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Herakles/Herkules

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Herakles, der Sohn des Zeus und der Alkmene, der Gattin des thebanischen Feldherrn Amphitryon, verkörpert die männliche Stärke. Das zeigt sich gleich nach seiner Geburt, als der Neugeborene in der Wiege zwei Schlangen erwürgt, mit der Zeus’ göttliche Gattin Hera ihn töten wollte. Sie ist zeitlebens Herakles’ Widersacherin und bekämpft ihn als Frucht der ehelichen Untreue. Dazu zögert sie schon seine Geburt heraus, damit er erst nach dem gleichzeitig gezeugten Eurystheus zur Welt kommt und diesem dadurch dienstpflichtig wird (Homer, Ilias XIX, 95–133). Eurystheus gibt ihm zwölf Aufgaben, die ihm tödliche Fallen stellen, durch Herakles’ Stärke und Klugheit indes genau zum Gegenteil ausschlagen und seinen Heldenruhm begründen. In anderer Motivation dienen sie zur Sühne für den Mord an seinen (mit seiner ersten Frau Megara gezeugten) Kindern, den Hera Herakles im Wahn hat begehen lassen. Diese zwölf Arbeiten sind: der Kampf mit dem unverwundbaren Nemeischen Löwen (Herakles erwürgt ihn und trägt Kopf und Fell des Tieres fortan als Helm und Mantel), die Tötung der mehrköpfigen Hydra (deren nachwachsende Köpfe Herakles ausbrennt), der Fang der Kerynthischen Hirschkuh, die Jagd des Erymanthischen Ebers (den Herakles niederringt, um ihn, wie verlangt, lebend zu Eurysteus zu bringen), die Tötung der Stymphalischen Vögel (deren Schnäbel Rüstungen brechen und die ihre Federn wie eherne Pfeile abschießen, so dass Herakles sie aufschreckt, um sie aus sicherer Entfernung durch Pfeil und Bogen zu treffen), das Ausmisten der Ställe des Augias (was dadurch gelingt, dass Herakles zwei Flüsse hindurchleitet), der Fang des Minoischen Stiers, die Zähmung der menschenfressenden Rosse des Diomedes, der Raub des goldenen Gürtels der Amazonenkönigin, der Raub der Rinder des Riesen Geryon, der Raub der Äpfel der Hesperiden (unter Mithilfe des Himmelsträgers Atlas, dessen Last Herakles vorübergehend übernimmt, um sie ihm am Ende durch eine List wieder zurückzugeben) sowie die Entführung des Höllenhundes Kerberos. Als weitere Taten werden ihm u.a. die Befreiung des am Kaukasus festgeketteten Prometheus, die Tötung des menschenopfernden Königs Busiris, der Kampf mit dem Riesen Antaios und die Befreiung der Alkeste aus der Unterwelt zugeschrieben (Kataloge der Arbeiten z.B. im zweiten Chorlied in Euripides’ Herakles und in Ovids Metamorphosen IX, 182–199). Sein irdisches Ende findet Herakles auf heimtückische Weise durch seine spätere Frau Deianeira und den Kentauren Nessos, aus dessen Gewalt er sie zuvor befreit hatte: Nessos überredet Deianeira, sein Blut als Liebeszauber zu verwenden, der – auf das Gewand aufgetragen – ihren Gatten ewig binde. Das Blut wirkt indes als brennendes Gift, das Herakles unablösbar anklebt und ihn vor Schmerz zur Selbstverbrennung auf den Scheiterhaufen treibt. Dort wird er von seinem Vater Zeus rettend auf den Olymp erhoben und der Göttin Hebe vermählt. Das Himmelfahrtsmotiv zeigt eine Christusanalogie; die unbesiegbare männliche Stärke, die am Ende weiblicher List erliegt, erscheint als Motivparallele zur biblischen Samson-Figur.

Nach der Überlieferung der sogenannten ‚Bibliothek‘ des Apollodorus (einer Mythensammlung aus dem 1. Jh. n. Chr.) war der ursprüngliche Name des Herakles Alkeides. Er leitet sich von seinem Großvater Alkaios ab. Den Namen Herakles habe ihm das Delphische Orakel gegeben. Etymologisch wird der Name als Zusammensetzung aus dem Götternamen Hera und dem Substantiv ‚kleos‘ = Ruhm erklärt, weil es die Göttin Hera sei, die letztlich, wenn auch in gegenteiliger Absicht, seine Heldentaten motiviert und damit seinen Ruhm begründet habe. Der Name Alkeides/Alkides findet sich in neuzeitlichen Adaptionen des Herakles-Mythos titelgebend bis in die Barockzeit (z.B. die Oper Alkestes oder der Triumph des Alkides von Lully, 1674).

Obwohl die Herakles-Figur in der antiken Literatur immer wieder als exemplarischer Held mit einzelnen seiner Taten erwähnt wird oder als Nebenfigur auftritt, obwohl er auch als eine der häufigsten Figuren auf antiken Mosaiken, Vasen- und Reliefbildern dargestellt ist, sind doch nur wenige Texte überliefert, die ihn ins Zentrum rücken. Das sind vor allem die Herakles-Tragödien des Euripides (zwischen 421 und 415 v. Chr. entstanden) und des Seneca (1. Jh. n. Chr.). Euripides dreht die Reihenfolge von Heldentaten und wahnsinnigem Kindermord um, so dass die Hauptfigur ambivalent dasteht: zum einen positiv als archaischer Kulturstifter, indem seine Taten am Anfang als „Entwilderung der Erde“ zusammengefasst werden, zum anderen negativ als ein Rasender, der seine Kräfte nicht unter Kontrolle hat. Man kann dies als Kritik an einem für Euripides unzeitgemäß gewordenen archaischen Heroentum verstehen. Seneca schließt daran an und setzt das Wahnsinnsmotiv in den Titel. Sein Hercules furens (Der rasende Herkules) wird, vor dem Hintergrund der stoischen Ethik und ihres Ideals der Affektkontrolle, zu einem exemplarischen Studienfall über die Gefahr des affektiven Kontrollverlusts, allerdings so, dass Herkules am Ende das Muster der wiedergewonnenen Selbstbeherrschung abgibt. Ovids ausführliche Darstellung des Herkules (Metamorphosen IX, 1–323, 1 v. – 10 n. Chr.) depotenziert den Heldenstatus, indem er ihn aus der Sicht seiner Opfer als Gewalttäter zeigt und besonders seinen Todesqualen durch das Nessos-Gift sowie – zum kurios-paradoxen Abschluss seines Lebensabrisses – den Geburtsqualen seiner Mutter Alkmene Raum gibt. Man kann dies als ironische Replik auf die politisch-rhetorische Funktion der Figur im augusteischen Rom sehen, wo (wie in Vergils Aeneis und einigen Horaz-Oden) die typologische Reihe ‚Herkules – ▸ Aeneas (als mythischer Gründer Roms) – Augustus zum Herrscherlob verwendet wurde.

Intellektualisiert wird die körperliche zur geistigen und moralischen Stärke in der Parabel „Herakles am Scheideweg“: Sie lässt ihn an einer Weggabelung mit allegorischen Verkörperungen des Lasters und der Tugend zusammentreffen, die ihn beide auf ihren Weg zu lenken versuchen; das Laster unter Verlockungen zu einem mühelosen, sinnlich-genussreichen, die Tugend mit dem Ansporn zu einem durch Verantwortung und Anstrengung mühevollen, dadurch aber ruhmreichen Leben. Indem Herakles den Weg der Tugend wählt, werden die ihm zugeschriebenen Heldentaten moralisiert. Die älteste Überlieferung dieser Parabel findet sich in Xenophons Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates, 2,1,21–34, 1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr.), der sie als eine Erzählung des Sophisten Prodikos referiert. Herakles erscheint hier als ein ins Heldenhafte gesteigertes Vorbild richtiger Lebensführung. In der mittelalterlichen und neuzeitlichen christlichen Rezeption spielt das eine zentrale Rolle, wobei auch das Motiv der Himmelfahrt christianisiert und Herakles so in doppelter Weise in Christusanalogie gerückt werden kann. Das führt bis zu einer dezidiert christlichen Adaption, die ihn gegen die ‚verleumderische‘ (gemeint ist das Kindermordmotiv) antike Darstellung profiliert (Pierre de Ronsard, Hymne de l’Hercule Chrestien, 1555, Hylas, 1569). Auch die anderen Künste nehmen das Motiv vielfach auf. Malerisch wird die Scheideweg-Situation u.a. von Albrecht Dürer (Kupferstich von 1498) sowie in Gemälden von Annibale Caracci (1596) und wiederholt von Pompeo Girolamo Batoni (1748, 1753) umgesetzt. Johann Sebastian Bachs Kantate „Herkules am Scheideweg“ (1733, BWV 213) zeigt ihre pädagogische Absicht schon äußerlich darin, dass sie zum 11. Geburtstag des sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian komponiert und aufgeführt wurde. Die moraldidaktische Funktion der Herakles-Figur kommt in besonderer Weise auch in Gustav Schwabs einflussreicher Nacherzählung der Schönsten Sagen des klassischen Altertums (1837, Bd. I, Kap. 4) zur Geltung, die sich vor allem an Kinder wendet.

Auf Lukians Vorrede Herakles (2. Jh. n. Chr.) geht der Typus des ‚Hercules Gallicus‘ zurück. Lukian beschreibt eine Abbildung, in der Herakles als alter Mann eine Gruppe von Menschen an einer Kette hinter sich herzieht, wobei die Kette jeweils an den Ohren befestigt ist. Auf dieser Grundlage ist Herakles zur Allegorie der Beredsamkeit geworden. Die Bezeichnung ‚Gallicus‘ erklärt sich dadurch, dass Lukian diesen Herakles mit dem gallischen Gott Ogmios in Verbindung bringt. Das hat zu einer besonderen Kultivierung dieser Figur in Frankreich geführt, wo er allgemein als Kulturstifter, insbesondere als Stifter der französischen Nation gefeiert (Ronsard), sprachpolitisch auch zur Propagierung des Französischen genutzt wurde (am Schluss von Joachim du Bellays Défense et Illustration de la Langue française, 1549).

Die politische Verwendung der Herakles-Figur reicht allerdings weit über Frankreich hinaus. Paradigmatisch zeigt sie sich schon im 13. Jh. auf dem Siegel der Stadt Florenz, die mit der seit der antiken Plastik konventionellen Darstellung des Helden mit Keule und Löwenfell ihren Machtanspruch demonstriert. In gleicher politischer Absicht stellt das Nordportal des Florentiner Doms Taten des Herakles dar so wie auch die Medici-Dynastie die Figur zur politischen Selbstdarstellung verwendet: z.B. Pollaiuolos Herakles-Gemälde für den Großen Saal des Medici-Palastes von 1460. Die drei großen Leinwandgemälde sind verloren, indirekt jedoch durch Beschreibungen in Vasaris Vite (1550) überliefert. Erhalten sind zwei kleinere Bilder Pollaiuolos, die Herakles im Kampf mit der Hydra und dem Riesen Antaios zeigen. Die Kolossal-Statue des Herakles, die sich über dem Schlosspark in Kassel-Wilhelmshöhe erhebt (1717 aufgestellt), dient dem Ruhm des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Sie ist eine vergrößerte Kopie der bekanntesten antiken Herakles-Statue (Hercules Farnese), die jahrhundertelang als Ideal des kräftigen Männerkörpers galt und mit ihrer Zugabe von Löwenfell und Keule zugleich die ikonologische Tradition des Herakles bestimmte. Die Kassler Kopie ist mit 8,30 Metern zu ihrer Zeit die größte Kolossal-Statue nördlich der Alpen und belegt damit die herausragende Funktion der Herakles-Figur für die Herrschaftsrepräsentation. Dabei geht es nicht nur um die Attribute der Stärke und der moralischen Selbstbeherrschung. Hinzu kommt die Tradition, die Herakles zum Anführer der Musen erklärt (Hercules Musagetes), so dass er die Herrschaft über Künste und Wissenschaften verkörpert. Um Mäzenatentum und Förderung von Kunst und Wissenschaft zu feiern und zu sichern, wird dies zur vielgebrauchten Formel des Herrscherlobs: von Ludwig XIV. und Friedrich I. von Preußen (vgl. die Lobschrift Hercules Musagetes: Hoc est Serenissimus ac Potentissimus Princeps Fridericus Divina Gratia Primus Rex Borussiae, 1706) bis zu den vielen Landesherren. Als Zeugnis für ein nachrevolutionäres bürgerliches Selbstbewusstsein verwendet Friedrich Schlegel den Titel für ein Lobgedicht auf den aktuellen Schriftstellerkreis, zu dem er sich auch selbst zählt (Herkules musagetes, 1801). Die Französische Revolution übernimmt ihrerseits die hergebrachte Machtfigur: Ein Druck der Menschenrechtserklärung von 1793, der zusammen mit Ruinensteinen zur Erinnerung an den Sturm auf die Bastille ausgegeben wurde, zeigt die Herakles-Figur. Auf das Motiv der ‚Säulen des Herakles‘ greift das Herrschaftszeichen Kaiser Karls V. (1530–1556) zurück. Diese Säulen sind die mythische Deutung der Felsen, die die Meerenge von Gibraltar begrenzen. Als himmelhoch ragende („himmelstützende“) Berge sind sie über die Atlas-Figur mit Herakles verbunden; auf der afrikanischen Seite ist es nach geographischer Terminologie das Atlas-Gebirge. In anderer Deutung sind die Säulen von Herakles errichtet worden, um das Ende der bekannten Welt zu markieren, über das kein Mensch sich hinauswagen dürfe („ne plus ultra“). Das Emblem Karls V. zeigt die Säulen mit dem Motto „plus ultra“ und erhebt die kaiserliche Macht damit über das Heldenmaß des Herakles. Später wird dieses Emblem auf dem Titelblatt von Francis Bacons Instauratio magna (1620), der Programmschrift neuzeitlicher empirischer Naturwissenschaft adaptiert. Es zeigt zudem ein Schiff, das durch die Säulen hindurch aufs offene Meer hinausfährt. So richten sich politische und wissenschaftliche Überbietungsgesten der Neuzeit symbolisch an die Herakles-Figur als den stärksten Repräsentanten antiker Größe.

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