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Kapitel 3

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TEMPELHOFER DAMM

17:37 Uhr

Das Panorama wirkte wie der Blick auf einen Kriegsschauplatz. Autos standen kreuz und quer auf dem Fahrdamm und sogar auf den Gehwegen, die Schaufenster der normalerweise belebten Geschäftsstraße waren zum großen Teil eingeschlagen. Überall loderten kleinere Brände, mittendrin verstreut lagen leblose Körper. Gegen den dunklen Himmel hoben sich zahlreiche Rauchsäulen ab. Ben konnte das, was er sah, einfach nicht verarbeiten, und in seinem Kopf legte sich ein Schalter um. So sehr er sich auch wünschte, dass dies nur ein Traum sei, schrie ihm jede Faser seines Körpers etwas zu: Sein Leben war in Gefahr. In sehr großer, sehr ernst zu nehmender und vor allem sehr realer Gefahr.

Ohne weiter über das Warum und Weshalb nachzudenken, handelte Ben. Er registrierte Geräusche von der Metalltreppe her, also machte er zwei große Schritte auf das Brückengeländer zu und schaute nach unten. Die Angreifer hatten bereits eine Traube um die Treppe gebildet und versuchten, nach oben zu kommen, doch zu seiner Erleichterung waren sie dafür zu unkoordiniert. Ein besonders kräftiger Mann in einem zerrissenen Jackett starrte zu Ben hinauf, legte den Kopf in den Nacken und schüttelte die Fäuste. Dann ließ er einen anhaltenden, kehligen Schrei der Frustration los. Dieser skurrile Anblick ließ ein verwundertes Lächeln über Bens Gesicht huschen, doch es entglitt ihm sogleich, als der Schrei aus einer anderen Richtung erwidert wurde. Bens Blick schnellte die Straße hinunter, irgendwo bei den geparkten Autos am Ullsteinhaus kam Leben in die Schatten. Und wieder ertönte ein ähnlicher Schrei, diesmal von dem U-Bahn-Eingang dort gegenüber. Bevor Ben vollends realisiert hatte, was das wohl zu bedeuten hatte, rannten seine Beine auch schon los.

Seine Schritte waren die eines gehetzten Tieres, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die kalte Herbstluft brannte in seinen Lungen und seine Muskeln verkrampften sich immer mehr. Er hatte kaum den Fuß der Brücke erreicht, als ihn schon schweres Seitenstechen durchzuckte.

Obwohl oder gerade weil ihn die Angst voranpeitschte, bekam er seinen Körper einfach nicht unter Kontrolle. Unter diesen Schmerzen würde er nicht lange weitermachen können. An der nächsten Kreuzung rannte er auf den Eingang eines Wohnhauses zu und drückte panisch alle Klingeln – doch niemand reagierte. Ben schaute nach oben, mit dem Kopf weit im Nacken drehte er sich ungläubig um die eigene Achse wie ein Schlafwandler: Die meisten Fenster in der Straße waren dunkel. Als sein Blick wieder das Straßenniveau erreichte, fiel er auf eine Frau, die in einer dunklen Hofeinfahrt stand. Ben versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und rief einfach »Hey!«

Doch sie reagierte nicht. Als Ben auf sie zu stolperte, fiel ihm auf, dass sie ihr Gesicht zur Wand gedreht hatte – es wirkte, als würde sie den Putz inspizieren. Ben ignorierte diese merkwürdige Pose.

»Wohnen Sie hier? Haben Sie einen Schlüssel dabei?«

Keine Reaktion.

»Wir müssen von der Straße runter! Wir … wir müssen Hilfe holen!«

Nichts. Ein kalter Schauer lief Ben den Rücken hinunter, er bekam Gänsehaut an den Armen. Sein Körper hatte ihm etwas voraus, das sein Geist noch nicht begriff – es war, als würde ein Urinstinkt die Kontrolle übernehmen wollen. Alle Sinne klingelten, und als Ben kurz das Gefühl hatte, der Boden würde ihm unter den Füßen weggezogen, wurde seine Aufmerksamkeit zu einhundert Prozent in die gegenwärtige Situation katapultiert, er befindet sich nun im Hier und Jetzt

Als Ben die Frau fast erreicht hat, betritt er den Messbereich eines Bewegungsmelders, der eine Lampe über dem Eingang anschaltet. Ben blinzelt kurz, denn er wird geblendet, während das Gesicht der Frau immer noch vom Schatten der Einfahrt verdunkelt wird.

»Haben Sie ein Telefon?«, fragt Ben, als er die regungslose Frau an der Schulter packt. Langsam dreht sie sich um und Bens Ohren registrieren ein tiefes Knurren, das er nicht einordnen kann. In den dunklen Schatten im Gesicht der Frau registriert er ein feuchtes Glitzern und er macht unwillkürlich einen Schritt zurück. Genau in diesem Moment stolpert sie auf ihn zu, ihre Zähne schlagen dabei laut klackend aufeinander – hat sie etwa nach ihm geschnappt? Bevor Ben sich diese Frage beantworten kann, gleitet der Kopf der Frau in den Schein der Türbeleuchtung.

Ihr Gesicht ist komplett blutüberströmt und von langen Schnittwunden durchzogen. Ihre Augen sind weit aufgerissen, doch die Iriden wirken stumpf und grau. Als sie ihren Mund wieder weit öffnet, ähnlich einem Fisch, der auf dem Trockenen liegt, stellt Ben mit Grausen fest, dass Teile ihrer Lippen fehlen. Die Frau brüllt ihn aus vollem Hals an und Ben taumelt rückwärts. Der Schrei hallt durch die Straßenschlucht und überall stimmen weitere kranke Stimmen mit ein.

Ben rennt los.

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