Читать книгу Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten - Karin Terfloth - Страница 7
ОглавлениеEinleitung
Seit den 1990er-Jahren – nicht zuletzt angeregt durch die Diskussion um Integration und Inklusion – sind vermehrt Werke zur Didaktik und Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung publiziert worden. Darin werden die Aspekte Bildung und Lernen für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen sowie schweren und mehrfachen Behinderung aus verschiedenen Perspektiven für den schulischen Kontext thematisiert (z. B. Fischer 2008, Fornefeld 2008, Fröhlich et al. 2011, Günthner 2013, Klauß / Lamers 2003, Lamers / Klauß 2003, Musenberg / Riegert 2010, Pitsch 2002a, Ratz 2011, Stöppler / Wachsmuth 2010, Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2018, Wagner 1995). Warum dann noch dieses Buch? Worin unterscheidet sich dieses Buch von bisherigen Veröffentlichungen?
Zielsetzung
Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf dem Bereich der konkreten Unterrichtsplanung. Einzelne Schritte hin zur sinnvollen und zielgerichteten Planung, Durchführung sowie Reflexion und Evaluation von Unterricht für Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an verschiedenen Lern- und Förderorten werden theoretisch diskutiert und praxisbezogen beschrieben. Neben der Thematisierung grundsätzlicher Begriffe und theoretischer Zusammenhänge der Didaktik bietet das Buch konkrete Vorschläge zum unmittelbaren didaktischen Handeln an.
Didaktik
Die Didaktik als wissenschaftliche Disziplin wird mit der Intention in Verbindung gebracht, Techniken zur Gestaltung von Unterricht vermitteln zu können (Werner 2011, 44). Die Vorstellungen darüber, anhand welcher zentralen Fragen der Didaktik wie z. B. „Fragen von Lehren und Lernen, mit Zielen, Inhalten, Methoden und Ablauf von Unterricht sowie der Gestaltung von Lehrplänen“ (Tulodziecki et al. 2004, 199) eine Auseinandersetzung in der Ausbildung von Lehrpersonen notwendig und zielführend ist, gestalten sich vielfältig. Werner spricht von aktuell ca. 30 Modellen und Theorien des didaktischen Handelns (2011, 45). Nach Tulodziecki et al. lässt sich folgende Unterteilung verschiedener Ansätze vornehmen, die in Tabelle 1 stichwortartig aufgezeigt werden (2004, Kap. 10).
Jede dieser didaktischen Richtungen steht im Begründungszusammenhang einer spezifischen wissenschaftlichen Sichtweise von norm- und werteorientierten Vorstellungen und daraus abgeleiteten Kriterien (wie z. B. Auswahl der Inhalte, Verständnis von Lernen, Entscheidungen für Methoden und Medien). Daher ist in diesem Kontext weniger die Bewertungsfrage nach richtigen oder falschen Ansätzen zu stellen, sondern vielmehr nach deren Leistungsfähigkeit, dynamische Lernprozesse in einer heterogenen Lerngruppe zu beschreiben und Hinweise für deren Gestaltung zu bieten.
Tab. 1: Übersicht didaktischer Ansätze (nach Tulodziecki et al. 2004, Kap. 10)
Didaktik und Methodik
Klafki schlägt vor, Didaktik und Methodik als zwei Teildisziplinen der Schulpädagogik getrennt zu betrachten und den Primat der Didaktik als Ziel- und Inhaltsentscheidung vor die Methodik zu stellen (2007, 88). Wir haben uns in diesem Praxisbuch jedoch für eine Betrachtung entschieden, in der diese miteinander in Bezug gesetzt werden. Es geht in diesem Buch daher nicht nur um die didaktische Frage nach dem Was – den Inhalten und Zielen von Bildung für den genannten Personenkreis –, sondern auch um die methodische Frage nach dem Wie – den Vorgehensweisen zur Planung, Durchführung sowie Reflexion und Evaluation von Unterricht. Zunächst werden die theoretischen Zusammenhänge zur lerngruppenspezifischen Auswahl und Aufbereitung von Bildungsinhalten dargestellt und diskutiert, und darüber hinaus durch ein Praxisbeispiel, das sich von Kapitel 2–8 erstreckt, in der konkreten Anwendung veranschaulicht. Die Frage nach der Qualität des Bildungsangebotes für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zieht sich daher als roter Faden durch das Buch.
Referenz
Die Ausführungen lehnen sich vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, an zwei didaktische Strömungen an, die aus der Schulpädagogik und der materialistischen Behindertenpädagogik stammen:
● Bildungstheoretische bzw. kritisch-konstruktive Didaktik in der Prägung Wolfgang Klafkis → Kap. 1.2.2
● Entwicklungslogische Didaktik nach Georg Feuser auf der Basis der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule → Kap. 3.5
Die damit verbundene didaktische Ausrichtung der Handlungs- und Entwicklungsorientierung wird dadurch im Folgenden zur zentralen Maßgabe der Gestaltung von unterrichtlichen Lernprozessen. Die Fokussierung auf die beiden genannten Perspektiven führt dazu, dass auf die Darstellung der Entwicklung und der Diskussion der klassischen Bildungstheorie verzichtet wird.
allgemeine Didaktik
Angesichts des Titels wird in Kapitel 2.2 die Frage diskutiert, ob es eine spezielle Didaktik für den Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gibt oder geben sollte. Zeigen sich im Kontext einer geistigen Behinderung Unterschiede in der Auswahl von Bildungsinhalten oder der Bearbeitung von Planungsschritten von Unterricht? Unserer Auffassung nach sind die Inhalte und Schritte der Unterrichtsplanung in beiden genannten Kontexten die gleichen. Der Anspruch an die Betrachtung der individuellen Lernvoraussetzungen und der Differenzierung im Hinblick auf die Lerngruppe wird jedoch fokussiert und gilt als unerlässlich.
Ziel des Buches ist es, Antworten auf diese Fragen anzubieten und Grundannahmen, Vorgehensweisen und Begründungen zur Unterrichtsplanung im Zusammenhang des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung aufzuzeigen. Hierzu werden zunächst die Entwicklungslinien der Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung skizziert sowie zentrale Aspekte zu Bildungs- und Lernprozessen im Kontext geistiger Behinderung thematisiert.
Planungskompetenz
Es ist nicht eine Frage der Behinderung, ob anspruchsvolle und kulturell bedeutsame Bildungsinhalte Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung angeboten werden können. Dieses Buch trägt dazu bei, diesen Anspruch durch ein praxisnahes Beispiel eines handlungsorientierten naturwissenschaftlichen Unterrichts zu konkretisieren. Dem Anspruch folgend, eine Brücke zwischen Theorie und konkreter Umsetzung zu bauen, ist es unser Anliegen, im vorliegenden Entwurf die notwendigen Schritte des Entscheidungshandelns einer Lehrperson in der Unterrichtsplanung sowohl in der theoretischen Fundierung und Begründung als auch in der konkreten praktischen Ableitung und Umsetzung sowie in der Reflexion und Evaluation aufzuzeigen.
Inhalte, Bedingungsfaktoren und Planungsschritte von Unterricht kritisch hinterfragen zu können, inwiefern diese die individuelle Aneignung der Schülerinnen und Schüler – je nach ihren Voraussetzungen und Erfahrungen, die sie für den Lernprozess mitbringen – unterstützen, stellt eine zentrale Kompetenzerwartung an Lehrpersonen dar. Hilfestellungen zur Anbahnung oder Erweiterung dieser Planungskompetenz sind Gegenstand dieses Buches.
Zielgruppe
Dieses Praxishandbuch richtet sich an Studierende, Praktikantinnen und Praktikanten, Referendarinnen und Referendare sowie Lehrpersonen der Lehrämter für allgemeinbildende Schulen und Sonderschulen, die Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung an verschiedenen Lernorten beim Lernen begleiten. Sie stehen vor der Aufgabe, gehaltvollen und differenzierten Unterricht in einer heterogenen Lerngruppe zu gestalten.
Eine systematische Planung stellt gerade für Lehreinsteigerinnen und Lehreinsteiger eine notwendige Grundlage für den dialektischen Umgang mit der Erörterung des Bildungsinhaltes auf der einen und mit der Komplexität der Lernvoraussetzungen der Schülergruppe auf der anderen Seite dar. Es werden in diesem Buch Ideen der Gestaltung von Unterricht aufgezeigt, die sich nicht nur auf Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung beziehen, sondern auch im Kontext des gemeinsamen Unterrichts von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Förderbedarf gelten können und sollen.
Arbeiten mit dem Buch
Praxisbeispiel
Im Buch wird der Prozess einer Unterrichtsplanung anhand eines Unterrichtsbeispiels beschrieben. Diese Beschreibung beinhaltet die Themenauswahl und -eingrenzung mit den jeweils dazugehörenden Begründungen sowie die konkreten Schülerbeschreibungen inklusive der Lernvoraussetzungen und Aneignungsmöglichkeiten und die daraus resultierenden Lernchancen. Daran anschließend erfolgt eine Darstellung der methodischen Umsetzung und Planung einer Unterrichtsreihe.
Textpassagen, die aus der Unterrichtsplanung unseres Beispiels stammen, werden besonders hervorgehoben.
Einleitung des Unterrichtsprojektes
Es handelt sich bei dieser Unterrichtsplanung um ein fächerübergreifendes Projekt: Das naturwissenschaftliche Thema „Energie“ wird mit Lernaspekten des Schriftspracherwerbs im Sinne des erweiterten Verständnisses von Lesen und Schreiben verknüpft und im Sinne der kategorialen (materialen / formalen) Bildung nach Klafki bearbeitet.
Der sachunterrichtliche thematische Schwerpunkt wird eingegrenzt auf das Erleben von Bewegungsenergie und elektrischer Energie sowie das Erarbeiten von Kenntnissen über diese beiden Energieformen und deren mögliche wechselseitige Umwandlung.
Für den Schriftspracherwerb werden zwei Schwerpunkte mit Blick auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler ausgewählt: zum einen das Verständnis von Zeichen und Symbolen und zum anderen das sinnentnehmende Lesen von Wörtern, Sätzen und Texten.
Die Planung zeichnet sich durch die gezielte Berücksichtigung vielfältiger Situationen aus, in denen Informationen zur Energiethematik durch das Deuten bzw. Erlesen von Situationen, Bild- oder Schriftzeichen gewonnen werden. In Bezug auf den Schriftspracherwerb geht es darum, das Sachunterrichtsthema als sinnvollen situationsbezogenen Leseanlass im Sinne des Spracherfahrungsansatzes didaktisch zu nutzen (vgl. Brügelmann 1989/2008). In diesem Kontext sei darauf verwiesen, dass es auch möglich gewesen wäre, mathematische Aspekte (zusätzlich oder anstatt des Schriftspracherwerbs) mit der Energiethematik zu verbinden oder es nur bei der naturwissenschaftlichen Thematik zu belassen.
Die reale Lerngruppe, für die das Unterrichtsbeispiel geplant und mit der es auch durchgeführt wurde, umfasst sechs Schülerinnen und Schüler einer 6. Klasse im Alter von 11 bis 14 Jahren einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe mit Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung.
gemeinsamer Unterricht
Im Rahmen unseres Energieprojektes kommen vielfältige Individualisierungs- und Differenzierungsmaßnahmen zum Einsatz, um mit einer heterogenen Lerngruppe einen gemeinsamen Lerngegenstand zu erarbeiten. Sowohl die Formulierung grundlegender gemeinsamer Bildungsziele für die gesamte Klasse und individualisierte Lernchancen für einzelne Schülerinnen und Schüler als auch kooperative, gemeinsame Lernsituationen und Einzelförderung stellen eine gute Basis für den didaktischen Umgang mit Heterogenität dar. Wir stellen uns in den einzelnen Kapiteln immer wieder die Frage, inwiefern im Unterricht Benachteiligung aufgrund unterschiedlicher Heterogenitätsaspekte vermieden werden kann, z. B.
● sozio-ökonomische Heterogenität,
● behinderungsbedingte Heterogenität,
● migrationsbedingte Heterogenität,
● geschlechterbedingte Heterogenität (Sturm 2016, → Kap. 4).
Auch wenn wir innerhalb dieses Buches den Diversity-Aspekt der Behinderung in den Fokus stellen, sind die anderen Aspekte für die Realisierung von Inklusionschancen im Unterricht ebenfalls bedeutsam.
Das Unterrichtsbeispiel zeigt mit Hilfe von bekannten Methoden und der Berücksichtigung unterschiedlicher Aneignungsmöglichkeiten eine Vorgehensweise, wie ein kulturell bedeutsamer Bildungsinhalt aufbereitet werden kann. Es erhebt jedoch nicht den Anspruch, dass Unterricht nur so funktionieren kann. Vielmehr soll das Beispiel Mut machen, Schülerinnen und Schülern mit geistiger sowie schwerer und mehrfacher Behinderung vielfältige Lernwege zu spannenden und gehaltvollen Themen zu eröffnen, die nicht nur ihren Alltag betreffen, sondern auch ihr Verstehen erweitern und ihre Teilhabe an unserer Kultur ermöglichen.