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Apollon
ОглавлениеApollon, Sohn des Zeus und der Göttin Leto (lat. Latona), Zwillingsbruder der ▸ Artemis (lat. Diana), ist eine der vielfältigsten Götterfiguren der antiken Mythologie. Als Herr des Orakels in Delphi ist er der Gott der Weissagung, Läuterung und Sühne, als Musenführer (Musagetes) der Gott der Künste und Wissenschaften sowie der Inspiration, mit dem Beinamen Phoibos (lat. Phöbus) der Sonnengott, als Vater des Asklepios (lat. Aesculap) Gott der Heilkunst und schließlich Schutzgott der Jugend. Zwei antike Standbilder zeigen ihn als makellos schönen Jünglingskörper (Bronzestatuen von Phidias um 450 v. Chr. und Leochares Ende des 4. Jh. v. Chr., beide in römischen Marmorkopien erhalten: ‚Kasseler Apoll‘ und ‚Apoll vom Belvedere‘, die neuzeitliche Apoll-Statue von Antonio Canova, 1782/83, lehnt sich eng daran an). Am Anfang der literarischen Überlieferung, in der homerischen Ilias, erscheint Apoll indes nicht als glänzend schöne und wohltätige, sondern grausame, rachgierige Gewalt. Der Zorn des Achill, mit dem die Ilias beginnt, wird gleich zu Beginn (I,8ff.) durch den Zorn des Apoll überboten. Der griechische Heerführer Agamemnon weigert sich, die von ihm geraubte Tochter eines Apollon-Priesters wieder frei zu geben, worauf der Gott sich empört und Rache nimmt, indem er das griechische Heer mit Pestpfeilen überzieht. Die am Anfang des Epos vielfach wiederholte und variierte Rede vom „fernhin treffenden Apoll“ wird zur Formel für die unentrinnbare göttliche Gewalt. Die zwei Seiten der göttlichen Macht zeigen sich exemplarisch auch gegenüber der Kassandra-Figur, der Apoll aus Liebe zunächst die Gabe der Weissagung schenkt, sie aber dann, als sie seine Liebe nicht erwidert, damit bestraft, dass ihr niemand Glauben schenkt. Als weitere Episoden haben sich vor allem diejenigen tradiert, die in Ovids ▸ Metamorphosen (1 v. Chr. – 10 n. Chr.) vorkommen. Sie hängen alle mit einem Wettkampf-Motiv zusammen: Apoll tötet mit Pfeil und Bogen das mal als Drache, mal als Schlange bezeichnete Untier Python und stiftet zum Andenken die Pythischen Wettspiele (I,434–451). Er verliebt sich in die Nymphe Daphne, die vor ihm flieht und sich zur letzten Rettung vor ihm von ihrem Vater Peneus in einen Lorbeerbaum verwandelt lässt (als Apoll-Daphne-Doppelstatue dargestellt von Gian Lorenzo Bernini, 1622, vgl. Abb. S. 163). Ursache dafür ist ein Wettstreit des Apoll mit Amor/Cupido, wessen Pfeile mehr bewirken. Apoll unterliegt und wird im Blick auf Daphne vom Liebespfeil getroffen. Auf Daphne trifft gleichzeitig ein anderer Pfeil, der die Abscheu gegen die Liebe eingibt (I,452–567). Im Flötenspiel-Wettstreit mit dem Satyr Marsyas dagegen siegt Apoll und er bestraft den Unterlegenen aufs Grausamste, indem er ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzieht (VI,382–400). Im sportlichen Wettkampf mit Apoll kommt der Jüngling Hyakinthos durch ein Missgeschick zu Tode. Apoll betrauert ihn und verwandelt ihn zum Gedenken in die Blume Hyazinthe (X,162–216). Nicht bei Homer, sondern in den römischen Weitererzählung der Troja-Sage ist es Apoll, der den todbringenden Pfeil des Paris auf Achill lenkt (XII,597–606; ebenso Vergil, Aeneis, VI,56–57).
Aus dem Sieg über den Drachen Python leitet sich Apolls Herrschaft über das Delphische Orakel ab. Denn anfangs gilt dieser Drache als Hüter des Orakels, woran noch der Name der Priesterin Pythia erinnert, die Apoll einsetzt, um seine Weissagungen durch ihren Mund den in Delphi Rat Suchenden mitzuteilen. Durch diese Orakelsprüche zeigt sich Apoll als Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen der göttlichen Ordnung und dem menschlichen Leben. In dieser Funktion wirkt er widersprüchlich: einerseits als Rat gebender, göttlich richtender Helfer (etwa wenn er Orest als Sühne für den Muttermord aufträgt, die Artemis-Statue von Tauris nach Griechenland zu holen) sowie als ethisch Belehrender und Ermahnender (etwa wenn er dem reichen König Gyges einen armen Bauern als den glücklichsten Menschen vorhält; zu dieser Funktion gehört auch die Inschrift „Erkenne dich selbst“ am Eingang des delphischen Tempels). Andererseits aber bleibt er auch rätselhaft, verleitet zum gefährlichen Missverständnis (wenn er dem König Krösus ankündigt, er werde ein großes Reich vernichten, was sich am Ende gerade nicht als Eroberung, sondern als eigener Niedergang erweist) und verkündigt das Unabänderliche, dem die Menschen vergeblich zu entkommen versuchen (wie im Falle des ▸ Ödipus, der trotz aller Verhinderungsbemühungen dennoch seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet). Hinter den in den Mythen vielfach erzählten Orakelsprüchen steht eine reale, von Priestern am Apollon-Tempel in Delphi organisierte Weissagungspraxis, die erst von dem christlichen Kaiser Theodosios I. im Jahre 390 beendet wurde.
Die christlichen Ovid-Auslegungen des Mittelalters deuten Apoll aufgrund der Licht-Symbolik und seiner Verbindung zur Weisheit und Heilkunst als Christus-Allegorie: „Phebus, dieus de sapience,/Solaus et lumiere du monde,/C’ est Christus“ (Phöbus, Gott der Weisheit, Trost und Licht der Welt, ist Christus) (Ovide moralisé, Beginn des 14. Jh., I,2672–2674). Der Drache Python erscheint dabei als Teufel, den der Heilsbringer ein für alle Mal besiegt.
In der neuzeitlichen Rezeption ist die Apollon-Figur vor allem in der polaren Gegenüberstellung zu ▸ Dionysos zur Geltung gekommen. Ihre wirksamste Formulierung hat diese Entgegensetzung bei Friedrich Nietzsche gefunden (Die Geburt der Tragödie, 1872), der mit dem Begriffspaar „apollinisch – dionysisch“ eine dualistische Anthropologie und Kulturtheorie formuliert. Die Bedeutung der beiden Begriffe ergibt sich jeweils aus den mythisch erzählten Eigenschaften der Götter. Apoll steht dabei für Klarheit, Ordnung, Rationalität, Moralität, Schönheit und Individualität, der Weingott Dionysos für Rausch, Irrationalität, Triebhaftigkeit und Kollektivität. Nietzsche geht es dabei insbesondere darum, das Dionysische als Teil der griechischen Antike neu zu entdecken und anzuerkennen, nachdem es in der klassizistischen Griechenverehrung seit der Renaissance vom Apollinischen überstrahlt und verdrängt worden sei. Tatsächlich gewinnt die Apollon-Figur zentrale Bedeutung bei der Idealisierung der griechischen Antike. Wie keine andere verkörpert sie zugleich die sinnlich-künstlerische Schönheit, Sittlichkeit und Transzendenz. In dieser Verbindung repräsentiert Apoll das Ideal, das die neuzeitlichen Bewunderer der Antike in ihr gesucht und gesehen haben: die schöne Vollkommenheit und transzendente Überhöhung der sinnlich-geistigen Menschlichkeit. Insofern ist Apoll nicht einfach ein Teil, sondern die Symbolfigur für das Ganze der idealisierten Antike; die klassizistische Graecophilie ist eine Art Apollon-Frömmigkeit. Ein frühes Zeugnis gibt davon die Rede „Über die Würde des Menschen“ von Giovanni Pico della Mirandola (De dignitate hominis, 1486), die als Manifest des Renaissance-Humanismus im christlichen Kontext Apoll als den „wahren und nicht erdichteten Gott“ preist, „der jede Seele erleuchtet“. Im deutschen Klassizismus des 18. Jh. gibt Johann Joachim Winckelmanns Beschreibung des ‚Apoll vom Belvedere‘ dafür den herausragenden Beleg. Er erhebt diese Statue enthusiastisch zum „höchsten Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums“, womit vor allem die Transzendenz der sinnlich-körperlichen Schönheit zum „Himmlischen Geist“ gemeint ist (Geschichte der Kunst des Alterthums, 1764). Friedrich Hölderlins Oden Dem Sonnengott und Sonnenuntergang (1798) rufen Apoll als Heilsbringer an, der aus der Gegenwart hinweggegangen und dessen Rückkehr sehnsüchtig erwartet wird. Der englische Lyriker John Keats preist in einer Ode und einer Hymne Apoll ehrfürchtig als den „great God of Bards“ (Ode to Apollo, 1815, Hymn to Apollo, 1816). Wie stark und breit die klassizistische Tradition der Apollon- als idealisierender Antikenverehrung ist, zeigt sich ex negativo auch an der Satire, die sie herausfordert. Daran haben sich die namhaftesten literarischen Spötter beteiligt: Jonathan Swift liefert gleich drei satirische Gedichte auf den akademischen Apollon-Kult (Apollo Outwitted, 1709, Apollo to Dean Swift, 1721, Apollo: or, A Problem solved, 1731), Heinrich Heine macht die Götterfigur als Verkleidung eines bildungsbürgerlich assimilierten Juden lächerlich, der in seinem antikisierenden Aufputz zum Abgott einer jungen Nonne wird (Der Apollogott, in Romanzero, 1851).
Apollo von Belvedere, Rom, Musei Vaticani. Museo Pio-Clementino, Cortile Ottagono
Bei der langen Dominanz des apollinischen Ideals ist Nietzsche indes nicht der Erste, der auf das Dionysische als Gegenpol verweist. In der Antike werden beide Götter (Halbbrüder durch den gemeinsamen Vater Zeus) zwar über das Delphische Orakel verbunden, indem einige Erzählungen Apoll über die Winterzeit wegziehen und das delphische Heiligtum stellvertretend durch Dionysos übernehmen lassen. Doch gibt es dabei keinerlei typologische Abstraktionen hin zu einem grundsätzlichen Dualismus. Die begegnen erst in der Renaissance, gleich bei Pico della Mirandola, der mit Dionysos (lat. Bacchus) und Apoll den Aufstieg von der ersten, niedrigeren zur höheren Stufe der philosophischen Einsicht markiert. Antithetische begriffliche Abstraktionen bietet Friedrich Schlegel, wenn er „die göttliche Trunkenheit des Dionysos“ der „leisen Besonnenheit des Apoll“ gegenüberstellt; allerdings nicht polar, sondern in einer Trias zusammen mit „der tiefen Empfindsamkeit der Athene“ (Über das Studium der griechischen Poesie, 1795). Erst Nietzsche und seine durchschlagende Wirkung verfestigen die beiden Götternamen zu einem dualistischen Begriffspaar.
Altertums- und Religionswissenschaftler aus der ersten Hälfte des 20. Jh. haben eine griechisch-antike Apollonreligion rekonstruieren wollen: Walter F. Otto bringt sie auf die Begriffe Einsicht, Maß und Selbsterkenntnis (Die Götter Griechenlands, 1929), Karl Kerényi versteht sie als ein Unsterblichkeitsbewusstsein „der eigenen geistigen Werte“ (Unsterblichkeit und Apollonreligion, 1933). Nach und gegen Nietzsche kann man darin einen neuen Klassizismus sehen, der bei aller wissenschaftlichen Kennerschaft wie schon der traditionelle Klassizismus die Rückprojektion eigener Wertvorstellungen ist.
Dass das Raumschiff, das im Jahr 1969 die ersten Menschen auf den Mond brachte, sowie das gesamte zugehörige Nasa-Programm von 1961–1972 den Namen Apollo tragen, hat mit der Rolle des Sonnengottes zu tun. Der programmleitende NASA-Manager Abraham Silverstein wählte diesen Namen, weil er die mythische Vorstellung des im Sonnenwagen den Himmel durchfahrenden Gottes so passend fand. In der Kunstgeschichte ist dieses Motiv mit Quadriga-Pferdewagen seit dem Mittelalter geläufig, die bekannteste Darstellung ist ein Deckengemälde von Eugène Delacroix (1850/51) in der danach benannten Galerie d’Apollon im Pariser Louvre.
LITERATUR
Antje Heissmeyer: Apoll und Apollonkult seit der Renaissance. Tübingen 1967
Jon Solomon (Hg.): Apollo. Origins and Influences. Tucson, London 1994
Fritz Graf: Apollo. London 2009 SM