Читать книгу Kapitäne ohne Kurs - Karen Erbs - Страница 4
Auf dem Weg nach Friedrichstadt
ОглавлениеEr hatte sich zum ersten Mal seit Jahren durchgesetzt, und nun musste Willi dafür büßen. Einmal in seinem Eheleben, und nur weil er zu seinem runden Geburtstag ausdrücklich darauf bestanden hatte, durfte er Urlaubsort und Urlaubsmonat bestimmen. Jetzt bereute Willi schon auf der Hinreise das ganze Unternehmen.
Bis zuletzt hatte er gehofft, dass seine Frau Gerlinde ihn alleine reisen lassen würde, denn in über vierzig Jahren Ehe hatte er sie bisher nie dazu überreden können, mit ihm nach Nordfriesland zu fahren.
Sie brauchte ihren Urlaub mit garantiertem Sonnenschein: Mallorca, Ibiza, Italien, die Kanarischen Inseln, Tunesien, die Türkei, Florida und sogar auf den Malediven - sie waren überall gewesen. Willi musste immer mit, und Gerlinde hatte immer das gleiche Programm: Tagsüber Dauersonnen am Strand - abends in die Hotelbar oder irgendwo anders hin zum Tanzen mit trinkfesten und gleich gesinnten Deutschen, Engländern und Skandinaviern.
Wie oft hatte er schon gehofft, ein bösartiger Hautkrebs würde sie erwischen? Sie für ihre Sonnengier bestrafen! Er mochte ihre braune Haut, die immer lederner wirkte, schon lange nicht mehr anschauen. Geschweige denn anfassen. Sie vermisste seine Berührungen aber nicht. Hielt nichts von Sex im Alter.
Willi packte das Steuer noch fester an. Er war zwar siebzig Jahre alt, aber er wollte Zärtlichkeit und Berührungen. Verdammt, was hatte das mit dem Alter zu tun?
Immerhin durfte er sich im sonnigen Süden tagsüber manchmal absetzen. Er mietete dann oft ein Auto und erforschte das Innere der Inseln. Auf Wanderungen mit stillen Glücksmomenten machte er Fotos von alten Klöstern, sonderbaren Gewächsen, wunderschönen Küsten und einsamen Buchten. Manchmal war es auch zu Begegnungen und kurzen Affären mit Frauen gekommen. Das waren dann unvergessliche Höhepunkte gewesen. Er hatte sich aber nie getraut, eine dieser Urlaubsbekanntschaften zuhause wieder zu sehen. Gerlinde konnte zur Furie werden, wenn sie sich aufregte. Und er musste auf sein Herz Acht geben. Eigentlich wollte er auch nur so oft wie möglich seine Ruhe zum Fotografieren. Willi liebte die Stille seiner Dunkelkammer.
Stille?
Seit ihrer kurzen Pause in Hamburg jammerte Gerlinde. Früher hatte sie nie in die Hansestadt gewollt, nun war es ihr mit seinen prachtvollen Passagen, schicken Restaurants, Shows und Musicals wie das Las Vegas des Nordens vorgekommen. Gerlindes Stimme überschlug sich zum wiederholten Male, als sie ihn von der Seite ankeifte:
„Glaube ja nicht, dass ich mit dir in Gummistiefeln durch das Watt latsche oder auf dem Fischkutter raus zum Angeln fahre. Mir wird bei dem Gedanken schon kotzübel.“
Willi wusste, es wäre besser, weiterhin zu schweigen, aber er konnte sich die Frage nicht verkneifen:
„Warum bist du dann überhaupt mitgekommen?“
„Du glaubst doch nicht, dass ich nicht weiß, dass du lieber alleine los wolltest? Wirst schon deine Gründe haben. Aber nicht mit mir, mein Lieber, ich bin ja nicht völlig bescheuert!“
Willi seufzte und bremste vorsichtig ab, um wieder einen sicheren Abstand zum Vordermann zu bekommen. Die Sicht war schlecht geworden. Es war richtiges Aprilwetter. Auf der Fahrt von Düsseldorf nach Hamburg hatte es geregnet. An der Alster hatten sie Sonnenschein und sogar draußen in einer windgeschützten Ecke schräg gegenüber dem schönen Rathaus einen Kaffee genießen können.
Zuletzt hatte Gerlinde unbedingt noch in das Restaurant des berühmten Fernsehkochs Mälzer gewollt, aber dort lief nichts ohne Reservierung.
Woraufhin Gerlinde wieder ihre Wut an ihm ausließ. Er beruhigte sie, indem er ihr vorschlug, in einem der alten Hotels an der Binnenalster essen zu gehen. Das Atlantic Hotel, in dem Udo Lindenberg seit Jahren eine Suite bewohnte, hatte seine Frau beschwichtigt, aber das Essen war teuer gewesen und hatte seinen Zeitplan völlig über den Haufen geworfen.
Gerlinde hätte natürlich am liebsten in dem Hotel übernachtet, aber Willi bestand darauf, nach Friedrichstadt zu ihrer Pension zu fahren. Doch nun war es nicht nur dunkel, es hatte auch wieder angefangen zu regnen. Wenn das Wetter so bliebe, würde der Urlaub mit Gerlinde die Hölle werden.
Ihm schien, dass sie besonders gereizt war, seitdem sie letzte Woche mit der Pensionswirtin am Telefon gesprochen hatte. Willi hatte ja nicht gewusst, dass die Frau Witwe war. Gerlinde und ihre Verdächtigungen!
Und er hatte sich so sehr auf das alte Holländerstädtchen gefreut. Ihre Unterkunft lag an der Treene im Westersielzug. Willi war schon neugierig, was sich hinter diesem seltsamen Straßennamen verbarg.
Gerlinde war grundsätzlich eine eifersüchtige und misstrauische Frau. Willi war sich sicher, dass sie deswegen auch keine langfristigen Freundinnen hatte. Gerlinde konnte ihre Gefühle, auch Neid und Missgunst, nicht gut vor anderen verbergen.
Wieder seufzte Willi, als er an seine alten Freunde und Kollegen von früher dachte, die sich nach und nach von ihm zurückgezogen hatten. Nur sein alter Kumpel und Nachbar Frank war ihm noch geblieben. Unverwüstlich ließ der alle Unhöflichkeiten Gerlindes an sich abtropfen, traute sich sogar manchmal, ihr mit Ironie zu begegnen. Er hatte ihm auch für den Urlaub zwischen Nordsee, Treene und Eider den Rücken gestärkt.
Frank war oft im Norden. Hatte ihm erzählt, wo es die besten Fischbrötchen gab. Von der salzigen Luft und den Halligen hatte er geschwärmt und Willi ans Herz gelegt, unbedingt zum Westerhever Leuchtturm zu wandern. Das Eidersperrwerk und das Kattinger Watt sollte er sich anschauen. Natürlich sollte er auch auf Theodor Storms Spuren in der grauen Stadt am Meer wandeln. Und auf jeden Fall sollte Willi mindestens einmal zum Roten Haubarg, um dort leckeren Kuchen in einem riesigen historischen Bauernhaus mit einer gekachelten Stube zu genießen. Pesel wurde die Stube genannt, meinte Frank. Er würde sicher viele Fotos von den Landschaften vor und hinter dem Deich machen. Willis Augen begannen zu brennen.
Sie waren nun nicht mehr auf der Autobahn, sondern auf der B 5 zwischen Heide und Tönning, wo er hinter Tönning irgendwann rechts nach Friedrichstadt abbiegen wollte. Es war also nicht mehr weit, aber er hatte sich wohl zu viel zugemutet. Sein Rücken tat weh. Er versuchte, sich bequemer hinzusetzen und musste abrupt bremsen, als vor ihm rote Lichter im Regen aufleuchteten.
Gerlinde schreckte auf und fing wieder an, auf ihm rumzuhacken: „Du bist viel zu müde zum Fahren und bringst uns noch um. Wir hätten doch in Hamburg bleiben sollen. Aber du musstest ja wieder stur sein. Würde mich nicht wundern, wenn wir hier in der Walachei bald in irgendeinem Graben landen.“ Willi hielt das Lenkrad seiner Mercedeslimousine umklammert und wünschte, es sei die Gurgel seiner Frau.
Stille. Alles, was er sich wünschte, war Stille.
Statt der Stille gab es plötzlich ein klopfendes Geräusch, das aus der Mitte unter ihnen zu kommen schien. Gefolgt von einem monströsen Dauerlärm, als wollte der Wagen gleich auseinanderbrechen.
Willi trat auf die Bremse. Zum Glück blieb der schwere Mercedes in der Spur, und er lenkte ihn behutsam an den Straßenrand. Einen Standstreifen gab es hier nicht.
„Na klasse! Ein toller Urlaub! Jetzt darf ich hier in der Pampa auch noch im Auto übernachten, oder wie? Ich könnte jetzt mit einem Cocktail an einer tollen Hotelbar sitzen, aber du musstest ja unbedingt in dieses bescheuerte Ostfriesland, wo sich die blöden Schafe Gute Nacht sagen.“
Nord-, es ist Nordfriesland! Aber er bewegte nur lautlos seine Lippen. Und seine Frau war eh etwas schwerhörig. Willi versuchte, wie schon so häufig in seinem Eheleben, die Stimme Gerlindes einfach auszublenden. Er musste sich jetzt konzentrieren.
Die Situation war wirklich gefährlich. Das Wichtigste war erst einmal die Warnblinkanlage. Ein Glück. Sie funktionierte.
„Wir sollten vielleicht nicht im Auto bleiben“, wagte er, vorsichtig Gerlindes Vortrag zu unterbrechen.
„Spinnst du? Ich stelle mich doch hier nicht in irgendeinen sumpfigen Straßenrand bei Regen.“
„Wenn du meinst. Ich hole dann erst einmal das Warndreieck aus dem Kofferraum und stelle es auf.“
Willi griff sich entschlossen seine Jacke von der Rücksitzbank und öffnete die Fahrertür. Alles war besser als das Gekeife Gerlindes. Auch Wind und Regen in Nordfriesland.
Er musste sich etwas schräg halten, um gegen den Wind anzukommen. Der Sturm peitschte ihm den Regen ins Gesicht. Von vorne kam ein langer Konvoi von Autos, die sich hinter einem langsamen Lastwagen stauten.
Er traute sich nicht weiter von der Straße weg, weil er dann in einen Graben hinunter gemusst hätte, in dem er Wasser vermutete.
Als der LKW auf seiner Höhe war, bespritze er ihn und ein mächtiger Sog brachte ihn kurz aus dem Gleichgewicht. Er blickte sich um, ob noch alles mit seinem Wagen stimmte und sah, wie sich der LKW und ein anderer genau dort begegneten und den Mercedes fast berührten.
Hoffentlich bekam Gerlinde einen mächtigen Schreck und wurde sich nun der Gefahr bewusst, dachte Willi.
Oder …? Sollte er sich lieber noch größere Lastwagen wünschen, die den Wagen samt seiner Ehefrau platt machten?
Willi war nun völlig durchnässt. Da hätte er auch gleich durch den Graben an seiner Seite schwimmen können.
Er schätze die Entfernung zu seinem Fahrzeug ab. Stellte das Warndreieck auf die Straße. Dann ging er langsam zurück, wobei er dieses Mal vom Wind geschoben wurde und sich deswegen etwas zurücklehnte.
Zu seiner Überraschung stand Gerlinde auf dem winzigen Grasstreifen zwischen Auto und Graben im Regen.
Wenn es irgendwie möglich war, hatte sich ihre Laune noch verschlechtert. Bei ihrem Handy war der Akku leer, und sie meinte, die Lastwagen eben hätten sie fast umgebracht, weil die bekloppten Norddeutschen wie Idioten führen.
Willi seufzte und ging wieder zum Kofferraum. Er zerrte zwei Schutzwesten hervor, die noch in ihrer Originalverpackung steckten. Ihm wurde bewusst, dass er die schon früher hätte anziehen sollen, als er losmarschiert war, um das Warndreieck aufzustellen.
Er ging zur Seite des Wagens und gab seiner Frau eine der Packungen.
„Hier, die müssen wir anziehen. So kann man uns besser sehen.“
Er riss seine Packung auf und zog sich die Weste über, was eine anstrengende und unangenehme Prozedur bei der Nässe war. Inzwischen tat nicht nur sein Rücken weh, auch sein Kopf dröhnte.
Gerlinde schrie ihn genervt an, dass er ihr in die Weste helfen sollte.
Sie stand vor ihm in der Dunkelheit, aber er konnte ihr verwischtes Make-up sehen und ihre runter gezogenen Mundwinkel erkennen. Sie schien vor Wut zu platzen. Tagelang würde sie ihm diese Situation vorwerfen. Der Urlaub war gelaufen.
Willi sah hinter seiner Frau wieder sich nähernde Scheinwerfer.
„Warte mal, Gerlinde! Lass uns mit der Weste vor das Auto gehen! Da kann ich im Scheinwerferlicht besser sehen, was ich tue.“
Er folgte ihr vorsichtig über den glitschigen Straßenrand auf den dunklen Asphalt der Fahrbahn vor ihrem Auto.
„Oder wir geben dem nächsten Wagen, der dort kommt, gleich Zeichen. Vielleicht nimmt er uns mit zum nächsten Ort.“
Gerlinde lachte wiehernd, wie es ihre Art war.
„Und an den Weihnachtsmann glaubst du auch, oder wie?“
„Ja“, murmelte Willi leise, als er sah, dass der Wagen wieder ein großer Lastwagen war, der seine Fahrt nicht abbremste. Im richtigen Moment, als der rasende Koloss fast auf ihrer Höhe war, gab er Gerlinde einen Stoß und sprang selbst zurück.
Der LKW hatte einen langen Bremsweg auf der nassen Straße. Das konnte Willi hören, während er sich wieder aufrappelte.
Gerlinde lag ein Stück weiter auf dem Asphalt. Wie ein weggeworfenes Kleiderbündel sah sie aus. Die Weste hatte sie noch in ihrer Hand.
Der LKW war etwa auf der Höhe des Warndreiecks zum Stehen gekommen, aber noch stieg niemand aus.
Ein PKW näherte sich langsam der Unfallstelle und hielt an. Zwei junge Männer stiegen aus. Einer ging zum Kleiderbündel. Einer kam auf ihn zu und legte ihm vorsichtig eine Hand an die Schulter. Fragte, ob er verletzt sei.
Willi war okay.
Er war nun frei.
Aber um zu beweisen, dass er unter Schock stand, wiederholte er noch auf der Trage im Rettungswagen regelmäßig nur einen Satz.
„Wir waren auf dem Weg nach Friedrichstadt.“