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BEZUGSPUNKT: WIRKLICHKEIT

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Das klang nach gelber Gummi-Ente in der Badewanne: Fliewatüüt. Kindisch. Für solche Fernsehsendungen fühlten mein kleiner Bruder und ich uns zu alt.

Weil Mediathek, Video on Demand und DVDs noch nicht erfunden waren, wurden erfolgreiche Sendungen im Fernsehen öfter wiederholt.

Bei uns zuhause lag die Zeitschrift mit dem Fernsehprogramm auf dem niedrigen Couchtisch im Wohnzimmer. Unsere große Schwester sorgte dafür, dass jeweils die Seite mit dem entsprechenden Wochentag aufgeschlagen war. Mit Kugelschreiber markierte sie die Sendungen, die sie angucken wollte. Das war immer dann blöd, wenn sie etwas im zweiten Programm sehen wollte, während es gleichzeitig im ersten Programm eine Sendung gab, die uns Brüder interessierte.

Zur ersten Wiederholung der Serie ROBBI, TOBBI UND DAS FLIEWATÜÜT gab es in der Fernsehzeitschrift ein Bild. Auf dem Foto war eine Art Hubschrauber abgebildet. Vorne am Rumpf waren Scheinwerfer angebracht, wie an einem Sportwagen. Statt Landekufen war unter dem grauen Rumpf ein stabiles Fahrwerk montiert. Neben diesem Hubschrauber stand ein Junge in rotem Pullover. Aus seinem Holzkopf wuchsen strubbelige blonde Haare. Eine Marionette.

Gut, wir guckten ja auch AUGSBURGER PUPPENKISTE.

Also schalteten wir diesmal ein. Der Hubschrauber interessierte uns.

Die Geschichte handelte von Tobbi. Das war der Junge mit den blonden Haaren und dem roten Pullover. Drittklässler.

Wie mein kleiner Bruder.

An den Wänden in Tobbis Zimmer hingen Zeichnungen und Pläne eines Gefährts, das fliegen, schwimmen und fahren konnte. Tobbi nannte das Gefährt «Fliewatüüt». Er hatte es selbst erfunden.

Auf die Idee mit so einem Flugbootauto wäre ich auch gerne gekommen.

Eines nachts bekam Tobbi Besuch von Robbi, einem Roboter, der die dritte Roboterklasse besuchte. Der erklärte, dass er das «Fliewatüüt» gebaut hätte: «Steht im Garten.»

Tatsächlich! Das Gefährt sah aus wie ein großes Ei aus grauem Leichtmetall. Die Vorderseite bestand aus einer großen gewölbten Scheibe. Dahinter waren zwei Sitze und Steuerknüppel zu erkennen. Es stand auf einem dreirädrigen Fahrwerk. Obendrauf hatte das «Fliewatüüt» einen Rotor, wie ein Hubschrauber.

Robbi und Tobbi flogen, schwammen und fuhren im «Fliewatüüt» über die Nordseeküste und das Meer bis zum Nordpol und von da über Schottland wieder nach Hause. Sie mussten drei Prüfungsaufgaben für Roboter der dritten Roboterklasse lösen.

Alle Figuren wurden von Marionetten dargestellt. Aber die Landschaften um sie herum waren echt. Auch die Luftaufnahmen. Puppenspiel und Wirklichkeit vermischten sich. In der AUGSBURGER PUPPENKISTE waren sowohl die Marionetten als auch die Hintergründe aus Holz und Pappmaché.

Im Film verging viel Zeit damit, dass man das «Fliewatüüt» fliegen sah, über Wälder, kleine Städte, um den goldenen Hahn auf der Spitze eines Kirchturmes herum. Weiter über Industrieanlagen, an einem breiten Fluss entlang. Es gab viel Zeit, den Flug mit Robbi und Tobbi zu genießen.

Vor der dritten Wiederholung strichen wir die Sendetermine in der Programmzeitschrift an – diesmal waren wir schneller.

Bilder aus dem Fernsehen konnten wir nicht aufzeichnen. Aber Tonaufnahmen konnten wir schon selber machen – wir hatten einen Kassettenrekorder mit externem Mikrofon. Das benutzte man hauptsächlich, um seine Lieblingsmusik aus dem Radio aufzunehmen. Auch die Titelmelodien der Fernsehserien, die wir am liebsten guckten, haben wir aufgenommen. Wir hatten eine eigene Tonbandkassette nur für Fernsehmelodien: ABENTEUER IM REGENBOGENLAND, MINI-MAX …

Bei ROBBI, TOBBI war die Musik ein Teil der Erzählung. Deshalb nahmen wir von allen vier Folgen den gesamten Ton auf. Dazu stellte ich vor jeder Sendung einen kleinen Tisch neben dem Fernseher auf. Auf den Tisch stellte ich das kleine röhrenförmige Mikrofon und richtete es auf den Lautsprecher neben dem Fernsehschirm. Das Mikrofonkabel führte unter den Tisch. Es war mit dem Kassettenrekorder verbunden, der auf dem Teppich stand. Sobald die Fernsehansagerin fertig war, drückte ich am Recorder gleichzeitig die Tasten ‹Record› und ‹Play›. Den Rest der Familie hatte ich angewiesen, sich während der Sendung gefälligst ruhig zu verhalten – in der ganzen Wohnung, bitteschön.

Eines Tages lief im Fernsehen ein kurzer Film mit dem Titel WIE DAS FLIEWATÜÜT FLIEGT. Am Anfang des Filmes ging es darum, wie man ein Modell des Gefährts konstruiert, das für Filmaufnahmen brauchbar war.

Die erste Szene zeigte zwei schlanke Typen in Jeans und Pullover. Sie standen in einem Büro. An der Wand hinter ihnen hingen Pläne, auf dem Tisch vor ihnen lagen Skizzen ausgebreitet. Die beiden schlanken Typen beugten ihre Köpfe so tief über die Pläne, dass man ihre Gesichter kaum sehen konnte. Man konnte aber erkennen, dass sie beide Brillen trugen, der Typ links im Bild hatte dunkle Haare, der rechts stehende hatte schulterlange aschblonde Haare. Der Kommentator erklärte knapp: «Regisseur Armin Maiwald und Szenenbildner Wolfgang Schünke überlegen, wie es wohl funktionieren könnte.»

Einen Regisseur hatte ich mir anders vorgestellt: Älter. Dicker. Irgendwie mächtiger.

Aus dem Dialog zwischen den beiden Filmleuten erschloss sich, dass es Probleme gab mit dem Rotorkopf des Fluggerätes. Der mit den schulterlangen Haaren schien der Regisseur zu sein. Der Szenenbildner erklärte ihm, wie er sich die Konstruktion vorstellte.

Der langhaarige Regisseur hatte eine Frage. Er ließ sich vom Szenenbildner den Bleistift geben, kritzelte einen kleinen Kreis auf den Rand der Konstruktionszeichnung und erklärte: «Also, von oben gesehen sieht das doch so aus: Hier ist das Gelenk, wo die Achse drin ist», dann zeichnete er eine dicke gerade Linie, die von dem Kreis wegführte und sagte: «Dann ist doch hier dieser dünne Pinnüssell da …»

So drückte sich dieser dünne, langhaarige Regisseur aus. Echt locker. Pinnüssell.

So einen Ausdruck benutzte keiner unserer Lehrer.

Ich war beeindruckt.

In dem Film wurden viele Werkstätten und Büros gezeigt.

Wir sahen diesen langhaarigen Regisseur im Gespräch mit anderen Mitarbeitern seines Teams. Diesmal saßen sie um einen Tisch herum. Wieder lagen Pläne und Papiere mit Skizzen vor ihnen. Sie besprachen eine Trickaufnahme. Die Mitarbeiter machten dem Regisseur Vorschläge, wie sie einen Filmtrick durchführen wollten. Dann sahen wir, wie der Regisseur das Ergebnis der Besprechung seinem Kameramann erklärte. Immer ging es darum, die Aufnahmen vom Modell des «Fliewatüüts» im Studio mit den Aufnahmen einer wirklichen Umgebung draußen in der Landschaft abzustimmen.

Am Ufer einer Talsperre bauten die Filmleute einen meterhohen Leuchtturm aus Gerüsten, die mit Sperrholz verkleidet und angestrichen wurden. Mit einem richtigen Hubschrauber schwebten sie vorsichtig an diesen Leuchtturm heran. In der offenen Tür des Hubschraubers saß ein Kameramann und filmte. Seine Filmaufnahme sah nachher so aus, als stünde der Leuchtturm mitten im Wasser, weit draußen im Meer.

In anderen Szenen sah man die Filmleute auf einem Gletscher in den Alpen. Hier sah man den langhaarigen Regisseur Schnee schippen. Mit einem Hubschrauber wurden Kulissenteile auf den Gletscher transportiert. Die Kulisse bestand aus weißen Styroporblöcken. Man sah, wie die Filmleute aus den Styroklötzen einen Iglu zusammensetzten. Daneben stellten sie ein Wetterhäuschen auf und einen Mast mit einer wehenden Fahne daran. Das sollte die Forschungsstation des Polarforschers Zacharias sein. Als der Aufbau fertig war, näherte sich wieder der Hubschrauber mit dem Kameramann, der die Station aus der Luft filmte – langsam flog er die Kulisse der Forschungsstation an.

Die Filmleute hatten für ROBBI, TOBBI UND DAS FLIEWATÜÜT sogar am Polarkreis einen Hubschrauber gemietet, um passende Luftaufnahmen von Eisschollen auf dem Meer zu drehen.

Später wurden in einem Studio verschiedene Szenen mit Robbi und Tobbi im «Fliewatüüt» aufgenommen. Passend dazu liefen im Hintergrund die Bilder von den Eisschollen auf dem Meer. Oder die Luftaufnahme von dem Leuchtturm. Oder ihr Anflug auf die Forschungsstation im ewigen Eis am Nordpol. In der Kombination sah das aus, als würde das Fliewatüüt fliegen. Tatsächlich hatte es die ganze Zeit im Studio am Boden gestanden.

Beim SPATZ VOM WALLRAFPLATZ war eine Marionette in die Wirklichkeit eingetaucht. Bei ROBBI, TOBBI UND DAS FLIEWATÜÜT wurde die Wirklichkeit zu den Marionetten ins Studio geholt.

Bei Filmarbeiten schien es viel zu geben, was mit schaufeln, sägen, schrauben und anstreichen zu tun hatte. Und mit technischem Erfindergeist. Als würden Filmleute spielen und gleichzeitig arbeiten wie Handwerker, zusammen mit Puppenspielern, Baggerfahrern und Hubschrauberpiloten.

Spätabends im dunklen Zimmer (eigentlich sollten wir längst schlafen) zog mein kleiner Bruder den Kassettenrekorder unter dem Etagenbett hervor. Er hatte das untere Bett. Er drückte die Taste ‹Play›. Unsere Aufnahme lief möglichst leise, damit die Eltern uns nicht hören konnten. Wir lauschten der Titelmusik und der Tonspur einer Folge ROBBI, TOBBI UND DAS FLIEWATÜÜT. Jede Figur hatte eine einzigartige Stimme, wie bei einem Hörspiel. An den Geräuschen und Dialogen entlang erinnerten wir uns an die Bilder der Handlung. Der Motor des «Fliewatüüts» brummte hell. Die Rotorblätter flatterten rhythmisch. Mit geschlossenen Augen sah ich Robbi und Tobbi fliegen. Unter ihnen das Meer. Am Horizont voraus: Eisschollen auf dem Wasser, der Polarkreis.

Herr Maiwald, der Armin und wir

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