Читать книгу Geographie in der antiken Welt - Kai Brodersen - Страница 7

2. Formate, Kontexte und Terminologien

Оглавление

Dass jede Untersuchung der griechischen und römischen Gesellschaft von den beschränkten erhaltenen Quellen abhängt, ist weithin bekannt. Zwar können einige Fragen zur antiken Geographie mit Bezug sowohl auf schriftliche Quellen als auch auf archäologische Zeugnisse beantwortet werden, doch ist man zumeist allein auf die schriftliche Dokumentation einschließlich Inschriften angewiesen. Zudem bedeuteten, wie schon oben bemerkt, die besondere Entwicklung des Wissensgebiets und die Tatsache, dass Geographie direkt mit der sozialen und politischen Erfahrung verbunden war, dass es keine eigenständige Gattung geographischen Schrifttums gab, sondern dass geographische Informationen in verschiedenen literarischen Stilen und Kontexten erscheinen.

Überall in der Antike wurde literarischen Werken, die sich mit geographischen Problemen befassen, eine Vielfalt von Benennungen und Titeln beigefügt. Die jeweiligen Bezeichnungen spiegelten im Allgemeinen Inhalt und Struktur des Werks wider, doch gab es keine standardisierte Terminologie. Wie wir sehen werden, verwechselten die Menschen der Antike selbst manchmal Titel und Formate, doch sollte uns das nicht davon abhalten zu versuchen, eine grundlegende Terminologie zur Beschreibung schriftlicher geographischer Aufzeichnungen zu bestimmen. Es folgt daher ein kurzer Abriss von Gattungen und literarischen Formaten, die mit der antiken Geographie verbunden sind, und zwar so sortiert, dass sie von einfachen Listen bis zu ausgearbeiteten umfänglichen Beschreibungen fortschreiten.

periploi:8 Die griechische Zivilisation begann in der Ägäis und breitete sich aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen an die Westküste Kleinasiens, nach Sizilien und Süditalien, weiter westlich nach Südfrankreich, Südostspanien und Nordafrika sowie rings um das Schwarze Meer aus. Seewege und die Seefahrt waren zentrale Bestandteile des täglichen Lebens und für Handel und Erkundungsfahrten notwendig. Wegen der Sicherheit und besseren Orientierung war die Navigation gewöhnlich auf Routen entlang der Küstenlinien beschränkt. Diese Gewohnheit wurde die Grundlage für eine Gattung schriftlicher Berichte in der Form von Listen, die gemäß des Ablaufs einer Fahrt entlang einer Küstenlinie sortiert sind und Hafen-Namen, Entfernungen, Richtungen und grundlegende lokale Information enthalten. Solche Kataloge wurden als periploi bekannt (Singular periplus, ‹Umfahrung›). Diese Aufzeichnungen präsentierten üblicherweise praktische Informationen über Stätten an den Seewegen, gewöhnlich entlang von Küsten oder Flussufern. Die periploi erwähnen Stätten also gemäß der Anordnung auf der Route, einschließlich der Entfernungen zwischen ihnen, die häufig als Zahlen von Fahrttagen beschrieben wurden. Zu diesen grundlegenden Angaben wurden gelegentlich weitere Informationen hinzugefügt, etwa zur lokalen Topographie, zur Geschichte und zu den ansässigen Völkerschaften. Eingeschlossen waren gelegentlich auch Hinweise auf das Binnenland, die über eine bloße Aufzählung von schiffbaren Flüssen hinausgingen. Beschreibungen des Umrisses von Inseln standen meist am Ende solcher Überblicke. Diese praktischen Daten, zunächst unter Seeleuten nur mündlich weitergegeben, wurden also in schriftlicher Form niedergelegt, um künftigen Reisenden – vorwiegend Siedlern und Händlern – zu helfen. Was auf einst tatsächliche Fahrtberichte zurückging, wurde so zum organisatorischen Grundsatz für Texte, die nicht auf solchen Fahrten beruhten. Allmählich gewannen periploi auch eine beschreibende Dimension, da sie Verweise auf Flora und Fauna, auf von Menschen geschaffene Denkmäler und auf ethnographische Merkmale umfassten (Kapitel II 3).

itinerarium:9 Wie die griechischen periploi, deren organisatorischer Stil aus der linearen Anordnung von Fahrten entlang der Küstenlinien abgeleitet war, versorgte das lateinische itinerarium (von iter ‹Weg›) Reisende – einschließlich Soldaten – mit der katalogisierten Information über Stationen und Entfernungen entlang der römischen Routen. Der massive Ausbau des römischen Staates am Ende der Republik und insbesondere seit dem Augusteischen Zeitalter machte Verwaltungsanpassungen notwendig, die den Abgesandten aus dem Machtzentrum in Rom einen leichteren Zugang zu entfernten Teilen des Reiches erlaubten. Zu diesem Zwecke schufen die Römer ein wohldurchdachtes und effizientes Straßen- und Transportsystem (den cursus publicus), zuerst in Italien und dann in verschiedenen Teilen Europas, Asiens und des Nahen Ostens.10 Dieses Straßennetz wurde die lineare Grundlage für die römischen itineraria und später für christliche Pilgerfahrt-Berichte und -Führer (Kapitel II 3).

periëgesis und periodos ges: Das Interesse am Binnenland kam besonders in der hellenistischen Periode als Folge der besseren Möglichkeiten des Reisens und der wachsenden Wissbegierde über neue Länder und Völker auf. Erschöpfende geographische Überblicke, die Hinweise auf solche Gebiete umfassten, wurden später als periëgeseis (‹Umher-Führungen›) bezeichnet; sie boten weit mehr als bloße Listen. Vielmehr beinhalteten diese Prosa- oder Vers-Schriften Überblicke über Landschaften und Regionen, Flora und Fauna sowie Angaben zu den jeweiligen Bewohnerschaften, deren Erscheinungsbild und deren Sitten und Gebräuchen. Ein eng verwandter Begriff für solche Überblicke war periodos (‹Umher-Gang›) im Sinne einer Reisebeschreibung. Das Wort erscheint meistens im Ausdruck periodos ges, der für eine Beschreibung der ganzen Welt, nicht aber eines einzelnen Gebiets auf der Welt verwendet wird.

chorographia: Detaillierte Beschreibungen kleinerer Gebiete oder spezieller Länder kamen größtenteils im hellenistischen Zeitalter auf. Der übliche Begriff für solche Überblicke war chorographia, die Beschreibung einer chora (‹Land, Gebiet›), im Gegensatz zu geographia, der Beschreibung der ganzen Welt.11 Werke wie Persika (Ktesias) und Indika (Ktesias und Megasthenes) gehören in diese Kategorie. Der Begriff chorographia kann aber auch gebraucht werden, um die Beschreibung eines speziellen Gebiets innerhalb des breiteren Zusammenhangs einer universalen Geographie zu bezeichnen, etwa im Fall der Regionalüberblicke in einzelnen Büchern der Geographie des Strabon zu beziehen (Kapitel II 1).

Topographische und ethnographische Informationen wurden auch in Exkursen der hauptsächlich chronologisch geordneten und erzählenden historischen Werke geboten.12 Der Schwerpunkt solcher Werke lag natürlich auf politischen und militärischen Ereignissen und den daran beteiligten Personen. Doch machte die Bewertung solcher Ereignisse – und besonders strategischer Manöver – häufig eine Vertrautheit mit den räumlichen und menschlichen Verhältnissen der Szene erforderlich. Die Notwendigkeit der Kenntnis von Orten, Topographie, Toponymen und Entfernungen bedeutete so, dass geographische Erörterungen für die Historiographie und verwandte Gattungen grundsätzliche Bedeutung erlangten. Den Standard dafür setzte Herodot, indem er in seinen Historien ausführliche Beschreibungen von Gebieten unter persischer Herrschaft wie Ägypten, Indien und Skythien bot. Solche Exkurse wurden ein wichtiges Kennzeichen späterer historischer Darstellungen, etwa derer von Thukydides, Polybios, Sallust und Tacitus. Oft übernahmen geographische Exkurse dieser Art den lakonischen Stil früher periploi und periodoi, wobei sie die Persönlichkeiten und den Geschmack der einzelnen Autoren widerspiegelten. Weil geographische Exkurse eine entscheidende Rolle beim Voranbringen der Erzählung spielten, waren sie häufig geradezu notwendig und in das Vorhaben integriert (zu Einzelheiten siehe Kapitel II 2).

Moderne Gelehrte haben versucht, eine antike geographische Prosa-Gattung zu bestimmen. Felix Jacoby glaubte, dass alle antiken Prosa-Texte eine einzige literarische Grundlage hatten, aus denen sich in evolutionärer Weise die Untergattungen entwickelten. Jacoby definierte Historiographie allgemein als einen literarischen Stil, der alle Formen der nicht-fiktionalen Prosa einschloss, und verwies darauf, dass der Inhalt und die organisatorischen Grundsätze von historiographischen und geographischen Werken einander sehr ähnlich seien.13 Ein anderer verbreiteter Ansatz sieht Historiographie und Geographie als getrennte Gattungen, von denen die eine den Hintergrund für die andere bietet.14 Dieser Analyse zufolge waren geographische und ethnographische Abschnitte innerhalb historiographischer Werke bloße Exkurse ohne eine Verbindung zum Hauptbericht. Allerdings sind keine bedeutenden Unterschiede in den grammatischen Konstruktionen und dem Vokabular der Historiographie, ihrer geographischen Exkurse und davon unabhängiger Werke der beschreibenden Geographie zu erkennen. Deshalb muss man den breiteren Zusammenhang solcher Exkurse sowie die Zielsetzung des Autors für jedes Werk gesondert betrachten. Ist das geographische Material nur eine stilistische Variation der Hauptlinie des Berichts? Könnte man es aus dem Haupttext herausschneiden, ohne dessen Bedeutung zu verändern? Inwieweit ist ein einzelner Exkurs ein integrierter und notwendiger Teil des Ganzen? Antworten auf solche Fragen müssen für jedes Werk einzeln gesucht werden. Schließlich muss kurz etwas über Bereiche der antiken Literatur gesagt werden, die weder in ihrer Zielsetzung noch in ihrem Hauptgegenstand ‹geographisch› sind, die aber geographische Gedanken und Informationen einschließen. Eine ‹geographische Lektüre›15 macht etwa auf zahlreiche einschlägige, aber verstreute Passagen in der griechischen Tragödie und Komödie und im römischen Epos aufmerksam (Kapitel II 1).

Wie unten erörtert werden soll, gibt es in den Schriften der Antike viele Stile und Kontexte für die Überlieferung geographischer Fragen. Es scheint keine Regeln zu geben und kein Konsens bestanden zu haben, und selbst wenn spätere Autoren gelegentlich ihre Vorgänger kritisieren, war eine breite Wahl von Formaten verfügbar, um Kenntnisse und Ideen zu präsentieren. Das wird aus der Ansage Strabons über seine Absicht bei der Beschreibung Griechenlands deutlich:

Dies haben zuerst Homer und dann auch mehrere andere Autoren behandelt, teils eigens unter Titeln wie «Häfen» oder Periploi oder Periodoi ges oder dergleichen – worin auch das Griechische enthalten ist –, teils indem sie in der allgemeinen Geschichtsschreibung gesondert die Topographie der Kontinente darstellten, wie Ephoros und Polybios das getan haben. Andere haben in das Gebiet der Physik und der Mathematik auch Einiges dieser Art mit einbezogen, wie Poseidonios und Hipparchos. (Strabon 8.1.1)

Die verschiedenen Stile und Themen, die mit der Geographie verbunden sind, können auch anhand der Wege ihrer Überlieferung von der Antike in die Moderne eingeteilt werden. So gibt es einige archäologische Zeugnisse, etwa die Personifikationen von Völkerschaften im Sebasteion von Aphrodisias (in der heutigen Türkei),16 und inschriftliche Belege, vom nur mit fünf Wörtern beschriebenen Meilenstein bis zur kolossalen Liste von Toponymen und Entfernungen auf dem Stadiasmus Lyciae (siehe S. 132f.). Papyri bewahren Fragmente sonst nicht erhaltener Texte, ebenso sind viele ‹geographische› Bruchstücke in Sammlungen der Überreste von sonst nicht bewahrten griechischen und römischen Historikern und tragischen und komischen Dichtern erhalten.17 Schließlich verdanken wir einige Kenntnisse der mittelalterlichen Überlieferung von Texten in Prosa und Dichtung und von Bildern, etwa die späteren Rekonstruktionen der Karten des Ptolemaios oder der Tabula Peutingeriana (siehe S. 121 und Abb. 1).


Abb. 1: Tabula Peutingeriana (Wien, Nationalbibliothek), Segment 4 (Ausschnitt): Italien mit der Stadt Rom.

Geographie in der antiken Welt

Подняться наверх