Читать книгу Zum Einklang finden mit sich und den anderen - Karin Seethaler - Страница 10
Оглавление2. Meine Gedanken bemerken
Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten. (Volkslied)
Jeder Gedanke, dem wir eine Bedeutung geben, indem wir mit der Aufmerksamkeit bei ihm bleiben, hat eine Wirkung auf uns, auf unsere Beziehungen, auf unser Lebensgefühl und auf unser Leben als Ganzes. In einem großen Maße ist auch die Beziehung zu uns selbst davon abhängig, wie wir über uns denken. Eine vielzitierte Weisheit bringt die Macht der Gedanken und ihre Konsequenzen für unser Leben zum Ausdruck:
Achte auf Deine Gedanken,
denn sie werden zu Gefühlen.
Achte auf Deine Gefühle,
denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte,
denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen,
denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten,
denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter,
denn er wird Dein Schicksal.11
Der Umgang mit den Gedanken beschäftigte bereits die Mönchsväter. Ein Bruder kam zum Altvater Poimen und sagte: „Vater, ich habe vielerlei Gedanken und komme durch sie in Gefahr.“ Der Altvater führte ihn ins Freie und sagte zu ihm: „Breite dein Obergewand aus und halte die Winde auf! “ Er antwortete: „Das kann ich nicht!“ Da sagte der Greis zu ihm: „Wenn du das nicht kannst, dann kannst du auch deine Gedanken nicht hindern, zu dir zu kommen. Aber es ist deine Aufgabe, ihnen zu widerstehen!“12 Der Altvater verwies auf die Tatsache, dass Gedanken wie der Wind von selbst kommen. Der Bruder konnte dies nicht verhindern. Er besaß jedoch die Fähigkeit, den Gedanken zu widerstehen.
In der Stille werde ich mir gewahr, d. h. bewusst, wie viele Gedanken in mir auftauchen, die weder nötig noch nützlich sind. „Widerstehen“ bedeutet in der Meditation, die Gedanken, die ins Bewusstsein treten, weder zu unterdrücken noch zu bewerten oder zu versuchen, sie irgendwie zu bekämpfen – mögen sie nun aus menschlicher Sicht gut oder schlecht, erhebend oder bedrückend sein. Sie sind Teil meiner menschlichen Realität und gehören zu mir wie der Wind zur Natur. Sobald ich jedoch bemerke, dass ich in Gedanken bin und meine Aufmerksamkeit auf Zukünftiges oder Vergangenes gerichtet habe, führe ich sie zurück zum Hier und Jetzt. Die konkrete Wahrnehmung meines Atems und/oder meiner Hände ist mir dabei eine große Hilfe. Sie bindet meine Aufmerksamkeit wieder neu an die Gegenwart. So bin ich in Kontakt mit mir selbst und lausche auf den Namen Jesus Christus, den ich innerlich spreche. Von Augenblick zu Augenblick komme ich immer wieder sanft zu dieser Verbindung zurück und erfahre, wie flüchtig meine Gedanken sind, die in sich keinen Bestand haben.
Im Alltag sind Gedanken einerseits wichtig und notwendig, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Hier sind wir froh und dankbar über einen klaren Verstand und um die Fähigkeit zu denken. Unser Verstand produziert andererseits jedoch auch im Alltag viele Gedanken, die wir gar nicht haben wollen und für die konkreten Situationen auch gar nicht brauchen.
Ich achte auf meine Gedanken. Wenn ich sie bemerke, kann ich auf überflüssige Gedanken Einfluss nehmen, indem ich meine Aufmerksamkeit dann bewusst auf etwas Konkretes richte. Die großen und kleinen alltäglichen Aufgaben, die ich mit Achtsamkeit ausführe, führen mich immer wieder zur Gegenwart zurück. Unerwünschte Gedanken können in dieser Weise mehr und mehr in den Hintergrund treten.
2.1 Unterscheidung der Gedanken
Das Glück deines Lebens hängt von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab. (Marc Aurel)
In der Meditation öffne ich mich für die Erfahrung der Gegenwart Gottes. Dieses Erleben ist frei von intellektuellen Aktivitäten. Da Gott nicht in meinen Gedanken zu finden ist, brauche ich mich nicht weiter mit ihnen zu beschäftigen, d. h., ich analysiere und bewerte meine Gedanken nicht. Ich wende mich stattdessen von ihnen ab und der Gegenwart und dem Namen Jesu zu.
Im Alltag ist es nicht möglich, mich beständig von meinen Gedanken abzuwenden. Hier geht es vielmehr darum, darauf zu achten, welchen Gedanken ich meine Aufmerksamkeit gebe und was diese in mir bewirken. Ich möchte dies mit einem Beispiel veranschaulichen. Ich sitze in einem Zug, von dem ich weiß, dass er mit einer halben Stunde Verspätung am Zielort eintreffen wird. Diese Situation ruft entsprechend viele Sorgen in mir hervor: Wie informiere ich meinen Arbeitskollegen? Wie komme ich schnellstmöglich vom Bahnhof zum Arbeitsplatz? Warum muss es ausgerechnet jetzt diese Verspätung geben? etc. Um die unangenehmen Konsequenzen dieser Verspätung so gering wie möglich zu halten, werde ich aktiv: Ich rufe meinen Arbeitskollegen an und bitte darum, mit der Besprechung eine halbe Stunde später zu beginnen. Ich bestelle ein Taxi, um nach der Ankunft am Bahnhof gleich weiterzufahren. Damit habe ich getan, was jetzt gerade in meinen Möglichkeiten steht. Ich kann mich jedoch auch weiterhin gedanklich mit den Folgen der Verspätung beschäftigen, ohne dadurch die unangenehme Situation zu verändern oder neue Erkenntnisse hinzuzugewinnen. Auch wenn ich überzeugt bin, dass diese Überlegungen berechtigt sind, bereite ich mit ihnen den Boden für negative Gefühle in mir. Diese innere Beschäftigung kostet zudem viel Kraft, strapaziert die Nerven und ist tatsächlich überflüssig. Hier hilft mir mein Verstand, zu erkennen, dass ich an der augenblicklichen Situation weiter nichts verändern kann. Ich stimme innerlich zu: „Okay – so ist es jetzt. Ich werde eine halbe Stunde später ankommen.“ Dieses Einverständnis bewirkt, dass es ruhiger in mir werden kann. Ich höre auf, „gegen den Wind zu kämpfen“, also gegen etwas, das ich sowieso nicht mehr verändern kann. Mit meiner Aufmerksamkeit achte ich jetzt auf das, was außer den Dingen, die mich ärgern und stören, noch da ist. Ich kann meine Aufmerksamkeit zum Beispiel auf die vorbeiziehende Landschaft richten und sie auf mich wirken lassen oder auf ein Buch oder eine Zeitung, die ich mir mitgenommen habe. Vielleicht schließe ich auch einfach nur meine Augen und achte darauf, wie mein Atem kommt und geht. Die Wahrnehmung meines Atems führt mich nach innen. Allmählich kann ich den Namen Jesu mit dem Rhythmus meines Atems verbinden.
„Wehret den Anfängen“ bedeutet für den spirituellen Weg, sich von Anfang an bewusst zu sein: Ich habe eine Wahl. Ich kann darüber entscheiden, welchen Gedanken ich meine Aufmerksamkeit gebe und welchen nicht. Von Gedanken, die mir nicht weiterhelfen, wende ich mich konsequent ab und stattdessen etwas Konkretem zu. Die entschlossene Rückführung der Aufmerksamkeit zu dem, was im Hier und Jetzt dem Leben dient, ist eine beständige Aufgabe, die meinem Alltag gleichzeitig eine klare Orientierung gibt.
2.2 Umgang mit negativen Gedanken
Man muss sich durch die kleinen Gedanken, die einen ärgern, immer wieder hindurchfinden zu den großen Gedanken, die einen stärken. (Dietrich Bonhoeffer)
Es gibt chronische, tief verwurzelte negative Gedanken, die immer und immer wieder kommen, wie zum Beispiel: „Das kannst du sowieso nicht!“ „Die anderen sind viel besser als du! “ „Keiner liebt mich wirklich! “ „Das geschieht dir recht!“ „Du bist selbst schuld!“ Ihr Ursprung reicht oft bis in die Kindheit zurück. Diese Gedanken ziehen viel Lebenskraft und Lebensfreude ab. Das beständige Kreisen um negative Gedanken bewirkt eine Unruhe und Unzufriedenheit, macht unglücklich oder sogar krank. Es belastet zwischenmenschliche Beziehungen und auch die Beziehung zu mir selbst. Außerdem lenken sie die Aufmerksamkeit tragischerweise zu den Aspekten, die diese Meinungen zusätzlich noch bestätigen, und können blind machen für das Gute und Schöne, das auch da ist. In dieser Weise wirken sie unbewusst in destruktiver Weise in mein Denken, Fühlen und Tun hinein. Ich halte die negativen Gedanken für die Wirklichkeit. Diese ist jedoch immer sehr viel größer als all meine Gedanken, und die eigene Sichtweise ist stets nur ein Ausschnitt von ihr. Man könnte meinen, die Lösung sei doch eigentlich ganz einfach: Ich denke diese Gedanken einfach nicht mehr! Aber Gedanken, denen man in dieser Weise zu widerstehen versucht, drängen sich umso vehementer auf.
Um hartnäckigen Gedanken zu widerstehen, muss man entschlossen etwas entgegensetzen. Magda Hollander-Lafon, die als 16-Jährige nach Auschwitz deportiert worden war und überlebte, hat sich ganz bewusst den hartnäckigen, negativen Gedanken widersetzt, die sie – auch nach ihrer Befreiung – am Leben zu hindern versuchten. „Ich schnitt farbige Pappstückchen aus und malte darauf jeden Tag in Großbuchstaben einen Zuspruch: ‚Magda, du schaffst es‘, ‚Das Leben will angestrahlt werden‘, ‚Glaube an dich‘, ‚Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‘, ‚Wenn dich jemand kleinmachen will, schau weg‘. Ich behielt die Sprüche in meiner Tasche und tastete nach ihnen, wenn ich den Mut verlor.“13
Negative Gedanken können aber bereits durch banale Unannehmlichkeiten in uns ausgelöst werden: Die Wartezeit beim Arzt ist zu lang, die Steuernachzahlung zu hoch, der Handytarif zu kompliziert, die Parkplatzgebühren zu teuer, die Warteschleife für eine telefonische Auskunft zeitraubend und der Arbeitskollege war wieder einmal so rechthaberisch. Man kann sich in diese negativen Situationen und Gegebenheiten durchaus hineinsteigern und sie dramatisieren. Besonders Gruppen können dafür anfällig sein, sich gegenseitig in negativer Weise zu bestätigen, indem man über andere schimpft und sie kleinmacht. Solche Situationen bezeichnet man religiös als Versuchung. Erliegt man ihnen im Alltag, breiten sich die negativen Gedanken immer mehr aus und trüben schließlich das Gemüt entsprechend ein. Denn „auf Dauer nimmt die Seele die Farbe deiner Gedanken an“ (Marc Aurel).
Aufbauende Gedanken, die ermutigen und Kraft geben, sind religiös bedeutsam. Gott, der ein Gott des Lebens ist, fordert dazu auf, das Leben zu wählen. „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“ (Dtn 30,19). Im Alltag bin ich aufgefordert, mich in meinem Denken und Tun beständig neu für das Leben zu entscheiden. Die konkrete Umsetzung dieser Aufforderung beginnt damit, mich für aufrichtende, stärkende und ermutigende Gedanken zu entscheiden, die mich und andere in ihrer Würde achten. Dies hat nichts damit zu tun, Schwierigkeiten zu ignorieren. Vielmehr hat es mit einer bewussten Entscheidung zu tun. Religiös zu leben heißt, sich für das zu entscheiden, was dem Leben dient und was Sinn stiftet – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute neu. Die konsequente Hinwendung zu aufbauenden, lebensbejahenden Gedanken verändert meinen Blick auf mich selbst, auf andere und auf das Leben. Im beständigen Zurückkehren zur Gegenwart bzw. zu etwas Konkretem verlieren die negativen Gedanken ihre Macht. Sie können meine Stimmung nicht mehr nach unten ziehen. Ich werde stattdessen wieder empfänglich für das Gute, das unabhängig von diesen einengenden Gedanken in meinem Leben auch noch da ist. Ich erfahre, dass dieser innere Weg, den ich streckenweise als inneren Kampf erfahren kann, eine innere Grundhaltung in mir wachsen lässt, die dem Leben zugewandt bleibt und es bejaht, so wie es ist.
Paulus ruft dazu auf, unser Denken zu erneuern (Röm 12,2). Was bedeutet diese Aufforderung für mich konkret? Welche Gedanken haben eine negative Auswirkung auf mein Lebensgefühl? Welche Gedanken bauen mich stattdessen auf und ermutigen mich? Was hilft mir, mich in schwierigen Situationen bewusst an sie zu erinnern und an ihnen festzuhalten?
In der Meditation kann es Zeiten geben, in denen es notwendig ist, mir bewusst lebensfördernde Gedanken ins Bewusstsein zu rufen, um von negativen Gedanken, die mich beständig um mich selbst kreisen lassen, Abstand zu nehmen. Der große Mystiker Meister Eckhart empfiehlt: „Du Mensch, schau dich in deinem Leben nie so an, als wärst du ferne von Gott. Und wenn du dich nicht so ansehen kannst, dass du nah seist bei Gott, so fasse doch den Gedanken, dass Gott nahe bei dir ist.“ Gedanken dieser Art führen mich wieder in die Beziehung zu Gott und lenken meine Aufmerksamkeit hin zu seiner lebensspendenden Gegenwart, auch wenn ich sie nicht spüre.
Der Alltag kann Zeiten mit sich bringen, in denen man so aufgewühlt ist, dass man in der Stille keinen Halt findet. Kontemplativ im Alltag zu leben bedeutet nicht, dass man immer ausgeglichen und ruhig ist, sondern dass man stets auf Gott bezogen bleibt. Gebete, die man auswendig kennt, helfen uns dabei, mit Gott in Beziehung zu bleiben. Das langsam gesprochenen Gebet in unruhigen Zeiten erfährt man dann als Stütze.
Im Anhang dieses Buches finde ich eine kleine Auswahl von Gebeten. Ich wiederhole das Gebet, das mich anspricht, immer wieder und lerne es dabei auswendig. Es steht mir dann jederzeit zur Verfügung. Doch nicht die auswendig gelernten Worte sind das Entscheidende, sondern die Resonanz, die sie in mir auslösen.
Die Bibel ist eine Schatztruhe von Gedanken und Worten, die Hoffnung geben und neuen Mut. Die Kraft der Worte Jesu lässt Petrus sagen: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68).Jesu Worte schenken Frieden, selbst in Augenblicken der Verwirrung. Sie ermutigen zum nächsten Schritt, auch wenn uns der Mut verlassen will. Sie geben Zuversicht, selbst im Schmerz.
Welche Worte von Jesus kenne ich, die mich zuversichtlich stimmen und Mut zusprechen?
Es wurde mir erzählt, dass jemand beim Durchblättern einer Bibel am Seitenrand des Öfteren ein „E“ bemerkte. Er ging davon aus, dass die Mutter seines Freundes, der die Bibel gehörte, immer wieder den Anfangsbuchstaben ihres Vornamens vermerkte. Als er nachfragte, antwortete sein Freund zu seiner Überraschung: „Nein, ‚E‘ bedeutet ‚Erfahren‘. Meine Mutter hat erfahren, was an dieser Stelle geschrieben steht.“
Ich lese die Bibel unter dieser Perspektive. Welche Bibelstelle kann ich mit meinem Leben in Verbindung bringen? Welche Bibelstelle bringt meine eigene Erfahrung zum Ausdruck?
So wie unser Körper gute Nahrung braucht, um gesund zu bleiben, braucht unsere Seele ebenso gute Nahrung, um Gott im Alltag zugewandt zu bleiben. Mit welcher Literatur nähre ich meine Seele?
Psalmen sind ein Schatz, in dem Menschen seit Jahrtausenden Worte wiederfinden, die ihre eigenen Klagen und Nöte sowie ihre Hoffnungen und ihren Dank vor Gott zum Ausdruck bringen. Welche Psalmworte kenne ich? Welche sind für mich bedeutsam? Wenn ich den einen oder anderen Psalmvers auswendig lerne, steht er mir im Alltag zur Verfügung.
2.3 Umgang mit immer wiederkehrenden Gedanken
Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. (Albert Einstein)
Sobald ich merke, dass ich in der Meditation in Gedanken bin, wende ich mich von ihnen ab und der konkreten Wahrnehmung zu. Dies ist möglich bei zusammenhanglosen, sich aneinanderreihenden Gedanken. Wenn Gedanken jedoch um ein bestimmtes Thema kreisen, das mich sehr beschäftigt oder vielleicht sogar bedrängt, ist es fast aussichtslos, in dieser Weise mit ihnen umzugehen. Wenn mir zum Beispiel ein Konfliktgespräch beständig durch den Kopf geht, scheint ein Zurückkehren zur Wahrnehmung nur einen Bruchteil einer Sekunde möglich zu sein. Kaum habe ich meine Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung gelenkt, schon taucht der nächste Gedanke zum gleichen Thema auf. Immer wiederkehrende Gedanken sind ein Hinweis auf Gefühle, die ich noch nicht angeschaut habe. Ich wende mich deshalb nicht immer wieder nur von diesen Gedanken ab, sondern halte manchmal inne und achte darauf, was sie in mir auslösen und welche Empfindungen mit all den beständig wiederkehrenden Gedanken mitschwingen. Es könnte sein, dass ich einen gewissen Ärger wahrnehme. Dann ist dieser Ärger, der zwar in mir ist, jedoch von mir noch nicht wahrgenommen wurde, die Quelle der wiederkehrenden Gedanken. Wenn ich den Ärger nun bewusst wahrnehme und ihn mir zugestehe, trenne ich ihn nicht länger von mir weg. Es fällt dadurch etwas Spannung von mir ab und es kann ruhiger in mir werden. So wie es mir möglich ist, wende ich meine Aufmerksamkeit immer wieder neu der Gegenwart und dem Namen Jesu zu. In dieser Verbindung, auch wenn sie schwach erscheint, geschieht unmerklich Wandlung.
Sich von positiven wiederkehrenden Gedanken zu lösen ist in der Meditation manchmal schwieriger als von negativen. Wenn ich zum Beispiel voller Freude gedanklich mit der Planung einer Geburtstagsfeier beschäftigt bin, ist es alles andere als einfach, mich von diesen Gedanken abzuwenden. Wer wendet sich schon gerne von etwas ab, das Freude bereitet? Der meditative Umgang besteht jedoch nicht darin, sich von der Freude abzuwenden, sondern von den Gedanken. Die Freude nehme ich ausdrücklich wahr und wende mich mit ihr dem Namen Jesu zu.
Im Alltag erfährt man nicht die positiven, sondern die negativen immer wiederkehrenden Gedanken als belastend. Sie fixieren die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema. Es fehlt ein gewisser Abstand, der es ermöglichen würde, in Ruhe auf dieses Thema zu schauen. Stattdessen wiederholen sich die gleichen Gedanken wie bei einer hängengebliebenen Schallplatte. Man reagiert nicht mehr auf das, was jetzt ist, sondern auf seine Gedanken im Kopf, was wiederum belastend in Beziehungen hineinwirken kann.
Als Kind war ich von der Möglichkeit beeindruckt, mit meinem Zeigefinger, den ich ganz dicht vor mein Auge hielt, den großen Mond verdecken zu können. Wenn ich den Zeigefinger langsam vom Auge entfernte, wurde der Mond wieder mehr und mehr sichtbar. Immer wiederkehrende Gedanken sind wie dieser Zeigefinger, den man ganz nah vor sein Auge hält. Man sieht nicht mehr, was außer dem Zeigefinger, d. h. was außer dem Thema, das einen beschäftigt, noch da ist.
Den Abstand, der meinen Blick wieder weitet, kann ich im Alltag jedoch auf verschiedene Weise wiedergewinnen:
Ich spreche vor Gott offen aus, wie es mir geht und wie ich die augenblickliche Situation erlebe. Ich bitte darum, erkennen zu dürfen, was ich im Augenblick vielleicht noch nicht sehe und was ich in dieser Angelegenheit lernen kann.
Ich schreibe stichwortartig die konkrete Situation auf, die mich innerlich so beschäftigt, sowie meine Gedanken und Gefühle dazu. Ich nehme mir dann etwas Zeit und achte darauf, welche Impulse in mir aufsteigen. In der Achtsamkeit für meine inneren Impulse werde ich empfänglich für Gottes Geist, der in mir wohnt (1 Kor 3,16) und der mich durch das Leben leiten und begleiten möchte.
Ich suche das Gespräch mit einer vertrauten Person. Das Aussprechen entlastet und kann neue Perspektiven zum gleichen Thema erschließen.
Ich unterbreche das Gedankenkreisen im Alltag, indem ich entschlossen mit allen Sinnen meine Aufmerksamkeit auf etwas Konkretes lenke: auf eine Tätigkeit, die ich verrichte; auf den Inhalt eines Buches; auf Musik, die ich bewusst höre; auf ein Bild, bei dem ich versuche, möglichst viele Details wahrzunehmen; auf ein Aquarium mit seinen Fischen und Algen, die sich beständig sanft bewegen; auf den Himmel mit den Wolken, die lautlos vorbeiziehen. Oder ich lasse mich bewusst auf eine Sinneswahrnehmung ein: Ich nehme eine Dusche und achte bewusst darauf, wie das Wasser auf meiner Haut abperlt. Dabei nehme ich meine Füße wahr und spüre hin zum Kontakt mit dem Boden. Ausschlaggebend für diese bewussten Sinneswahrnehmungen, das stille Betrachten von etwas Konkretem und der achtsam ausgeführten Tätigkeiten ist die Verbindung zur Gegenwart. Diese Hinwendung bewirkt eine innere Ruhe, die mich dann mit mehr Abstand auf die Gegebenheiten schauen lässt, die diese beständig wiederkehrenden Gedanken in mir ausgelöst haben.
Im nachfolgenden Kapitel gehe ich auf den Umgang mit den Gefühlen ein, die mit unseren Gedanken sehr eng verbunden sind.