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Kapitel zwei

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Das Erdgeschoss des Hauses war zu einem Meer aus Kisten und Koffern geworden. Ich war erstaunt, wie viel Zeug dort lag. Nach der »Keine-Autos-erlaubt-Politik« von Fire Island musste alles vom Dock per Handwagen zu den Häusern gebracht werden. Es war nicht förderlich, viele Sachen mitzunehmen. Tanner hatte mich gewarnt, sodass ich nur einen Rucksack mit meinem Laptop und einen Koffer voller Kleider mitgebracht hatte. So ziemlich alles andere, was ich besaß, war in der Autowerkstatt eingelagert, die nach dem Unfall Karosseriearbeiten an meinem Auto durchführte. Ich hatte ein paar Mal für den Besitzer gearbeitet und er hatte gesagt, es mache ihm nichts aus, meine Sachen über den Sommer hinweg aufzubewahren.

Tanner und ich gingen um die Kisten herum, als wir uns auf den Weg in die Küche machten. »Wie haben die den ganzen Scheiß hierher bekommen?«, fragte ich.

»Diese Kinder am Dock mit den Wagen sind wie Inselpagen. Sie schleppen dein Zeug für ein paar Dollar. Außerdem besitzt Suzanne einen dieser großen Wagen, die auf dem Parkplatz am Dock standen.«

Verrückt. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwo leben würde, wo es keine Autos gab. Es war cool, aber ich musste mich erst daran gewöhnen. Seit dem Unfall hatte ich es schon schwer genug, ohne Auto zu sein. Ich hoffte wirklich, dass ich diesen Sommer genug Geld verdienen würde, um die Kosten für die Reparaturen zu decken, die ich selbst nicht durchführen konnte.

Die Küche war der bei weitem größte Raum im Haus, offen und hell, mit Fenstern entlang einer ganzen Wand und einem Schieberegler zu einer großen Terrasse, die sich um zwei Seiten des Hauses wand. Die Schränke waren alt und weiß gekalkt, aber die Arbeitsplatten sahen neu, schwarz und glänzend aus. Marmor oder Granit. Alle Geräte waren aus Edelstahl und sahen auch ziemlich neu aus. Reihen von Töpfen, Pfannen und Schüsseln bedeckten die Regale, die eine der kürzeren Wände auskleideten. Irgendjemand hier musste wohl gern kochen.

Ich spannte mich an, als wir den Raum betraten. Wir würden hier einen ganzen Sommer verbringen, mit all diesen Leuten, die ich nicht kannte. Was, wenn sie mich nicht mögen? Was, wenn Tanner sich irrt, was ihre Offenheit angeht?

Eine Frau in abgeschnittenen Jeans und einem schwarzen Tank-Top stand auf einem Tritthocker und holte Krüge aus dem Schrank über dem zweitürigen Kühlschrank. Ihr braunes Haar war zu einem behelfsmäßigen Dutt zusammengedreht und wurde von etwas gehalten, das wie eine Heftklammer aussah. Sie zog eine Grimasse, als sie versuchte, weiter in den Schrank zu greifen.

»Brauchst Hilfe?«, fragte Tanner.

Sie drehte sich zu ihm um und grinste breit. Sie hatte die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie leuchteten auf, als sie vom Hocker hüpfte und ihre Arme um ihn warf. »Tan-Man!«

Tan-Man? Wenn ich nicht so nervös gewesen wäre, hätte ich laut gelacht.

»Hey, Suzie-Q.« Er umarmte sie fest und hob sie vom Boden.

Sie gab ihm einen lauten Knutscher auf die Wange, dann richteten sich ihre blauen Laserstrahlen auf mich, aufmerksam, prüfend. Mein Herz klopfte Morsezeichen gegen meine Rippen. Ihr warmes Lächeln kehrte zurück. »Du musst Collin sein.«

»Schön, dich kennenzulernen.« Ich streckte meine Hand aus, aber sie ignorierte es und umarmte mich direkt.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mich fest, während ich ihr nervös auf den Rücken klopfte, als hätte ich noch nie zuvor jemanden umarmt. »Willkommen. Wir sind so froh, dass du hier im Irrenhaus den Sommer verbringst.«

Im was? »Irrenhaus?«

Tanner kicherte. »Ihr Nachname ist Irley, also ist dies offiziell das Irrenhaus.«

»Je verrückter, desto besser.« Hinter mir erklang eine tiefe, melodische Stimme.

»Bryan.« Tanner streckte eine Hand aus und der Typ nahm sie und zog ihn in eine einarmige Umarmung.

Er hatte blaue Augen, die zu den Augen der Frau passten, nur dass seine Augen mit Guy-Liner umrandet und zur Hälfte mit gefärbten schwarzen Ponyfransen bedeckt waren. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, den ich als atemberaubend bezeichnet hätte – bis zu diesem Moment. Seine Schwester hatte eine natürliche Schönheit, hohe Wangenknochen, eine schlanke Nase, kein Make-up oder Schmuck – nur sie. Bryan hatte die gleichen Gesichtszüge, aber verstärkt. Stärker modelliert, dickere Brauen, rötere Lippen, eckigerer Kiefer, Ohren mit kleinen Ringen besetzt, Arme mit Tätowierungen bedeckt.

Seine Augen verengten sich, als er mich ansah, und das helle Blau wurde dunkler. »Du musst der Freund sein.«

Meine Wangen erhitzten sich, bevor ich antworten konnte. Tanners Hand strich leicht über meinen Rücken. Selbst diese kurze Sekunde des Kontakts beruhigte mich. Er gestikulierte zwischen uns. »Bryan, das ist Collin. Collin, das ist Suzies launischer Bruder.«

Bryan lachte und schüttelte mir die Hand. »Willkommen.«

»Danke.« Ich zwang mich, normal zu atmen.

»Nett«, murmelte er und zwinkerte Tanner zu, als er an uns vorbei ging.

Mein Gesicht brannte heißer.

Tanner trat näher, sein Atem war sanft an meinem Ohr. »Entspann dich«, flüsterte er, »du machst das toll.«

Ich liebe dich. Ich dachte so stark an diese Worte, dass ich sicher war, er könnte sie telepathisch empfangen. Und es war wahr. Ich liebte ihn mehr, als ich sagen konnte. Mehr als ich jemals jemanden geliebt hatte. Was mich immer noch zu Tode erschreckte.

»Etwas Hilfe hier?« Die Glasschiebetür knallte auf, als sich zwei Jungs mit einer riesigen Eistruhe und einer darauf balancierten Milchkiste hineinkämpften.

Ich war am nächsten an der Tür, also schnappte ich mir die Kiste von oben. Sie war voller Lebensmittel. Ahornsirup, Beutel mit Mehl und Zucker, Schachteln mit Nudeln. Kein Wunder, dass sie zu kämpfen hatten – die Kiste wog allein mindestens dreißig Pfund. Gott weiß, wie viel die Kühlbox mit zwei Griffen wog.

»Danke, Kumpel«, sagte der ältere Typ.

»Kein Problem.«

Der Typ, der mir gedankt hatte, war Bill, Suzannes Ehemann. Er schien so bodenständig und freundlich wie sie zu sein, lässig gekleidet in Boardshorts und einem abgetragenen T-Shirt. Er küsste sie mit einem süßen, natürlichen Kuss, der dem ganzen Raum irgendwie verkündete, wie verliebt sie waren. Ich lächelte nur, als ich sie zusammen beobachtete.

Der andere musste Dex sein. Ich hatte Wendy so oft von ihm sprechen hören, dass ich mir ein geistiges Bild von ihm gemacht hatte, ohne es überhaupt zu merken, und der kurzhaarige Tommy Hilfiger, den ich sah, entsprach nicht im Entferntesten meinen Erwartungen. Wendy war so sprudelnd und temperamentvoll, wildes Haar, das in alle Richtungen floss, ein riesiger Geldbeutel, der immer kurz davor war, aus den Nähten zu platzen. Dieser Kerl sah aus, als ob er auch mitten in einem Monsun kein einziges Haar verirrt tragen würde. Er hätte leicht auf der Titelseite von allem von GQ bis zu einem J. Crew-Katalog abgebildet sein können. Alles von seinem Haarschnitt bis zu seinen Schuhen schrie nach Geld.

Suzanne übernahm diesmal die Vorstellung, dann waren alle damit beschäftigt, die Kühlbox auszupacken und die Krüge zu füllen, um Limonade und Eistee zu machen. Alle außer Dex. Er nickte ein kühles Hallo, dann setzte er sich auf den Fensterplatz und scrollte auf seinem Telefon herum.

»Hey, nicht anheben.« Bill nahm die Kiste, die Suzanne hochgehoben hatte, vom Boden auf.

Sie rollte mit den Augen und lächelte dann. Ich erkannte den Blick, der zwischen ihnen hin und her ging. Ich hatte ihn jedes Mal auf Seans Gesicht gesehen, wenn seine Frau Laura schwanger gewesen war: besorgt und stolz zugleich. Mein Bauch krampfte sich zusammen. Dies würde der erste Sommer ihres Lebens sein, in dem ich meine Nichten und meinen Neffen nicht sehen würde.

Das letzte Mal, als Sean und ich gesprochen hatten, hatten wir uns gestritten. Er wollte, dass ich mit meiner Mom rede. Um »die Dinge wieder in Ordnung zu bringen«. Und er wollte nicht über meine Beziehung zu Tanner sprechen. Er war nicht so außer sich, wie Quinn es gewesen war. Er hatte mir nicht gesagt, dass ich Unrecht hatte, oder mich zur Hölle verdammt oder sogar verleugnet. Aber er hatte mir auch nicht zugehört. Er wollte nur Frieden schaffen, wo Frieden nicht möglich war. Es sei denn, ich wäre bereit, Tanner zu vergessen. Zu vergessen, was ich wollte, und zu ändern, wer ich war. Drei Dinge, zu denen ich in keiner Weise bereit war. Ich hatte zu lange damit verbracht. Ich war fertig. Auch wenn das bedeutete, keine Familie mehr zu haben.

»Okay, alle mal herhören«, sagte Bill und schlang von hinten seine Arme um Suzanne. »Wir haben eine kleine Ankündigung zu machen und sie betrifft euch alle.«

Tanner hörte auf, Getreideschachteln in der Speisekammer zu stapeln, Maggie hörte auf, in ihrem Krug zu rühren, und Dex sah zum ersten Mal, seit er das Haus betreten hatte, von seinem Telefon auf.

Suzannes Gesicht errötete, als sie Bills Hände rieb und ihren Bauch umarmte. »Wir sind schwanger.«

Der Raum schwirrte vor Glückwünschen aller Anwesenden. Ich hatte es gewusst. Ich vermisste mein Zuhause, aber es erwärmte mich, in diese Ankündigung einbezogen zu werden. Sie sahen so wahnsinnig glücklich aus und strahlten sich gegenseitig an.

Bryan grinste seine Schwester an. »Ich bin so froh, dass du mich endlich zur Tante machst.«

Sie schnappte sich das Geschirrtuch vom Tresen und schlug ihn damit. »Trittbrettfahrer. Du schuldest mir jahrelanges Babysitten.«

»Mit Vergnügen. Ich werde Junior seinen ersten Ohrring schenken.«

»Und wenn es ein Mädchen wird?«

»Dann werd ich mit ihr zu ihrem ersten Tattootermin gehen.«

Suzanne knurrte ihn an, aber es war klar, wie nahe sie sich standen. Meine Bauchschmerzen kehrten zurück.

»Wie auch immer«, sagte Bill. »Das ändert unsere Pläne für den Sommer ein wenig. Wir werden nicht mehr ganz so oft hier draußen sein, weil wir unser Haus für das Baby vorbereiten müssen. Und ihr müsst ein bisschen mehr als sonst beim Kochen und Putzen mithelfen.«

»Nein, müsst ihr nicht«, sagte Suzanne. »Wir machen den Zeitplan genau wie letzten Sommer. Alle wechseln sich ab. Wir werden nur etwas weniger hier sein, also müsst ihr das berücksichtigen.«

Tanner hatte bereits eifrig Linien auf die riesige Tafel an der Wand hinter dem langen Küchentisch im Stil einer Küchentabelle gezeichnet. Er schrieb Frühstück, Mittag- und Abendessen in die Zeilen und die Wochentage in die Spalten. Für welche Mahlzeiten man sich auch immer anmeldete, man musste sicherstellen, dass die Zutaten für diese Mahlzeit im Haus war – selbst wenn man bei dieser Mahlzeit nicht anwesend sein würde. Das hieß, wenn man an einem Tag, an dem man morgens arbeitete, für das Frühstück verantwortlich war, musste man dafür sorgen, dass es Donuts oder Muffins oder etwas anderes für alle anderen zu essen gab. Das erschien vernünftig.

Ich hatte die ganze Zeit, die wir in der Küche waren, nicht mehr als zwei Worte gesagt, also fragte ich etwas, das ich mich schon gefragt hatte, seit wir von der Fähre gestiegen waren und unser Gepäck die halbe Meile oder so zu unserem Haus geschleppt hatten.

»Wie kann man hier einkaufen?«

»Ich zeige es dir«, sagte Tanner und deutete auf den Fahrplan. »Wir haben heute Abend Dinnerdienst, also holen wir jetzt unsere Sachen.«

»Perfekt«, sagte Suzanne. »Nur kein Hühnchen, okay? Das ist das Einzige, womit ich nicht klarkomme. Anscheinend kann dieses Baby kein Geflügel vertragen, nicht einmal den Geruch, wenn es kocht.«

»Ich hab’s kapiert.« Tanner nickte. »Bist du bereit?«

»Klar doch, Tan-Man.«

Er schnaubte und versuchte, verärgert auszusehen, aber ich sah das Lächeln, das seine Lippen kräuselte. »Halt die Klappe.«

Ich grinste und folgte ihm zur Tür hinaus. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hinwollten, aber ich wäre Tanner überallhin gefolgt.

Der Moment der Wahrheit

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