich nicht.“
„Dann erlassen Sie mir einfach die Steuer“, lachte sie. „Das wäre eine echte Hilfe. Okay, es war ein Scherz. Genießen Sie einfach nur Ihr Leben und machen Sie was draus. Gehen Sie nochmal zur Schule und lernen was Anständiges.“
Er lachte, setzte sich zu ihr und sah auch aus dem Fenster. „Man hat mir gesagt, dass Sie sehr männerfeindlich sind und dass Sie eine scharfe Zunge haben. Man sagte mir, dass ich mich hüten soll, irgendetwas zu tun oder zu sagen, was sich in den Medien nicht sehr gut macht. Kurz, ich soll Sie besänftigen. Aber wissen Sie was? Niemand hat mir gesagt, dass Sie Humor haben und eine sehr gutaussehende Frau sind.“
„Schleimer.“
Er lachte, stand auf und ging zur Tür. „Danke.“
„Die kurzen Hosen, die Sie beim Joggen anhaben, sehen fürchterlich aus.“
„Ich weiß. Aber sie sind ein wunderbarer Kontrast zu den steifen Anzügen, die ich sonst immer tragen muss.“
Nur vier Stunden später konnte sie das Krankenhaus verlassen. Nicht Andy teilte ihr diese Neuigkeit mit, sondern ein Kollege. Er sorgte dafür, dass das Büro informiert und ihr die Firmenlimousine geschickt wurde. Eine halbe Stunde später stand sie frisch geduscht, in einem dunkelblauen Kostüm und mit gepackter Tasche abreisebereit am Fußende des Bettes.
Andy kam rein und brachte einen Rollstuhl mit. „Ich muss doch sichergehen, dass du das Krankenhaus wirklich verlässt“, meinte er und bot ihr den Einzelplatz an. „Ma’am, darf ich Sie bitten Platz zu nehmen?“
„Muss das sein?“
„Ja, die Vorschriften.“
Nicole setzte sich und nahm ihre Tasche auf den Schoß. „Dann mal los.“
Sie sagten beide nichts mehr, bis sie im Fahrstuhl waren und sich die Türen geschlossen hatten. Andy lehnte sich mit gekreuzten Füßen und den Händen in den Hosentaschen an die Wand und sah sie an. „Du bist nicht sehr nett zum Bürgermeister gewesen.“
„So bin ich eben.“
„Nein. Du bist ganz anders, als alle sagen. Und viel stärker, als du glaubst.“
„Das werden wir ja sehen.“
Die Türen öffneten sich und gaben den Blick auf die Meute von Reportern frei. Jemand erkannte sie, rief ihren Namen und das Blitzlichtgewitter setzte ein. Sofort wurden sie umringt und Mikrofone so dicht an ihr Gesicht gehalten, dass sie nur zubeißen brauchte, um eins zu erwischen. Sie schob sie alle zur Seite, bedeutete Andy, stehen zu bleiben und stand auf.
Die Fragen kamen alle durcheinander, mindestens tausend auf einmal. Nicole sah sie alle an, sammelte sich – und dann lächelte sie. „Wenn sie alle durcheinander schreien, kann ich die Fragen nicht verstehen und auch nicht beantworten“, meinte sie und wies über die Köpfe hinweg zum Ausgang. „Außerdem stehen wir hier etwas ungünstig. Ich schlage vor, dass wir nach draußen gehen, wo mehr Platz ist.“
Tatsächlich zog die Meute los, erreichte noch vor ihr den Ausgang und platzierte sich im Halbkreis auf den Stufen zum Eingang. Allgemeines Gemurmel und die überraschten Gesichter zeigten deutlich, dass niemand mit einem offiziellen Interview gerechnet hatte. Ihre Bereitschaft brachte die Reporter allerdings dazu, sich ein wenig menschlicher zu benehmen und sie durch Handzeichen darauf aufmerksam zu machen, dass sie noch Fragen stellen wollten.
Zuerst erkundigte man sich allgemein und aus einem plötzlichen Anfall von Höflichkeit nach ihrem Befinden. Nicole dankte und meinte, dass es ihr gut ging. Als die Sprache auf ihren Hund kam, antwortete sie ehrlich. Er fehlte ihr, aber sie würde sich keinen neuen zulegen. Auch wurden Fragen an Andy, ihrem behandelnden Arzt gestellt, die er mit ihrem Einverständnis beantwortete. Rein medizinisch, professionell und doch mit einem Augenzwinkern, das die Reporter zum lachen brachte. Offensichtlich kannten sie ihn schon, was eine der nächsten Fragen bestätigte.
„Miss Baker, was haben Sie gedacht, als Sie erfuhren, dass ausgerechnet Ihr Arzt ein stadtbekannter Schürzenjäger ist?“
Das war es also, was er ihr hatte sagen wollen. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und lächelte amüsiert. „Dr. Cooper ist in erster Linie Arzt. Ein sehr hervorragender Arzt sogar. Aber ich kann bestätigen, dass er sehr charmant, zuvorkommend und höflich war und ...“ sie machte eine kleine Pause und lächelte in die Runde „... und das er sehr gut küssen kann.“
„Ach du meine Güte“, entfuhr es Andy und die Überraschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Plötzlich redeten alle wieder durcheinander, riefen ihr Fragen zu und Hektik kam auf.
Nicole bat um Ruhe und hob beschwichtigend die Hände. „Dr. Cooper und ich sind sehr gute Freunde geworden und er hat mir sehr geholfen. Aber außer dem Kuss, den ich sehr genossen habe, ist nichts passiert und wird auch nichts passieren. Wir sind uns einig, dass wir Freunde bleiben wollen. Und nun werde ich ins Büro fahren und sehen, ob ich nicht doch noch ein paar Opfer finde. Immerhin habe ich einiges nachzuholen.“ Sie nahm Andy kurz in den Arm, was natürlich hundertfach auf Zelluloid gebannt wurde, und flüsterte „Damit hast du garantiert nicht gerechnet, Casanova“, und bahnte sich einen Weg zu der wartenden Limousine. Kaum saß sie in den weichen Polstern, da wurden die Türen auch schon von Johann geschlossen und sie fand sich in dem Leben wieder, das sie vor einer Woche unfreiwillig verlassen hatte.
Der Wagen roch, als habe man ihn gründlich gereinigt. Sie sah sich um, sah die schmale Aussparung, in der bis vor kurzem die Wasserschüssel für Rico gestanden hatte. Auf dem Sitz neben ihr fehlten die Decke und die feinen, harten Hundehaare, die Rico eigentlich überall hinterlassen hatte. Ricos Gummimaus fehlte auch. Sie hatte immer im Wagen gelegen, gleich hier neben ihr. Man hatte also alle Spuren beseitigt, die auf ihn hinwiesen. Nur eins hatte man getan. Ein Bild von Rico war von innen an die Scheibe geklebt worden. An der linken, oberen Ecke des Rahmens befand sich eine schwarze Seidenschleife. Nicole lächelte leise und fuhr mit dem Finger über das Bild. „Hallo, Großer. Du warst sehr mutig. Ich bin stolz auf dich.“ Sie sah es noch ein paar Minuten an, betrachtete die stolze Haltung, die muskulöse Brust, die er nach vorn streckte, den geraden Rücken und den leicht angehobenen Stummelschwanz. Er hatte die kupierten Ohren aufgestellt, war aufmerksam und stolz wie immer.
Und dann widmete sie sich dem Berg von Notizzetteln, die in einer schwarzen Mappe vor ihr lagen, sah sie durch und sprach ihre Antworten und Bemerkungen in das kleine Diktiergerät. Sie hatte gerade die Hälfte geschafft, als sich die Kühlerschnauze des Wagens absenkte und Nicole sah raus. Sie fuhren soeben in die Tiefgarage des Bürohauses. Also packte sie alles in den schwarzen Aktenkoffer, den sie im Fußraum fand und fuhr mit dem Lift in die siebzehnte Etage. Hier oben war ihr Büro, so ziemlich in der Mitte des Hauses.
Die Begrüßung war herzlich und laut. Kim und Luzie hatten Kuchen gekauft und eine Flasche Champagner geöffnet. Und sie wollten natürlich jede Kleinigkeit wissen. Die ganze Wahrheit, denn sie hatten Nachrichten gesehen und wussten von dem Kuss. Nicole vertröstete sie auf später. Es war Montag und sie freute sich auf eine lange, arbeitsreiche Woche. Sie orderte einen starken Kaffee und marschierte in ihr Büro. Kuchen und Champagner passten in ihren Augen genauso wenig zusammen wie ihr Büro und der Mann, der auf ihrem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch saß. Unverschämtheit.
Sie marschierte mit großen Schritten auf ihn zu und schob seine Füße vom Schreibtisch. „Du hast eine Woche Zeit gehabt, dir dein eigenes Büro einzurichten. Woran ist es gescheitert? Zu viele Frauen?“
„Zu viel Arbeit und keine Lust“, meinte Jonathan Dunmore und stand auf. „Willkommen Zuhause.“
„Vielen Dank und raus. Ich habe zu tun.“
„Hast du ihn wirklich geküsst?“
Nicole stellte ihren Aktenkoffer neben den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, habe ich. Und ich muss sagen, dass es mir gefallen hat.“
„Wie hat er das geschafft?“
„Warum fragst du ihn nicht selbst?“
„Weil ..., kommt er etwa her? Ist da mehr zwischen euch, als du gesagt hast?“
„Nein.“
„Ich kriege es noch raus, Süße.“
„Nenn mich noch einmal so und ich breche dir den Arm.“
„Warum so liebenswürdig?“
„Warum nicht? Es hat sich nichts geändert.“
„Blödsinn. Soweit ich weiß, war es das erste Mal, dass du einen Mann geküsst hast und es dann auch noch brühwarm den Reportern erzählst. Mal abgesehen davon, dass du eigentlich nie Interviews gibst. Wenn das keine Veränderungen sind, dann will ich Charly heißen.“
„Okay, Charly. Raus! Ich will arbeiten. Und du solltest das auch mal versuchen.“
„Das habe ich. Vielleicht nimmst du dir mal die Zeit und hörst mir zu.“
Kim brachte Kaffee und Kuchen. Auch für Jonathan. Außerdem legte sie ein paar Akten auf den Schreibtisch und obenauf noch ein paar Faxe.
Nicole nahm sie und sah sie durch. „Schieß los, Casanova.“ Aber je länger sie ihm zuhörte, desto weniger interessierte sie sich für die Seiten in ihrer Hand. Wenn das stimmte, was er sagte, hatte er eine Menge ihrer Termine übernommen. Nicht alle, aber die meisten. Und er konnte stolz auf sich sein, denn die meisten Termine hatten oder würden sich in Verträge umwandeln. „Nicht schlecht“, gab sie zu und nickte anerkennend. „Du überraschst mich.“
„Warum?“ Er setzte sich auf die Schreibtischkante und nippte an seinem Kaffee. „Weil du nicht geglaubt hast, dass ich ein echter Geschäftsmann bin? Weil du dachtest, dass ich außer ... wie drückte Kim sich aus? ... außer auf Frauen herumzusteppen, dabei zu sabbern und irgendwelche kranken Laute auszustoßen, nichts kann?“
„Hat sie das gesagt?“
„Das hast du gesagt. Sie selbst war ganz zufrieden.“
„Du hast sie mit nach Hause genommen?“
„Nein. Wir sind zu ihr gegangen.“
„Und Carol?“ Carol und Kim wohnten zusammen, wobei sich Kims freizügige Männerwirtschaft nicht immer mit Carols keuschen Gedanken vertrug.
„Carol war auch ganz zufrieden.“
„Sie war was?“ Nicole sah ihn misstrauisch an. „Ich hoffe, dass du damit meinst, dass ihr ihre Nachtruhe nicht durch unartikulierbare Laute und Bettfedernquietschen gestört habt.“
„Nein, ich meine damit, dass Carol zuerst wütend wurde, weil wir nicht in Kims Schlafzimmer gegangen sind, sondern in die Küche. Und dort wollte sie sich mitten in der Nacht was aus dem Kühlschrank holen und fühlte sich gestört.“
„Das glaube ich nicht.“
„Es geht noch weiter. Carol beschwerte sich also bei uns, nahm sich Eis aus dem Kühlfach und ging in ihr Schlafzimmer. Ich bin hinterher und wollte mich eigentlich nur entschuldigen. Aber dann habe ich gesehen, wie sie das Eis gegessen hat.“ Sein Grinsen wurde breiter.
Nicole sah ihn fassungslos an. „Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Du hast doch nicht etwa ...?“
„Doch, habe ich.“
„Oh, du ..., du ...“
„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“
„Was noch?“, wollte sie sofort wissen und starrte ihn an.
„Tja, wir hatten bis Mitte der Woche unseren Spaß und dann hat Carol einen anderen Lover gefunden. Kim und ich haben uns vergnügt, bis sie am Freitagabend nach Los Angeles geflogen ist. Da habe ich Pia gefragt, ob wir nicht ...“
„Oh nein.“
„Da habe ich sie gefragt, ob wir nicht etwas trinken gehen wollen. Und das taten wir dann auch. Am Freitag und am Samstag. Am Sonntag sind wir dann Essen gegangen und abends ins Theater. Tja, und heute Morgen haben wir zusammen gefrühstückt.“
Nicole machte dicke Backen. „Dann hattest du also eine sehr erfolgreiche Jagd. Und was hast du nächste Woche vor?“
„Laut Personalcomputer arbeiten einhundertsechsunddreißig Frauen in diesem Haus. Ich glaube, damit habe ich für die nächste Zeit ausgesorgt.“
„Du bist unmöglich“, stöhnte Nicole.
„Ich weiß. Aber da sich deine Einstellung, was Männer angeht, dank Dr. Cooper geändert hat, solltest du mir sagen, ob du lieber ins Kino, ins Theater oder in den Zoo möchtest und in welchem Restaurant ich einen Tisch für uns reservieren soll. Oder gehen wir gleich zu dir?“
Nicole kniff die Augen etwas zusammen und hatte bereits eine scharfe Bemerkung auf der Zunge. Aber dann lächelte sie. „Hast du morgen Abend schon was vor?“
„Morgen ist Dienstag. Nein, da habe ich nichts vor. Also? Soll ich reservieren?“
„Nein. Die Firmenlimousine wird dich zu mir nach Hause bringen. Um acht Uhr?“
Er grinste breit. „Was hat dieser Arzt dir nur für ein Medikament gegeben?“
Nicole lächelte, sagte aber nichts.
„Ich werde pünktlich sein“, versprach er und stand auf. Aber nur einen Schritt weiter fiel ihm etwas ein. „Nicole? Da gibt es noch etwas ...“
„Was?“
„Du solltest diesen Joshua Bancroft anrufen. Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen und er bestand darauf, mit dir zu sprechen.“
„Warum?“ Ihre Frage holte ihn an der Tür ein.
„Er wollte nicht mit mir reden, weil seine Frau und ich vor ein paar Jahren ...“
„Alles klar“, winkte sie mit einem tiefen Seufzen ab. „Kim soll ihn anrufen und einen Termin machen.“
„Danke.“
„Waren die beiden damals schon verheiratet?“, wollte sie dann doch noch wissen.
„Ja.“
„Oh Gott, hau bloß ab, Casanova.“
Der Montag ging schnell rum und war angefüllt mit Arbeit, Menschen und Unmengen an Telefongesprächen. Es herrschten Lärm und Hektik, eben Stress, der ablenkte von den Bildern, die sich immer wieder in Nicoles Gedanken schlichen und ihr Kopfschmerzen verursachten. Am Nachmittag erlitt sie dann einen leichten Schwächeanfall. Ihr wurde übel und schwindelig und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie war allein in ihrem Büro und bereitete sich gerade auf den nächsten Termin vor, die halb volle Kaffeetasse auf dem Tisch, die sie immer in der Vorbereitungsphase trank. Heute nicht! Sie schüttete den Kaffee in den Ausguss, spülte sich den Mund aus, fächerte sich kühle Luft zu und ging vor ihrem Schreibtisch auf und ab, bis sich der Kreislauf erholt hatte. Zum Schluss noch ein halbes Glas Champagner als Blutdruckstabilisator, ein Pfefferminz für den frischen Atem und dann ging es weiter. Nach dem Termin warf sie eine Kopfschmerztablette ein. Sie hatte immer welche in der Handtasche. Zum Feierabend konnte sie sich dann kaum noch auf den Beinen halten, lächelte tapfer und ließ sich nichts anmerken. Aber sie war dankbar für die Firmenlimousine, weil sie sich mittlerweile zu schwach fühlte, um selbst zu fahren. Zuhause reichte ihre Kraft ja nicht mal mehr dafür aus, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Angezogen wie sie war fiel sie der Länge nach auf ihr Bett, ließ lediglich den Aktenkoffer irgendwo fallen, nur wo, wusste sie nicht. Ihre Augen schlossen sich, sie würgte und spürte, dass sie sich erbrach. Aber sie konnte nicht aufstehen. Sie rang nach Luft, atmete dabei den widerlichen Geruch des Erbrochenen ein und würgte wieder. Irgendwann schlief sie ein – oder fiel in Ohnmacht, egal. Ihr Gehirn erlöste sie gnädigerweise vom Geruch und dem Würgen.
Dafür kamen die Träume. Sie kämpfte, hielt Rico fest, hörte sein Jaulen, wie es in kurzen Tönen auf und ab schwoll, stundenlang. Sie hielt sich die Ohren zu, schrie, hörte den Schuss, noch einen, noch einen. Es wollte nicht aufhören. Immer und immer wieder das Jaulen, die Schüsse, der Anblick, als er dalag, seine Pfoten zuckten, er sich noch mal aufbäumte und den Fuß des Täters erwischte. Wieder Jaulen, die Pistole – übergroß, beinahe riesig. Alles war so realistisch. Bis auf die Tatsache, dass der Täter sich in ihren Träumen zu ihr umdrehte und sie ansah, mit einem bösen Lächeln auf sie zu kam. Es war Ron Simeon. Und er tat, was er schon einmal getan hatte. Sie hielt sich an Rico fest, versuchte zu trösten und zu ertragen – und hörte ihn immer und immer wieder jaulen …
Der Dienstag war nicht besser. Sie war früh aufgestanden, hatte bereits vor dem Kaffee eine Schmerztablette eingeworfen und die zweite nach dem Duschen. Sie musste das Bett abziehen und ihre Wunden versorgen. Sie hatte sich blutig gekratzt, an den Oberschenkeln, der Brust, dem Bauch und den Oberarmen. Gott sei Dank nicht im Gesicht, dann hätte sie eine Erklärung abgeben müssen. So konnte sie mit Make-up die Spuren der Nacht überdecken, sich mit Arbeit rausreden, die sie mitgenommen, aber nicht erledigt hatte. Sie würde es zwischendurch machen. Irgendwann. Gegen Mittag hatte sie eine halbe Flasche Champagner intus, sechs Schmerztabletten geschluckt und den meisten Kaffee in den Ausguss geschüttet. Sie lächelte – und niemand merkte etwas. Gegen Mittag sah Jonathan rein und wollte sie zum Essen ausführen. Aber sie lehnte ab und redete sich mit zu viel Arbeit raus. Er nickte nur und ging mit seiner neuen Flamme los, die er auf die Schnelle auftrieb. Nein, er hatte keine Langeweile, auch wenn er kaum Termine hatte und sein Büro mit Pflanzen und einigen Einrichtungsgegenständen füllte. Hauptsächlich kümmerte er sich um die Bar und einen Waffenschrank. Er stand auf Gewehre. Alte Gewehre aus dem Bürgerkrieg. Sollte er!
Jonathan hatte seinen letzten Termin heute in einem Restaurant, wo er sich mit einem Geschäftspartner traf. So bekam er natürlich nicht mit, was er nun jeden Dienstag erleben sollte. Pia und Carol tauchten kurz vor Feierabend auf, quatschten, tranken Kaffee und gemeinsam mit Kim, Luzie und Nicole ging es in der Firmenlimousine Richtung Heimat. Heute war es nicht anders. Außer vielleicht, dass sie statt ihres dunkelblauen Hausanzuges ein dunkelrotes Abendkleid anzog, sich frisch machte und ihr Make-up erneuerte. Sie nahm einen Umschlag aus dem Schreibtisch, lachte pflichtschuldig über einen Witz, den sie gar nicht richtig mitbekommen hatte, und ließ das Kuvert in ihrer kleinen Handtasche verschwinden. Ihre Autoschlüssel lagen auf der Anrichte in der Küche, die Papiere auch. Sie sah sich um. Der Champagner war gekühlt, das Essen fertig und Videofilme lagen bereit. Popcorn, Sahne und Eis waren genauso vorhanden wie ausreichend Handtücher. Die vier würden sich schon mit Jonathan vergnügen und dafür sorgen, dass er Spaß hatte.
Sie hörte die Limousine vorfahren, steckte die Papiere ein und nahm den Schlüssel. „Viel Spaß, ihr Süßen. Und macht mir keine Schande, okay?“
„Haben wir das nicht schon?“, fragte Pia und sah ein wenig schuldbewusst aus.
Nicole schüttelte den Kopf, öffnete die Tür und lächelte Jonathan an. „Hi.“
„Hallo. Ich habe Wein mitgebracht und ...“ Er sah an ihr vorbei auf Pia, Kim, Luzie und Carol. Dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. „Ich dachte wir ...“
„Nicht denken“, unterbrach sie ihn. „Ich habe was anderes vor. Viel Spaß.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter, lächelte und schob ihn in den Flur. Dann zog sie die Tür hinter sich zu und ging zu ihrem Wagen.
Das Cabrio brachte sie zügig in die Innenstadt. Sie würde nicht nur pünktlich sein, sondern hatte sogar ein paar Minuten für die Reporter eingeplant, die garantiert vor dem Restaurant warteten. Und so war es auch. Sie brachte den Wagen gerade zum Stehen, als sie sich auch schon um sie drängten und die ersten Fragen abschossen. Nicole schüttelte den Kopf und lächelte tapfer. Sie nahm ihre Handtasche und ließ den Wagen parken, blieb aber artig mitten in der Meute stehen. „Guten Abend, meine Damen und Herren“, begrüßte sie die Reporter mit tiefer, samtweicher Stimme. „Leider kann ich ihnen jetzt noch nicht viel sagen, außer dass ich mich freue, mit dem Bürgermeister zu Essen. Es ist mir eine Ehre und ich werde es genießen.“
Noch ein paar harmlose Fragen, auch nach Andy, denn das Interesse war da. Aber dazu konnte sie eigentlich gar nichts sagen, denn sie hatte ihn in dem ganzen Trubel schlichtweg vergessen. „Natürlich sehen wir uns wieder“, meinte sie. „Aber wann, weiß ich noch nicht. Erst mal muss ich ein wenig von der Arbeit aufholen, die liegen geblieben ist.“ und „Ja, natürlich war das ernst gemeint, junge Frau. Wenn Sie mir nicht glauben, dass er gut küssen kann, dann überzeugen Sie sich doch selbst.“ Natürlich wurde auch die Frage gestellt, was zwischen Jonathan Dunmore und ihr war. Wie standen sie zueinander? Gute Frage. Wir sind Freunde geworden, bezeichnete Nicole das Verhältnis zwischen ihnen vorsichtig. Er hatte viel geschafft, Termine wahrgenommen und war auch sonst ein angenehmer Geschäftspartner. Sie würde sich mit ihm vertragen, teilte sie den Leuten sehr zu deren Bedauern mit. Aber sie würde sie auf dem Laufenden halten. Versprochen!
Dann ging sie ins Restaurant. Die Reporter mussten draußen bleiben!
Sie wurde zum Tisch begleitet und der Stuhl zurechtgerückt. Der Bürgermeister setzte sich wieder, als sie es bequem hatte. Die Begrüßung war vielleicht ein wenig kühl. Anscheinend wusste er nicht genau, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, was Nicole albern fand.
„Was ist los, Bürgermeister? Hatten Sie einen anstrengenden Tag? Oder mussten Sie sich verpflichten, Ihr Lächeln im Amt zu lassen, wenn Sie nach Hause gehen?“
Da war es! Ein Lächeln, wie man es von den Wahlplakaten kannte. „Nein. Ich war mir nur nicht ganz sicher, ob wir immer noch Freunde sind.“
„Warum nicht? Haben Sie inzwischen was angestellt, das ich ausbaden muss?“
„Nein.“
„Was denn? Haben Sie ausgerechnet, was mich die fünf Jahre ohne Hundeleine an Strafe kostet und haben die Rechnung gleich mitgebracht?“
„Auch nicht. Es ist nur eine andere Voraussetzung, unter der wir uns treffen. Ich dachte, dass Sie vielleicht wieder ...“
„... die Kratzbürste sind, vor der man Sie gewarnt hat?“, vollendete sie seinen Satz und lachte leise. „Nein, ich glaube nicht. Und wenn, dann sagen Sie es mir und ich zahle einen Strafobolus für die Stadtkasse. Einverstanden?“
„Einverstanden.“
Die Karte wurde gebracht und ihr Aperitif kam unaufgefordert – wie früher. Nur der Wassernapf zu ihren Füßen fehlte. Sie stieß mit dem Bürgermeister an und stand anderthalb Stunden Essen und Small Talk durch. Sie lachte und scherzte, wie es sich für einen angenehmen Abend unter Freunden gehörte. Gleichzeitig litt sie in ihrem Innern, wann immer ihre Hand automatisch zur Seite zuckte und den rot-schwarzen Kopf mit den kurzen Drahthaaren kraulen wollte. Nur um zu zeigen, dass sie da war. Alles in Ordnung, mein Großer, entspann dich. Sie griff ins Leere. Jedes Mal.
Das Essen war vorbei, sie tranken Wein und tanzten sogar. Der Hausfotograf bat darum, ein paar Bilder machen zu dürfen und man gestattete es ihm. Nicole entschuldigte sich, als die Musik aufhörte, und suchte die Toiletten auf. Sie überzeugte sich davon, dass sie allein war, schaffte es gerade noch in eine der Kabinen und übergab sich. Ihre Handtasche bekam etwas ab, die Klobrille auch, also musste sie putzen und etwas Parfum auf das weiche Leder geben. Sie erfrischte sich, erneuerte ihr Make-up und lächelte tapfer. Nicht mehr lange, dann hatte sie es geschafft.
Noch eine Stunde Unterhaltung, ein weiteres Tänzchen, dann war Feierabend. Nicole verabschiedete sich, bedankte sich für den netten Abend und versprach, dass sie das mal wiederholen würden – irgendwann.
Ihr Wagen wurde vorgefahren und sie war großzügig mit Trinkgeld, schon immer gewesen. Rico sprang nicht in den Fond, war gar nicht da, obwohl sie automatisch einen Blick nach hinten warf, kaum dass sie hinter dem Lenkrad saß. Sie wollte nicht weinen, schluckte den schweren Brocken im Hals herunter, kämpfte gegen die Traurigkeit und fuhr los, eine Stunde lang kreuz und quer durch die Stadt. Schließlich fand sie sich am Eingang des Parks wieder, in dem sie bis vor zehn Tagen Joggen gegangen war. Jetzt nicht mehr. Sie konnte es nicht.
Ihre Hände lagen auf dem Lenkrad. Sie starrte durch das Tor in die Dunkelheit, in das schwarz und grau der Bäume und des Rasens. Nur schemenhaft waren die Bänke und der Kiosk zu erkennen. Vereinzelt gab es Lichtinseln von den Laternen, aber sie brachten nicht viel, weniger noch als der Mond, der hinter den Wolken verschwand und ihre Tränen nicht sehen wollte.
Nicole tastete nach ihrer Handtasche und zog das Halsband raus, das der Bürgermeister ihr gegeben hatte. Es war alles, was von Rico übrig war. Das schwarze Lederhalsband mit der kleinen Marke, auf der Rico eingraviert war, wog schwer in ihren Händen. Sie hielt es ganz fest. So fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten und schmerzten, sie die Tränen nicht spürte, die auf ihre kalte Haut tropften, daran entlang liefen, auf ihr Kleid fielen und dort dunkle Flecken hinterließen.
Der Morgen graute. Das Licht schlich sich fadenförmig in die Dunkelheit, tauchte die Baumwipfel in ein unwirkliches Licht und zeigte den leichten Dunst, der wie Watte auf allem lag. Ein neuer Tag brach an. Die ersten Arbeiter kamen und brachten kleine Wagen mit Arbeitsgeräten mit. Sie würden den Park säubern, jeglichen Unrat entfernen und die kriminellen Elemente in ihre Löcher treiben.
Noch immer starrte sie durch das Tor und sah ganz weit hinten den Ort, an dem Rico gestorben war. Sie konnte sich einfach nicht lösen. Vor ihren Augen tanzte er über die Wiesen, spielte, schnupperte und erfreute sich seines Lebens. Dann blieb er stehen, sah konzentriert aus… und lief in den Tod.
Nicole schloss einen Moment die Augen, sah wieder Ron Simeons vor sich, warf Handtasche und Halsband neben sich auf den Sitz und fuhr los. Zügig, eigentlich viel zu schnell für den aufkommenden Verkehr, den sie gar nicht wahrnahm. Ihre Augen waren angefüllt mit Tränen und sahen nicht, was sie sehen sollten. Ihr Fuß trat das Gaspedal immer weiter durch, der Motor wurde lauter, konnte aber die Windgeräusche nicht übertönen.
Vor ihr war es noch dunkel, die Sonne schickte ihr blutrotes Licht von hinten, erreichte das Meer noch nicht ganz und ließ das Wasser schwarz aussehen, auch auf diese Entfernung. Die Straße führte geradewegs darauf zu. Nur geradeaus. Nichts weiter.
Die Ampel hing an einem Stromkabel quer über der Straße. Nicole sah das rote Licht und legte den Kopf in den Nacken, als sie darunter durch fuhr. Die Hände fest am Lenkrad und das Gaspedal durchgetreten. Ihre Tränen wurden ihr aus den Augenwinkeln gerissen, hinterließen helle Streifen in ihrem Gesicht und wehten fort.
Sie lächelte – und dann wurde es dunkel.
„Sind Sie in Ordnung, Miss? Können Sie mich hören?“
Nicole kam nur langsam zu sich. Staunend sah sie auf das Vorderteil ihres Wagens, das sich wütend in die Seite eines Chevrolet Cabrios gebohrt hatte. Ihre Tür fehlte, der Beifahrersitz auch. Stattdessen hockte dort ein Mann in einem dunklen Anzug, lächelte und sah sie fragend, vielleicht sogar ein wenig besorgt an. Hinter ihm konnte sie Feuerwehrleute erkennen, Polizisten, und die Straße war abgesperrt. Was war hier los?
„Wie heißen Sie?“
„Was geht Sie das an?“, fauchte Nicole und gab es auf, um den Mann herum zu den Schaulustigen zu sehen. Sie lehnte sich zurück und ließ endlich das Lenkrad los. Ihre Finger schmerzten. Erst jetzt sah sie seine Hand, die ihr Handgelenk festhielt. Sie schüttelte sie ab und verschränkte ihre Finger gleich auf dem Blechstück, das den Weg zu ihrem Schoß versperrte und auf ihre Blase drückte. Sie versuchte es an die Seite zu schieben, aber es ging nicht. „Was sitzen Sie hier rum? Helfen Sie mir gefälligst“, fuhr sie den Mann an. Doch statt das Blechstück zu entfernen, legte er ihr eine graue, hässliche Decke über den Oberkörper. Sie versuchte sie wegzuschieben, aber er hielt sie fest. „Nehmen Sie Ihre verdammten Finger weg“, rief sie böse.
„Wie heißen Sie?“, versuchte er es noch einmal.
„Gucken Sie doch ins Telefonbuch“, knurrte sie und schielte zu dem Sanitäter, der neben ihr auftauchte.
„Da brat mir doch einer 'nen Storch“, meinte der und sah sie mit großen Augen an. Dann bückte er sich, legte den Kopf auf die Seite und sah unter das Blech.
Nicole schlug ihm an den Kopf. „Lassen Sie das, Sie ..., Sie ...“
„Jetzt reicht es“, meinte der Mann an ihrer Seite, griff nach Ihren Händen und hielt sie fest. „Versuchen Sie mal die Beine zu bewegen“, forderte er sie auf und seine Stimme klang überhaupt nicht mehr weich und fürsorglich.
Nicole sah ihn an. Ihre Augen funkelten vor Wut. „Woher soll ich denn wissen, ob sie sich bewegen? Ich sehe sie ja nicht mal“, schnauzte sie.
„Versuchen Sie es trotzdem.“
„Tun Sie uns beiden den Gefallen und verschwinden Sie, ja?“
Er runzelte die Stirn und sah sie scharf an. „Sagen Sie mal, haben Sie heute schon was getrunken?“
„Das ist ja wohl die blödeste Anmache, die ich in den letzten zehn Jahren gehört habe“, schimpfte sie. „Und so attraktiv und interessant sind Sie auch wieder nicht, dass ich ...“ Sie brach ab und musterte ihn genauer. Ihr Blick wanderte von seinen dunkelbraunen, kurzen Haaren über die blauesten Augen, die sie jemals gesehen hatte, zu seinem Oberkörper. Nicole vermutete eine sportliche Figur unter dem Anzug und grinste lüstern, als sie sich ihn ohne jegliche Bekleidung vorstellte. „Okay“, meinte sie langsam und ihr Grinsen wurde noch eine Spur breiter. Sie sah ihm wieder in die Augen, die nun amüsiert funkelten. „Sind Sie doch. Haben Sie an ein bestimmtes Lokal gedacht oder darf ich einen Vorschlag machen?“
Er lachte leise, seine Augen blitzten dabei und Nicole seufzte. Dann schrie sie schmerzerfüllt auf, fuhr herum und schlug erneut nach dem Feuerwehrmann, der mittlerweile Verstärkung bekommen hatte. „Hören Sie auf damit, das tut weh“, rief sie. Im nächsten Moment bekam sie große Augen. Ein weiterer Feuerwehrmann näherte sich und trug ein riesiges, utopisches Instrument vor sich her, das Ähnlichkeit mit einer Riesenzange hatte und aussah, als würde es erst in hundert Jahren erfunden werden wollen. Sie wies mit der Hand drauf. „Was will der damit?“
Der Kollege drehte sich um und folgte ihrem Blick. „Wir spreizen den Rahmen, damit wir Sie rausholen können.“
„Gar nichts werden Sie spreizen“, wehrte Nicole ab und schüttelte den Kopf. „Schon gar nicht bei mir. Hat Ihr Kollege für das Ding überhaupt einen Waffenschein?“
„Am besten sehen Sie gar nicht hin“, meinte der Fremde neben ihr und drehte ihr Gesicht zu sich. „Sagen Sie mir lieber Ihren Namen.“
„Warum sollte ich?“
„Ihr Name ist Nicole Baker“, meinte der Feuerwehrmann. „Der Name sagt Ihnen doch was, oder nicht?“
„Oh ja. Das erklärt natürlich so einiges“, schmunzelte der Charmebolzen neben ihr.
„Natürlich?“ rief Nicole empört. „Was erklärt das? Und woher kennen Sie meinen Namen?“ Sie erwartete im Moment wirklich keine Antwort, denn ihre Augen waren fest auf die überdimensionale Zange gerichtet, die ihr bedrohlich nahe kam. „Hauen Sie ab damit“, rief sie. Aber niemand hörte ihr zu. Ein Sanitäter kam zu ihr, stopfte ihr etwas in den Rücken, das wie eine riesige, defekte Obstschale aussah, schlang Riemen um ihren Oberkörper und befestigte sie daran. Nicole tobte und schrie und der erst so nette Mann neben ihr entpuppte sich als Komplize der Feuerwehrleute. Er hielt ihre Hände fest und drückte ihren Kopf an die Schale, an der sie mit Mullbinden fixiert wurde.
„Und jetzt halten Sie bitte mal für einen Augenblick die Klappe, Nicole“, meinte er dann, zog ihren Oberkörper samt Obstschale zu sich rüber und drückte sie an seine breite Brust. Er selbst drückte seinen Kopf an ihr Ohr, hielt ihren Hinterkopf mit einer Hand fest und machte sich so klein wie möglich. Jemand breitete eine Decke über sie beide aus und Dunkelheit umfing sie, ließ die Geräusche um sie herum noch schauriger klingen.
Nicole glaubte nicht, was hier mit ihr gemacht wurde. Irgendwie hatte sie nicht mehr das Gefühl, dass das wirklich alles mit ihr passierte. Leichte Nebelschwaden zogen durch ihren Kopf, ließen die Gedanken träger werden, die Sicht verschwimmen und ihre Wahrnehmung war deutlich eingeschränkt. Es flimmerte vor ihren Augen. Trotzdem konnte sie die Geräusche und Stimmen um sich herum klar und deutlich hören. So auch das beruhigende, gleichmäßige Schlagen eines Herzens, sogar das saugende Geräusch, mit dem die Luft in die Lungen ihres Mitgefangenen strömte, das feine Vibrieren seiner Stimmbänder, als er ihr etwas erzählte. Sie verstand ihn nicht, hatte sie doch ein Ohr an seiner Brust, das andere war von ihm abgewandt. Sie war müde und aufgedreht zugleich, hatte das Gefühl zu schweben und gleichzeitig einen Felsbrocken auf dem Schoss zu haben. Irre. Dann setzte ein lautes Kreischen ein und etwas bewegte sich. Das Kreischen wurde schlimmer, alle riefen durcheinander, Wasser lief über ihre Beine, durchnässte das ohnehin schon enganliegende Kleid und sie hatte Angst, dass es sie zerdrücken und am Atmen hindern könnte.
Plötzlich war es vorbei.
Als erstes verschwand der Felsbrocken von ihrem Schoß. Dann endete das Kreischen, die Decke verschwand und die Stimmen um sie herum wurden deutlicher. Sie hörte wieder das Herzklopfen, die beruhigende Stimme über ihr und sie fühlte, wie ihre Beine aus ihrer Position gehoben und sie insgesamt auf dem Sitz gedreht wurde. Ihr Kopf ruhte jetzt auf dem Schoss ihres Kuschelpartners. Er streichelte ihre Wange, hatte seinen Oberkörper über sie gebeugt und redete unablässig auf sie ein. Sie sah ihm in die Augen, vergaß die Geräusche und das Treiben um sich herum und beobachtete die tausend kleinen Funken, die in dem strahlenden blau tanzten und sich zu vergnügen schienen. Sie lächelte. Ihre Hand griff nach seiner, umschloss sie und hielt sie ganz fest.
Dann verschwand auch er. Ihre Hand wurde aus seiner gerissen und sie wurde ein Stück von vielen Händen getragen, bevor man sie irgendwo drauf legte und über unebenen Boden trug. Jedenfalls schwankte es verdächtig.
„Halt“, rief sie, Panik in der Stimme. „Sofort anhalten.“ Sie versuchte sich aufzurichten und strampelte. Ihre Finger fanden den Gurt, zerrten daran und jemand sagte ihr, dass sie liegen bleiben sollte. Aber das konnte sie nicht, durfte sie nicht, wollte sie den Mann nicht verlieren, der ihre Hand gehalten hatte. „Wo ist er?“, rief sie und versuchte den Kopf zu drehen. Aber es ging nicht. Sie weinte, strampelte und zerrte weiter an den Gurten.
Plötzlich war er wieder da und hielt ihre Hand. Sie kicherte leise, wusste nicht mal warum. Aber es tat gut. Ihre Fröhlichkeit schien auch den Mann anzustecken, denn er grinste breit, streichelte ihre Wange und sah sie mit einer Zärtlichkeit an, die sie schwindelig machte.
Er beugte sich zu ihr runter. „Es wird alles gut“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Nicole drehte den Kopf, hob den Arm und legte eine Hand in seinen Nacken. Ihre Lippen strichen über seinen Mund. Er zog sich zurück, nahm ihre Hand und hielt sie fest.
Nicole war selbst überrascht und für diesen Moment vollkommen klar im Kopf. Was hatte sie da gerade getan? „Es tut mir leid“, murmelte sie peinlich berührt. „Es ist eigentlich nicht meine Art ...“ Sie brach ab und starrte an ihm vorbei in den Himmel.
„Was? Fremde Männer zu küssen?“, hakte er nach und drückte kurz ihre Hand.
„Ja, genau das meine ich.“
„Außer den paar hundert Feuerwehrleuten und den tausend Schaulustigen hat es ja keiner gesehen“, tröstete er sie und lachte. Dann ließ er sie los und verschwand.
Es rumpelte. Nicole wurde in einen viel zu kleinen Raum geschoben, mit länglichen, blendend weißen Lichtern an der Decke. Sie kniff die Augen zu und ballte die Hände zu Fäusten.
Und noch bevor sie das nahegelegene Krankenhaus erreichten, wurde es dunkel um sie herum und die Geräusche und Gedanken lösten sich auf und verschwanden in der Dunkelheit.