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Das Märchen vom springenden Punkt
ОглавлениеEinst gingen zwei Punkte zusammen mal spazieren. Die Luft war lau, das Gras war grün. Da sagte ein Punkt zu dem anderen: „Lass‘ uns einen Punkt machen“. Gesagt, getan. Es dauerte gar nicht lange und es kam ein winziges Pünktchen auf die Welt. Papa Punkt und Mama Punkt waren begeistert. Sie waren davon überzeugt, dass sie das goldigste, süßeste und niedlichste kleine Punktkind der Welt bekommen hatten!
Aber wie das so ist: Das süße kleine Pünktchen wuchs viel zu schnell zu einem pummeligen, kugelrunden Punkt heran. Mama Punkt und Papa Punkt staunten nicht schlecht, denn er übersprang das Krabbeln, wollte weder sitzen noch stehen bleiben oder gehen; er wollte nur springen von einem Ort zum anderen.
Er sprang über Gräben, Zäune und Pfosten, in fremde Vor-und Gemüsegärten. Am liebsten aber sprang er in den Satzbau hinein. Das gefiel dem Satz gar nicht und er brüllte: „Raus aus meinem Bau! Du bringst mir alles durcheinander! Bei mir dürfen nur Fixpunkte rein.“ Und um die Sache auf den Punkt zu bringen, fügte er hinzu: „Dein wunder Punkt ist, dass du ein springender Punkt bist!“
Die Beschwerden häuften sich, weil der springende Punkt vor nichts Halt machte. Mama Punkt war schier verzweifelt, denn er wollte auch partout nicht am Tisch sitzen bleiben zum Essen. Eines Tages dann, als das Punktkind wieder wie wild in der Gegend herumsprang und nicht zum Essen kommen wollte, griff Papa Punkt ein. Mit einem gezielten Fanggriff schnappte er sich sein Punktkind und drohte ihm: „So mein liebes Punktkindchen, jetzt ist aber Schluss! Du kommst sofort zum Essen und bleibst auf deinem Platz sitzen, sonst kommt der Zeitpunkt und holt Dich!
Das beeindruckte den springenden Punkt gar nicht. Er sprang einfach munter weiter.
Papa Punkt und Mama Punkt konnten es nicht fassen. Jetzt blieb ihnen nichts mehr übrig, womit sie drohen konnten. So beschlossen sie eine andere Strategie und sagten sich: „Dieses Kind braucht einen Spielkameraden; dann wird es dann ruhiger werden.“ Also machten sie sich daran, noch einen Punkt zu machen. Aber statt eines Punktes erblickten zwei Punkte das Licht der Welt. Es waren Zwillinge: ein Doppelpunkt war geboren! Diese Zwillinge trennten sich nie; sie machten alles gemeinsam und besonders beweglich waren sie auch nicht. Der springende Punkt konnte so gar nichts mit ihnen anfangen und umgekehrt war es genauso. Daraufhin gaben Papa Punkt und Mama es auf, neue Punkte zu machen und sie ließen den springenden Punkt in die Welt hinaus springen. Auf dem Weg dorthin lernte er ein Komma kennen, zu dem er sich sofort hingezogen fühlte. Umgekehrt ging es dem Komma genauso. Gemeinsam gingen sie eine Zeitlang als Semikolon durchs Leben. Aber der springende Punkt konnte auf die Dauer keine feste Verbindung eingehen. Und das Komma sehnte sich nach einem Fixpunkt, der auf immer und ewig bei ihm blieb und mit dem es im Satzbau leben konnte. Das Komma trennte sich mit den Worten von ihm: „Dein wunder Punkt ist, dass Du ein springender Punkt bist.“ Der Punkt sprang weiter zum Strich, mit dem er sich zeitweilig zum Ausrufezeichen verband, dann zum Fragezeichen, aber nirgends hielt er es lange aus. Bis er eines Tages in eine Talkshow geriet. Dort sagte gerade jemand mit Nachdruck: „Das ist der springende Punkt!“ Und just in dem Moment sprang er in die Runde. Da fing das Publikum an, frenetisch zu klatschen. In dem Moment wusste er: Hier ist er richtig, hier wird er gebraucht!
So kam es, dass der springende Punkt ein fester Bestandteil in allen Talkshows, Gesprächsrunden, Diskussionsforen und so weiter und so fort wurde. Er sprang munter von einem Teilnehmer zum anderen und jeder hatte ihn gerne. Um es auf den Punkt zu bringen: Er hatte endlich seinen Platz gefunden, wenn auch nicht im Satzbau, so doch wenigstens in aller Munde!