Читать книгу BERLIN ZOMBIE CITY - Kalle Max Hofmann - Страница 9
Kapitel 6
ОглавлениеWASSER UND BROT
18:49 Uhr
Nachdem sie den immer noch zitternden Ben an einen alten, schweren Esstisch gesetzt hatten, ließen sie ihm erst einmal einen Moment zum Durchatmen, in dem er versuchte, sich einen Reim auf das Gesehene zu machen. Sein Glas stand auch vor ihm, momentan halbvoll, und als Nächstes landete eine trockene Scheibe Toastbrot vor ihm. Paula setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
»Das Brot geht auf mich«, sagte sie, »Wie heißt du eigentlich?«
»Ben« antwortete der Angesprochene, und Paula hob die Augenbrauen – so als würde sie das nicht für seinen richtigen Namen halten – und Ben fühlte sich irgendwie ertappt.
»Okay, Ben … ich bin Paula. Die meisten nennen mich Paule«, grinste sie.
Jetzt fiel etwas Anspannung von Ben ab. Herzlichen Glückwunsch, dachte er, und musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht zu lachen. Ein Jungenname für so eine Punklesbe, das passte doch wie die Faust aufs Auge. Er nahm sie genauer unter die Lupe. Ihre kurzen Haare wirkten fettig und hatten viele Kanten, als wären sie vor kurzem selbst geschnitten worden. Könnte aber schlimmer sein. Eigentlich hatte sie schon ein mädchenhaftes, nicht unattraktives Gesicht mit einer sehr feinen Nase, wenig Kinn und fast schon asiatisch angeschrägten Augen. Die wirkten in diesem funzeligen Licht tiefschwarz, und als sie sie auf einmal weit aufschlug und Bens Blick voll erwiderte, fühlte er sich schon wieder ertappt. Eigentlich schade, dass sie ihren offenen Ausdruck mit diesen Piercings so verschandelte. Sie hatte einen kleinen silbernen Ring in der Unterlippe und einen in der rechten Augenbraue, nach Bens Geschmack die beiden absolut unattraktivsten Stellen für Gesichtsschmuck. Trotzdem starrte er sie immer noch an, und sie hob schon wieder so herausfordernd die Brauen. Zum Glück trat jetzt die Schwangere an den Tisch, füllte wortlos sein Glas auf und stellte eine brennende, dicke Kerze auf den Tisch. Ben fragte sich, ob sie im Gastro-Bereich arbeitete, so flüssig wie ihre Bewegungen waren. Er schaute ihr mit großen Augen hinterher und bedankte sich artig.
»Das ist Melanie«, erklärte Paula, »die Tochter vom Wolfgang. Das ist der mit dem Plastikgewehr. Sozusagen unser Chef.« Sie rollte kurz mit den Augen. »Na ja, ist halt auch seine Wohnung hier.« Dann beugte sie sich ein wenig vor und fügte flüsternd hinzu: »Er nimmt das mit dem Patriarchat trotzdem ein bisschen zu ernst.«
Ben nickte fast automatisch. Paulas Lockerheit und ihr beiläufiger Ton irritierten ihn irgendwie, wollten sie doch einfach gar nicht dazu passen, dass hier ganz offensichtlich schreckliche Dinge im Gange waren. Doch jede Faser von Bens Verstand sträubte sich dagegen, sich mit diesen Gedanken zu beschäftigen, und so war er erleichtert, als Paula fortfuhr und in den Raum gestikulierte.
»Der Tarun da drüben, das ist Melanies Mann … Andrea und Günter haben im Hinterhaus gewohnt, genau wie ich.« Das waren die beiden komischen Intellektuellen, die nicht gerade Bens Favoriten in dieser zusammengewürfelten Truppe waren. »Da gab es dann aber ein Feuer, ist alles total verrußt jetzt«, sagte Paula, als wäre es das Normalste der Welt. »Und Matze und Pille, das sind Studienkollegen von Melanie und Tarun. Die waren hier, um beim Umzug zu helfen …« Sie suchte kurz nach Worten und schloss dann mit »… an dem Tag.«
Ben hob die Augenbrauen. Jetzt wurde es wohl interessant. »An dem Tag?«
»Ich nenne ihn den Tag X«, erklärte Paula, nun wieder im sachlichen Modus. »Der Freitag vor drei Wochen war das. Angefangen hatte es eigentlich noch zwei Wochen früher, mit dieser komischen Krankheitswelle. Erst hieß es was von Tollwut …«
Paula lehnte sich kurz seitlich über den Tisch und fischte eine abgegriffene Zeitungsseite aus einem Stapel mit Papieren hervor, der sich am Kopfende des Tisches befand. Sie schob Ben das Blatt zu, die Schlagzeile lautete »EPIDEMIE«.
»Das hab ich auch noch mitgekriegt … aber …« Ben driftete in Erinnerungen an seinen letzten Landgang ab. Das hatten ihm die Einheimischen also damals sagen wollen. Aber Ben hatte keine Lust gehabt, sich mit ihrem Radebrechen und der Konversation über Hand und Fuß zu beschäftigen. Er hatte einfach seine Vorräte gekauft, während der Tank befüllt worden war, und hatte innerlich den Kopf über die vermeintlich Bekloppten geschüttelt. In diesen Hafenstädten hatte er schon viel Seemannsgarn gehört, und auf seinem Boot fühlte er sich sowieso unverwundbar. Paula beugte sich zu ihm vor und senkte ihre Stimme, was ihr sofort wieder Bens volle Aufmerksamkeit sicherte.
»Die Infizierten sind dann voll ausgerastet. Wie Tiere. Die fallen alles an, was sich bewegt, und beißen … und dann kriegt man das auch. Das hat sich immer schneller ausgebreitet, und irgendwann war dann Sense. Tag X. Notstand, Kriegsrecht, alles zu spät.«
Ben hatte Mühe, ihre Worte für bare Münze zu nehmen, aber er konnte förmlich spüren, wie auch Paula um Fassung rang. Sie hatte das alles hautnah erlebt, daran hatte er keine Zweifel. Und sie hörte nicht auf zu reden, ganz so, als würde sie sich dadurch selbst beruhigen. »Kein Fernsehen mehr, kein Radio … die Handynetze sind auch zusammengebrochen. Aber Strom und Wasser gehen noch. Im Moment. Ist wohl alles automatisch.«
Ben dachte an die unbemannten Schleusen, die er auf dem Weg zurück in die Stadt passiert hatte, und die wenigen Schleusenwärter, die rückblickend betrachtet auch nervös schienen oder ihm sogar Dinge zugerufen hatten, die für ihn keinen Sinn ergaben.
Paula wirkte, als hätte sie den Faden verloren, ihr Redefluss kam ins Stocken. Melanie trat an den Tisch und legte ihr zärtlich die Hand auf die Schulter.
»Wir haben aber schon angefangen, Wasser zu sammeln. Sicherheitshalber«, sagte sie. In Bens Kopf formte sich langsam ein Gedanke, es war, als würde etwas anschwellen, das seinen Kopf zum Platzen zu bringen drohte. Er merkte, dass er sich auf etwas anderes konzentrieren musste, dass er mehr erfahren musste. Er zwang sich, zu sprechen, und dabei möglichst cool zu klingen: »Ähm … hast du gerade Kriegsrecht gesagt?«
Paula nahm den Ansatz dankbar an; sie atmete einmal durch und fuhr fort. »Ja, die Freaks gehen auf alles los, was sich bewegt. Nur gegenseitig lassen die sich in Ruhe. Deswegen herrscht der absolute Notstand.«
Jetzt war es so weit, in Bens Kopf knallte irgendwo eine Sicherung durch. Er sprang ansatzlos auf und gestikulierte in den Raum hinein.
»Und ihr sitzt hier alle einfach rum?«, rief er. »Wir müssen doch … irgendwohin, wo es sicher ist … 'ne Polizeistation oder so … wo die uns schützen können!«
Alle Anwesenden hielten inne und schauten Ben für einen Augenblick verwundert an, dann musterten sie sich gegenseitig, bis Wolfgang schließlich demonstrativ langsam aufstand. Er wandte sich an die Gruppe und sagte laut: »Ich hab doch gesagt, der muss weg! So einen können wir hier nicht brauchen!«
Ben war irritiert, er wollte eigentlich noch etwas sagen, doch sofort merkte er, dass damit für die anderen schon alles gesagt war – sie kümmerten sich wieder um ihre Angelegenheiten; jedoch nicht ohne das eine oder andere Augenverdrehen oder Kopfschütteln. Nachdem sein kurzlebiger Adrenalinschub wieder wegbrach, sackte Ben hilflos in sich zusammen. In diesem Moment kam Mathias auf ihn zu und schob ihn wieder auf den Stuhl.
»Nimm es uns nicht übel, aber Wolle hat recht«, begann er. »Wir treten uns hier schon gegenseitig auf die Füße. Und die Vorräte halten auch nicht ewig.«
Ben schaute ihn immer noch begriffsstutzig an, und Paula übernahm das Erklären.
»In Polizeiwachen und Krankenhäusern gab es die größten Massaker. Da wollten die meisten Leute hin. Aber wo viele Leute sind, gibt's für die Freaks das meiste Fressen, verstehst du? Und deswegen sind da jetzt auch die meisten Infizierten. So etwas wie Sicherheitskräfte gibt's nicht mehr. Die sind alle gebissen worden. Und der Konsens hier –«, an dieser Stelle machte sie eine Kunstpause und seufzte, »– ist, dass wir die Sache aussitzen sollten. Bloß nicht nach draußen gehen.«
Sie schaute Matthias konspirativ an. »Vor allem seit vorgestern, da ist Wolfgang fast von denen erwischt worden. Weil er nicht auf mich gehört hat.«
Matthias stieg nicht auf ihre Vorlage ein. »Er hat doch aber recht. Wir können nichts machen, außer warten, dass die Armee kommt … und aufräumt.«
Bens Schädel pochte immer noch, sein kleiner Ausbruch hatte ihn völlig fertiggemacht, vor allem aber fühlte er sich so benommen, dass er eigentlich nur nachplappern konnte. Die Informationen wollten einfach nicht in sein Bewusstsein dringen.
»Wie, aufräumen … was meinst du?«
Mathias zuckte nur mit den Schultern und sagte lakonisch: »Die müssen alle Infizierten abknallen.«
Ben atmete tief durch. Das war alles sehr starker Tobak. Einfach absolut irreal. Doch der Druck in seinem Schädel nahm langsam ab und er atmete tief durch. Dabei fiel sein Blick auf einen großen Anstecker, der an Paulas Jacke befestigt war. Auf schwarzem Grund prangten dort ein weißer Totenschädel und die rote Aufschrift: Soldaten sind Mörder. Wie die Zeiten sich ändern konnten. Ein gewisser Groll stieg in Ben auf.
»Hey sorry, ich weiß, ich komme aus dem Mustopf und so«, sagte er, »Aber das kann doch einfach nicht wahr sein! Ihr sitzt alle nur hier rum, als wäre nichts gewesen! Wir müssen doch irgendwas machen!« Damit traf er anscheinend bei Matthias einen wunden Punkt, denn der ging ihn sofort mit wütender Miene an.
»Pass' mal auf«, drohte er, wobei er Ben den Zeigefinger in die Brust bohrte, »Ohne uns wärst du tot, Freundchen!«
Paula atmete tief durch und hielt Matthias ihre aufgestellten Handflächen entgegen; ein Zeichen, dass er sich beruhigen solle.
»Lass' mal gut sein, Matze«, sagte sie beschwichtigend. Dann wandte sie sich Ben zu: »Du hast echt keine Ahnung, was wir durchgemacht haben. Wahrscheinlich sind wir einfach schon abgestumpft. Uns ist das alles andere als egal, aber es fühlt sich an, als wäre man in Watte gepackt …«
»Ja, so ist es vielleicht am Tag«, fiel ihr Matthias ins Wort, »Aber wenn man schläft … das ist die reinste Folter.«
Bei diesen Worten meinte Ben, einen Funken von Wahnsinn in Matthias' Augen aufblitzen zu sehen, sein Blick fokussierte plötzlich einen Punkt außerhalb dieser Welt. Paula hingegen schien das ganz anders wahrzunehmen, denn sie brach auf einmal in ein glucksendes Lachen aus und boxte Ben auf die Schulter.
»Hey, ich hab mir neulich im Schlaf ein Stückchen Zunge abgebissen«, erklärte sie. »Dann bin ich mit ’ner blutigen Fresse aufgewacht, und Matze hätte mir fast den Kopf abgehackt.«
»Was verpasst du mir auch so 'nen Schock«, stimmte Matze in das Gelächter mit ein. Das für Ben absolut absurde Geräusch echote durch seinen Schädel, es erinnerte ihn an etwas … an jemanden. Urplötzlich klang das Gelächter wie unter Wasser, eine Erkenntnis traf ihn wie der Blitz und jagte einen langanhaltenden Piepton durch Bens Gehirn. Er hatte wieder das Gefühl, der Boden würde unter ihm weggezogen – seines Gleichgewichtes beraubt, kippte er ein Stück nach vorne und musste sich am Tisch abstützen.
»Alles okay?«, fragte Paula besorgt, als sie seinen ungesunden Gesichtsausdruck registrierte.
Matthias schaute Ben ebenfalls forschend an, wobei er die Stirn in Falten legte, da sprang Ben unvermittelt auf und murmelte: »Ich muss los.«
»Was?«, fragte Paula erstaunt, während Matthias bereits zögerlich aufstand und Ben argwöhnisch im Auge behielt.
Bens Gedanken rasten, mit einer unnatürlich langen Verzögerung sagte er abwesend: »Ich muss zu meiner Freundin.« Er versuchte, sich abrupt wegzudrehen, doch Matthias hielt ihn am Arm fest, worauf Ben erst ihn, dann Paula fragend anstarrte.
»Ey, wir wollen dich ja loswerden, aber nicht jetzt sofort«, sagte Paula kopfschüttelnd. »Da draußen ist jetzt alles voll mit den Freaks«, gab Matthias zu bedenken. Doch der völlig weggetretene Ausdruck wich nicht aus Bens Gesicht.
»Ich muss sofort zu meiner Freundin«, sagte er jetzt lauter und mit einem sehr eindringlichen Tonfall.
»Hey, bitte nimm's mir nicht übel«, setzte Paula an, »aber die Chance, dass sie noch lebt …«
Während sie nach einer möglichst schonenden Formulierung suchte, fummelte Ben geistesabwesend das Foto aus seiner Hosentasche. »Nein, ihr versteht das nicht …«, begann er, während er das geschundene Bild nervös glatt strich. »Meine Freundin …«, fuhr er fort, wobei seine Augen hektisch zwischen seinen beiden Gesprächspartnern hin und her sprangen, »sie … sie ist schwanger!«
Ben schleuderte Paula und Matthias dieses Wort mit solcher Inbrunst entgegen, dass sie unwillkürlich zusammenzuckten. Auch Ben selbst wirkte erschrocken, es zu hören. Sein entschlossener Gesichtsausdruck fiel zusammen und zurück blieb nur Verzweiflung. Das machte seine Aussage umso eindrucksvoller, und Ben nutzte in seinem plötzlichen Drang zum Rückzug die Überraschung seiner Zuhörer, um sich loszureißen und auf den Balkon zu stürmen. Die übrigen WG-Mitglieder schauten ihm fragend hinterher, während Paula Matthias einen besorgten Blick zuwarf. Der zuckte bloß mit den Schultern, folgte Paula allerdings sogleich in Richtung Balkontür.
Ben stand zitternd am Geländer und starrte auf die flache Berliner Skyline. Er nahm gar nicht wahr, dass Paula und Matthias im Türrahmen erschienen. Nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatten, stieß Matthias ihr den Ellenbogen in die Seite und sie räusperte sich.
»Wie gesagt … du musst vielleicht den Gedanken in Betracht ziehen, dass sie …« Sie suchte wieder nach rücksichtsvollen Worten, aber Matthias war weitaus weniger geduldig.
»Mindestens zwei Drittel der Menschen im Stadtkern sind tot«, platzte er dazwischen, »Und fast der gesamte Rest infiziert. Vielleicht fünf Prozent haben es geschafft, so wie wir.«
Paula war zunächst wenig begeistert von seinem gnadenlosen Vorstoß, wusste aber auch, dass er die Wahrheit sagte und im Prinzip das Beste für den Neuankömmling wollte – auf eine etwas unbeholfene Art. Während seiner Rede trat sie auf den Balkon hinaus und beobachtete Ben aufmerksam von der Seite. Der regte sich jedoch kein bisschen und schaute einfach nur hinunter auf den Fahrdamm, wo die Infizierten sich langsam verstreuten. Sie torkelten stöhnend und ziellos vor sich hin. Paula versuchte es noch einmal auf die sanfte Art: »Am besten, du bleibst erst mal bis zum Sonnenaufgang hier …«
Mathias dachte scheinbar immer noch ausschließlich in Parametern technischer Machbarkeit und dozierte weiter.
»Auch wenn viele von denen nicht gerade beweglich wirken … die haben ein super gutes Gehör und einen ebenso scharfen Geruchssinn. Da ziehst du im Dunklen auf jeden Fall den Kürzeren!«
Das schien nun doch Bens Interesse zu wecken, er richtete sich leicht auf, also stieg Paula mit ein. »Das stimmt. Jede dunkle Ecke, jeder Schatten kann 'ne tödliche Falle sein.«
Ben atmete tief durch, anscheinend beruhigte er sich langsam wieder. »Ich muss aber zu ihr. Ich muss doch wissen, was mit ihr ist …«
Paula nickte verständig. »Versuch doch mal, sie anzurufen. Auf dem Festnetz, meine ich, das geht noch. Wir haben ein Telefon hier.«
Doch Ben antwortete: »Sie hat nur noch ein Handy.« Paula und Mathias schauten sich kurz an, als Ben zerknirscht hinzufügte: »Ich habe ihr gesagt, sie soll das Festnetz kündigen. Wozu der Scheiß Telekom das Geld in den Rachen werfen …«
»Wo wohnt sie denn?«, fragte Paula schnell, um Ben von dem Thema abzubringen.
»In Mitte. In der Nähe vom Hackeschen Markt.«
Bei dieser Ortsangabe machte Mathias große Augen, anscheinend fiel er aus allen Wolken. »Ey, das kannste vergessen!«, ereiferte er sich, doch Paula gebot ihm mit einer Geste, nicht weiter zu sprechen. Stattdessen übernahm sie die weitere Erklärung: »Wie gesagt, da wo die meisten Leute waren, sind jetzt die meisten Freaks. Und du müsstest zu Fuß durch die halbe Stadt …«
Ben schaute sie fragend an und echote: »Zu Fuß?«
Wieder schaltete Paula in einen sachlichen Erklärmodus. »Die Straßen sind total verstopft. Jeder, der ein Auto hatte, hat versucht, abzuhauen, aber das funktioniert einfach nicht, wenn alle auf einmal losfahren.«
»Noch dazu sind die Tankstellen ausgeplündert«, ergänzte Mathias, »und Autos machen 'nen Höllenkrach. Das lockt die Freaks an wie nix.«
»Deswegen nehme ich zum Vorräte suchen immer mein Fahrrad«, erklärte Paula. Nun war es Ben, der große Augen bekam, es sah fast so aus, als würde er gleich über Paula herfallen. Wie aus der Pistole geschossen, sagte er: »Dein Fahrrad? Das kaufe ich dir ab!«, doch sie hob nur verwundert die Augenbrauen.
»Wie soll das gehen?« Sie erwiderte Matthias' peinlich berührten Blick, als Ben nach seinem Portemonnaie kramte.
»Ich hab jede Menge Geld dabei. Müssten noch gute 500 Euro sein«, murmelte er gedankenverloren. Paula grinste ihn mitleidig an.
»Lass mich raten … du bist Banker? Manager? Broker?« Ben hielt inne.
»Wie hast du das denn erraten?«, fragte er überrascht.
Paula tat es anscheinend fast leid, dass sie recht hatte. »Das merkt man doch an deiner ganzen Art«, sagte sie mit abfälliger Körpersprache. »Du spielst gleich den Chef, hast 'n Boot, wedelst mit Geld … wie so ein Yuppie halt.«
Ben erkannte an der Galle in ihrer Stimme, dass hier zwei sehr konträre Lebenseinstellungen aufeinanderprallten. »Gut kombiniert«, giftete er zurück. »Du bist auch zufällig die erste Punk-Lesbe, die ich nett finde!«
Paulas Augen verengten sich, ganz offensichtlich verstand Ben wirklich sehr wenig von Menschen. Doch bevor sie einen gepfefferten Konter geben konnte, wiegelte Matthias ab.
»Hör’ nicht auf sie. Es ist echt was anderes, wenn man große Pläne hatte. Ich zum Beispiel wollte 'nen Fahrradladen aufmachen.«
Paula verdrehte die Augen. Diese Geschichte konnte sie schon fast mitbeten, doch Matthias ließ sich von ihrem offen zur Schau gestellten Missfallen nicht abhalten.
»Ich habe mir den Arsch wundgearbeitet und hatte fast alle Puzzleteile beisammen. So kurz davor, Mann, ich konnte an gar nichts anderes mehr denken. Und jetzt diese Scheiße. Kein Mensch weiß, wie das alles ausgehen wird.«
»Fahrräder werden danach auf jeden Fall erst mal groß in Mode sein«, schloss Paula zynisch.
»Okay, alles ist scheiße, das habe ich verstanden«, ging Ben dazwischen. »Aber ich muss jetzt zu meiner Freundin, die ist schwanger, versteht ihr das nicht?« Beim Sprechen bebte seine Unterlippe, die komplette Muskulatur stand unter Hochspannung.
Paula versuchte es weiter mit Räson. »Du kannst ihr oder deinem Kind aber auch nicht helfen, wenn du tot bist! Glaub uns doch einfach, wir sitzen alle im selben Boot. Jetzt gerade, in diesem Moment, gibt es nichts, was du tun kannst!«
Ben schüttelte verächtlich den Kopf und versuchte, sich an Matthias vorbei in die Wohnung zu drücken, doch der stellte sich ihm demonstrativ in den Weg.
»Ey, du kannst da jetzt nicht rausgehen!«
Aus Bens Augen schoss pures Feuer. »Ihr wolltet mich doch unbedingt wieder loswerden. Und jetzt darf ich nicht gehen?«
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, sagte Mathias eindringlich. »Wir haben unser Leben für dich riskiert, Mann! Checkst du das nicht? Wir könnten alle tot sein! Das willst du jetzt einfach wegwerfen?«
Ben atmete tief durch. Die Situation war wirklich extrem heikel gewesen. »Dafür bin ich euch auch dankbar«, sagte er gepresst, »Wirklich sehr, sehr dankbar. Aber ich muss jetzt gehen.« Er drückte ein wenig in Matthias' Richtung, doch der schubste ihn auf einmal relativ unsanft zurück.
»Bist du taub?«, herrschte er Ben an. Sein Tonfall schien Paula zu alarmieren, denn sie ging sofort entschieden dazwischen.
»Mann Matze, krieg’ dich mal wieder ein!«, sagte sie energisch, doch Matthias war kaum noch zu bremsen.
»Mann, fick dich doch«, herrschte er sie an. »Ich will nur das Beste für die Gruppe, und ihr habt alle verdammt noch mal keinen Plan!«
Wutschnaubend zog er sich in die Wohnung zurück, und Ben wusste inzwischen nicht mehr, wie er die Situation einordnen sollte. Paula versuchte, es mit Humor zu erklären.
»Früher hättet ihr euch bestimmt super verstanden. Er will wahrscheinlich, dass du hierbleibst, um mit anzupacken. Für sein Befinden sind die meisten hier einfach zu lasch drauf.«
»Außer dir«, schätzte Ben.
»Richtig, ich bin ihm nämlich zu radikal«, grinste sie, »Weil ich eigentlich lieber hier abhauen würde.«
Sie sah ihn kurz nachdenklich an und fuhr dann fort.
»Also … wie ist das mit deinem Boot? Passen wir da alle drauf?«
»Würde wahrscheinlich knapp werden«, überlegte Ben, dann sagte er: »Von der Anzahl der Leute her könnte es gerade so passen, aber dann könnte man sonst nichts mitnehmen.«
»Könntest du denn auch ein größeres Boot steuern?«, fragte sie gespannt.
»Klar, ich habe schon als Teenie kleine Ausflugsdampfer gesteuert.«
»Wie kommt man denn an so was ran?«, wollte Paula verwundert wissen, doch Bens Miene verfinstert sich plötzlich.
»Meine Familie … ganz schlechtes Thema«, knurrte er.
Paula legte die Stirn in Falten. »Die meisten von uns wissen nicht, was mit ihren Leuten ist … ich hab' auch keine Ahnung, ob meine Eltern noch leben …« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Ist mir ehrlich gesagt aber auch egal. Leider.«
»Meine Familie ist mir auch scheißegal«, erklärte Ben aufbrausend. Sein Blick driftete in die Ferne ab und wurde noch düsterer, was Paula mit einem Lächeln aufzufangen versuchte.
»Siehste, dann haben wir doch was gemeinsam«, sagte sie, aber Ben schien sie gar nicht zu hören.
»Gegen meinen Stiefvater, den alten Sack, ist sowieso kein Kraut gewachsen«, murmelte er, »nicht mal die Katastrophe da unten.«
»Unterschätze das mal nicht«, mahnte Paula, »Wir waren am Anfang noch ein paar Leute mehr. Jeder Schritt da draußen ist gefährlich. Entweder deine Freundin ist jetzt in guten Händen, oder es ist sowieso zu spät.«
»Was soll ich machen?«, fragte Ben, »Euer Sheriff will mich doch loswerden. Da kann es euch doch herzlich egal sein, ob ich nach Mitte gehe oder sonst wohin.«
»Wie gesagt, das grenzt an Selbstmord. Du könntest dir einfach hier eine Wohnung in der Straße suchen, das meiste steht ja eh leer. Nach ein, zwei Wochen würde Wolle dann schon einsehen, dass du ’ne Hilfe sein kannst. Und wenn dann immer noch keine Armee da ist … wer weiß, dann könnten wir vielleicht alle zusammen abhauen.«
Für einen kurzen Moment horchte Ben in sich hinein, dann zuckte er kraftlos mit den Schultern. »Es ist wirklich nett von euch. Aber ich muss wissen, was mit ihr ist.«
Ben zog das Foto aus seiner Hosentasche und hielt es Paula demonstrativ hin. »Ich kann einfach nicht anders. Ich hab' es total verbockt.«
Beim Anblick des geflickten Porträts legte Paula die Stirn in Falten. »Ihr habt euch gestritten und du bist abgehauen? Ey, wenn ihr nicht mal richtig zusammen passt, dann musst du dir das zweimal überlegen. Es klingt fies, aber es geht jetzt nur noch um's Überleben.« Bens strafender Blick ließ sie kurz stutzen, aber sie glaubte an das, was sie sagte.
»Wir sind doch hier auch nur 'ne Bande, die das Schicksal zusammengewürfelt hat«, fuhr sie fort, »Aber nichts anderes zählt im Moment. Wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir müssen füreinander da sein.«
Diesen Standpunkt konnte Ben natürlich nachvollziehen, er schloss die Augen und nickte, überlegte kurz und wirkte danach deutlich klarer.
»Ich habe sie im falschen Moment im Stich gelassen«, erklärte er, »wenn ihr etwas passiert ist, habe ich das zu verantworten. Und deswegen habe ich keine Wahl. Ich könnte es mir sonst niemals verzeihen.«
Nun war Paula an der Reihe damit, zu verstehen, und sie sah ihn einfach nur mit großen Augen an. »Außerdem, vielleicht gibt es dann gleich zwei Überlebende mehr«, schloss Ben hoffnungsvoll.
Paula schaute zu Boden, in ihrem Kopf arbeitete es, und Ben wartete regungslos auf ihre Antwort.
»Okay, ich hab 'ne Idee«, sagte sie schließlich. »Lauf' doch erst mal zum Südkreuz. Dann kannst du über die Schienen weiter, direkt bis nach Mitte. Dann ist schon mal die Hälfte der Strecke relativ gefahrlos.«
Ben nickte verständig. »Wo keine Leute waren, sind auch keine Infizierten«, fasste er das inzwischen Gelernte zusammen. Das schien Paula zu gefallen.
»Ansonsten halte dich an die großen Straßen …«, setzte sie an, und Ben ergänzte: »… weil mein Vorteil ist, ich bin schneller als die, und so habe ich mehr Platz zum Ausweichen.«
Paula musterte ihn für einen Moment mit einer Mischung aus Anerkennung und Sorge.
»Okay, ich würde sagen, mehr kann ich dir wohl nicht mit auf den Weg geben.« Sie warf einen prüfenden Blick auf die Straße, dann schaute sie Ben fest an. »Pass auf dich auf. Du weißt ja: Zusammenhalten. Überleben.«
Ben nickte stumm und Paula bemerkte, dass sie eine gewisse Ergriffenheit fühlte. Früher hätte sie einen Typen wie den einfach zum Kotzen gefunden; einen blöden Yuppie, der sich wichtig macht. Oder um es mit den Worten der etwas verkrampfteren Leute in ihrer Clique zu sagen: ein Klassenfeind. Aber jetzt war es irgendwie egal. Er machte sich Sorgen um seine bessere Hälfte und war sogar bereit, sein Leben für sie aufs Spiel zu setzen. Das konnte man wohl kaum unsympathisch finden.