Читать книгу Reise durch den Alltag - Karin Schiller - Страница 5
Der negative Ölfleck
ОглавлениеWenn ich ein schlechtes Erlebnis habe, tue ich immer so, als hielte ich das problemlos aus. Ich benehme mich, als würde mich das Erlebnis nicht mehr berühren, als es für alle Beteiligten um mich herum als angemessen gilt.
Zu Beginn dieses neu erlangten Bewusstseins war ich der Überzeugung, dass ich andere nicht mit meinen Gefühlen belasten möchte, was in ganz seltenen Fällen auch bestimmt zutreffend war. Der wahrhaftige Grund liegt jedoch darin, dass ich mich nicht öffnen möchte. Ich mag es einfach nicht mein Innenleben mit jemandem zu teilen, der nicht imstande ist mich zu begreifen. Ich ertrage es nicht, wenn jemand verkrampft versucht Verständnis aufzubringen.
Es gibt einfach Situationen, die einfach nicht verstanden oder begriffen werden können. Sie können nur gefühlt werden und Gefühle können nicht einfach in Worte gefasst werden. Das ist, als würde man Wasser mit einem Teefilter einfangen wollen.
Wenn ich nun etwas Schreckliches erlebe, fühlt es sich für mich an wie ein Ölfleck auf einer Serviette. Er wird freigelassen und breitet sich langsam und stetig aus. Man kann es nicht abschütteln oder wegignorieren. Der Fleck ist da und er wächst. Irgendwann hat er seine volle Größe erreicht und ist einfach da. Irgendwann gerät er in ein Hinterstübchen meines Gedächtnisses, verschwindet aber erst nach unermesslich langer Zeit und in manchen Fällen gar nicht. Es gibt auch keine Waschmaschine, in der man sein Gewissen oder seine Seele waschen kann. Das gehört in meinen Augen absolut nicht in die Kategorie “schlimm“.
Alles was ich erlebe macht mich aus und ich akzeptiere mich so wie ich bin. Ich mag mich gerne. Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht perfekt bin. Ich schimpfe oft mit mir selbst, habe in meinem Leben so viele Sachen angestellt, die ich richtig bereue. Dinge, bei denen ich es für sehr lange Zeit zugelassen habe, dass sie mich innerlich auffressen. Es hat viele Jahre und viele weitere Erlebnisse, Eindrücke und Interaktionen gebraucht, bis ich mir selbst verzeihen konnte – doch ich habe mir verziehen. Die ganzen schlimmen Dinge die ich getan habe, habe ich als das erkannt, was sie sind. Lektionen. So lange ich aus einer Situation etwas lerne, hat sie ein Recht und einen Grund für ihre Existenz.
Jene Geschehnisse die mich am härtesten getroffen haben und immer noch treffen, sind jene in welchen ich einen anderen Menschen wehgetan habe. Es wäre eine Lüge, wenn ich behauptete, dass das noch nie mit Absicht geschehen ist. Manche Male war es mir im Vorfeld überhaupt nicht bewusst, welche Folgen mein Handeln hatte. Menschen die ich in meinem Herzen trage und bei denen ich das Bedürfnis habe, dass sie dableiben, haben alle so viel Kraft aufgebracht mir zuzuhören und mich erklären zu lassen.
Mittlerweile habe ich gelernt damit umzugehen, wenn ein Mensch böse auf mich ist. Ich rede jetzt nicht von berechtigtem oder unberechtigten Zorn - das sei dahingestellt – ich lasse den Menschen auf mich zukommen.
Wenn er möchte, doch lediglich, wenn er es wirklich möchte, lege ich ihm alles von meiner Seite aus offen. Schlussendlich liegt es bei dieser Person, ob sie mir nun verzeiht oder nicht. Wenn ein Mensch mir nicht verzeihen kann muss ich.
Es liegt nicht an mir, Deine Gefühle zu steuern. Das kannst Du ja auch nicht mit mir machen. Wenn Du es brauchst, lange böse auf mich zu sein, dann soll das auch so sein. Das liegt ganz bei Dir. Das ist ein Gefühl, mit dem Du klarkommen musst. Mein Leben geht in der Zwischenzeit weiter. Nicht weil es mir gleichgültig ist, keinesfalls, aber ich werde keine Energie oder Zeit dafür aufbringen Dinge ändern oder beeinflussen zu wollen, die ich ganz einfach nicht beeinflussen oder verändern kann.
Wenn ein Mensch Platz in meinem Herzen hat, dann hat er ihn, auf Dauer und kein Mensch auf dieser Welt kann etwas daran ändern. Eine Person vermag es mich aus ihrem Herzen zu verstoßen. Wem ich einen Platz in meinem Herzen anbiete, entscheide ich allein. Wenn mir etwas Schlimmes widerfährt, löst das in mir nicht immer das gleiche aus. Es kommt darauf an, um wen es geht und um was es sich handelt. Generell komme ich schneller über Ereignisse hinweg, die mit Dingen zu tun haben.
Wenn Menschen im Spiel sind, sieht die Sache schon ganz anders aus. Ist es ein völlig fremder Mensch, der mir Kummer bereitet, dann bin ich imstande mit der Sache ganz resolut umzugehen. Ich distanziere mich, betrachte die Situation von außen und mache in meinem Kopf eine Liste von Schritten, die ich unternehmen werde.
Es kommt in diesem Falle auch vor, dass ich die Sache einfach verdampfen lasse. Die Erfahrung ist alles was mir davon bleibt.
Ein praktisches Beispiel: Ich schneide einer Frau den Weg ab und sie hupt wiederholt, kurbelt das Fenster runter und beschimpft mich als Hure. Das nächste Mal werde ich besser aufpassen. Das ist die Lektion die ich mitnehme. Das Schimpfwort nehme ich nicht mit.
Menschen werden - was Kraftausdrücke angeht - sehr kreativ. Sie benutzen es als Ventil. Wenn bei einem Teekessel der Druck zu hoch wird, schießt Wasserdampf heraus, sonst würde er platzen. Bei den Menschen ist das genauso. Es kann durchaus vorkommen, dass dich dieser Wasserdampf verletzt, doch die Wunde verheilt wieder. Wenn dir ein Teekessel öfter so ein Problem bereitet, dann fragst Du Dich wo das Problem liegen könnte. Zu welchem Schluss Du kommst, ist Deine Sache. Das gilt also für völlig fremde Menschen. Was aber, wenn Du den Menschen gut kennst? Auf welchen Weg hat er mich geführt, dass ich nun ein Gefühl in mir trage, welches mir nicht behagt? Trauer, Ärger, Schmerz, Wut, Enttäuschung, Erschöpfung?
An dieser Stelle möchte ich äußern, dass diese Gefühle, wenn sie mit Mitgefühl verbunden sind, anders von mir verarbeitet werden als jene, die direkt an meine Person gerichtet sind. Teilt ein mir wichtiger Mensch eines dieser Gefühle mit mir, glaube ich manchmal, sie auch spüren zu können. Es liegt in der Natur der Dinge, dass ich sie nicht ansatzweise so intensiv und facettenreich erlebe, wie der Mensch selbst. Das ist nicht möglich. Ich lasse die Person wissen, dass sie mit mir reden kann, wenn sie es wünscht, lasse sie es aber auch spüren, wenn ich das nicht möchte oder kann. Bei Menschen die ich liebe kommt das nicht vor. Bei Menschen die ich liebe, ertrage ich es nicht, wenn sie sich mir nicht anvertrauen. Dennoch ist es ihr Recht und ich werde den Teufel tun und in solchen Situationen mein Bedürfnis über das ihre stellen. Ein Mensch braucht eine gewisse Menge an Energie, um eine schlimme Situation zu bewältigen. Meinen Willen nach Kommunikation aufzudrängen liegt mir jedoch fern.
Habe ich ein Problem, über welches ich sprechen möchte, werde ich mich mit absoluter Gewissheit nicht an Menschen wenden, die mich nicht begreifen. Nein, ich wende mich an Menschen, bei welchen ich meine Gefühle gut aufgehoben weiß. Solche Menschen sind selten. Man kann sie nicht bestellen und sie sind wertvoller als alles was ich mir vorstellen kann. Um ein „Du bist meiner Gefühle würdig“ - Status zu erreichen, braucht man Zeit. Diese Zeit kann man nicht in Minuten, Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren ausdrücken, sondern in Erlebnissen.
Nun erzähle ich was geschieht, wenn ein mir wichtiger Mensch mir weh tut. Die Länge der Phasen und ihre Intensität nehmen zu, je mehr Platz er in meinem Herzen hat. In meinem Kopf habe ich ein ganz bestimmtes Beispiel.
Wenn ich diesen Text in fünf, zwanzig oder siebzig Jahren nochmal lese, weiß ich immer noch welches Ereignis gemeint ist. Ich habe damals einen Brief an die Person geschrieben, habe ihn aber nie abgeschickt oder persönlich übergeben. Er liegt in einer Schachtel, zusammen mit einigen Briefen an mich selbst und einen an meinen zukünftigen Ehemann, sollte ich je einen haben. Ich habe der Person längst verziehen und wir haben viel Neues miteinander erlebt, was diese Situation in ein neues Licht gestellt hat. Aber der Ölfleck ist noch da. Er existiert. Er bestimmt aber nicht mein Leben.
Die erste Phase ist einfach nur ein Schockzustand. Wie gelähmt fühle ich mich. Ich stehe oder sitze oder liege regungslos da, wo ich gerade bin. Wie lange das dauert ist nicht leicht zu sagen, ich stoppe schließlich nicht die Zeit. In dieser Phase ist es mir ganz wichtig, dass mich niemand unterbricht. Falls das jemand macht, gerät das was er oder sie ausspricht komplett in Vergessenheit.
Wenn ich an solche Phasen zurückdenke, kann ich mich höchstens daran erinnern, dass ich unterbrochen worden bin, aber nicht worum es ging. Manchmal kann ich mich nicht einmal an den Störenfried erinnern. Wie paralysiert verharre ich also in dieser Schockstarre, ohne zu begreifen was gerade geschehen ist. Worte, Menschen und Gesichter verschwimmen und verschwinden in einem Strudel und mein Kopf, meine Seele und mein Herz sind für einen Bruchteil einer Sekunde wie leergefegt.
Anschließend tritt der Schmerz ein. Schmerz - einfach nur Schmerz. Meine Seele schmerzt. Dies kann auch mit physischen Schmerzen einhergehen. Wenn ich es schaffe, dann weine ich, bis mir die Augen wehtun. Wenn nicht, was sehr oft der Fall ist, schmerzt es innerlich wesentlich stärker und hält auch länger an. Tausende Fragen wirbeln durch meinen Kopf. Es kommen in dieser Phase auch Fragen auf, die sehr weit hergeholt sind. Eine davon ist, ob ich es überhaupt wert bin, dass mich jemand liebt.
In diesem Moment ist mir rationales Denken fremd, was man an meinen Gedanken und Aussagen bemerkt. Manieren und Logik werden über Bord geworfen. Es vermischen sich Trauer und Verzweiflung, bis langsam Wut daraus entsteht. Wut auf mich selbst, auf die Welt, auf die Person, welche mir wehgetan hat. In dieser Situation genau zu differenzieren fällt mir schwer. In der Zukunft kommt es dann zu einem Gespräch mit besagter Person und von da aus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, welche sehr zahlreich sind. Jede ist der Beginn eines anderen Weges. Welchen Weg ich nun einschlage, erklärt mir nicht der Verstand. Er glaubt manchmal mitreden zu dürfen, doch am Ende ist seine Meinung jene, auf die ich am wenigsten höre.
Deshalb nervt es mich tierisch mich anderen mitzuteilen, weil ich - wenn ich es tue - ein Risiko eingehe. Im allerschlimmsten Fall, kann dann so ein Prozess mit einer weiteren Person von vorne losgehen. Menschen wollen dir helfen Herzensangelegenheiten mit Vernunft zu lösen. Das geht nicht. Es geht einfach nicht! Und so sehr mich gewisse Dinge treffen, unter anderem auch Verlust, so bin ich froh, dass ich solche starken Gefühle empfinden kann. Jedes hat einen Grund warum es existiert.
Trauere ich, muss ich alleine sein, da ich nicht wahrhaftig trauern kann, wenn andere Menschen anwesend sind. Ich kann gut zuhören, ohne etwas zu sagen. Einfach nur zuhören, aber jemanden zu haben der dies auch für mich erwidert, ist nahezu unmöglich. Wenn ich etwas sage, was mich beschäftigt, muss sich mein Zuhörer nicht unbedingt immer äußern. Es genügt, wenn er oder sie auch nur dasitzen, stehen oder was auch immer.
Was ich absolut nicht ertrage ist, wenn jemand in einer solchen Situation Körperkontakt zu mir herstellt. Ich schaffe es dann nicht meine Tränen zurückzuhalten. Vor anderen zu weinen ist über alle Maßen unangenehm für mich. Soweit meine Erinnerung zurückreicht, ist dies lediglich drei Male vorgekommen.
Bei zwei Malen war es so, dass sich Tränen aus meinen Augen gerungen haben und ich den Kampf verloren habe. Ich konnte mich jedoch zurückhalten, indem ich nicht zu schluchzen begonnen habe. Ich hätte aufstehen können um zu gehen, doch ich brauchte meine Kraft dazu, um meine Fassung zu bewahren so gut es den Umständen entsprechend ging. Einmal war es so, dass ich nach dem Geschehenen, meiner Wege gehen musste. Die Arbeit rief. Für kurze Zeit bildete ich mir tatsächlich ein, nicht weinen zu müssen, doch als ich das Auto zuhause abgestellt hatte, fing ich an so laut zu schluchzen, dass ich mich vor mir selbst fürchtete. Ich rief meine Mutter an, welche den Hörer an meinem Vater übergab, als sie keine Antwort von mir herausbekam. Sofort gingen sie davon aus, dass ich mit meinem Auto in einen Unfall verwickelt worden war. Als ich irgendwann meine Sprache wiederfand, erzählte ich ihnen, was vorgefallen war. In ihren Augen war es nicht schlimm und so war das Problem gelöst. Geholfen hat mir das nicht.
Das meinte ich damit, dass es ein Risiko ist, mich anderen mitzuteilen. Antworten, die alles noch schlimmer machen, sind das was ich in solchen Augenblicken erhalte. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ist mir klar, dass andere Menschen nicht dafür verantwortlich sind mit meinen Gefühlen umzugehen, doch wenn ich in so einer überaus verletzlichen Situation bin und ich wende mich aus reiner Verzweiflung an einen Menschen, der mich nicht so ernst nimmt, wie ich es gerade brauche, dann gute Nacht schöne Gegend. Wenn sich jemand derart verzweifelt an mich wendet, kommt es je nach Situation vor, dass ich Fragen stelle. Fragen, um zu verstehen, ob ich die Situation richtig erfasst habe. Fragen, um dem Menschen das Gefühl zu geben, dass ich ihn ernst nehme.
Wie bereits erwähnt, kann Schweigen ebenfalls durchaus eine akzeptable Methode sein. Mitgefühl begrüße ich, kann es jedoch nicht ertragen, bemitleidet zu werden. Das ist schlimm für mich.
Eine Beleidigung in meinen Augen.