Читать книгу Worte verletzen ... und Schweigen tötet - Karin Waldl - Страница 11

Die Schönheit im Spiegel ihrer Seele

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Nele versuchte leise, die Kirche zu betreten, doch die rostigen Scharniere der schweren Eichentür knarrten unangenehm laut in der Stille des beeindruckenden Gotteshauses. Die von ihr verursachte kurze Unterbrechung der wohltuenden Ruhe legte sich bereits im nächsten Augenblick und Nele sog den angenehmen Duft der brennenden Kerzen in sich auf. Die Sonne schien bunt leuchtend durch die hohen Glasfenster mit den Darstellungen der biblischen Erzählungen, die an schönen Sommertagen wie diesen erst richtig zur Geltung kamen. Das hindurchströmende Licht reflektierte den aufgewirbelten Staub, der in der Luft tanzte.

Nele machte vor dem Hochaltar, der in der Mitte Maria mit dem Jesuskind darstellte, eine Kniebeuge und setzte sich in eine der dunklen Holzbänke, um zu beten. Der Anfang fiel ihr unendlich schwer, denn sie war jahrelang nicht hier oder in einem anderen Gotteshaus gewesen, hatte seit sehr lange Zeit überhaupt kein persönliches Gespräch mit Gott geführt. Ihre Eltern gingen zwar oft mit ihr in den Gottesdienst, als sie noch ein kleines Kind war, aber ein schwerwiegendes Ereignis in ihrer Vergangenheit hatte ihr den Glauben an den Gott, der sie bis ins junge Erwachsenenalter begleitet hatte, genommen. Dieses einschneidende Erlebnis war das Ende ihres glücklichen Lebens gewesen. Sie seufzte traurig, als sie an die damaligen Ereignisse dachte, schwer lag ihr diese Vergangenheit auf dem Herzen.

Nele lernte mit blutjungen zwanzig Jahren den gleichaltrigen Jan kennen. Ihr war von Anfang an klar, er war die Liebe ihres Lebens, und er empfand genauso für sie. Sie waren von Anfang an unendlich glücklich miteinander. Hals über Kopf heirateten die beiden, als sie sich gerade einmal zwei Jahre kannten, doch es fühlte sich alles goldrichtig an, es gab keine Zweifel, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten. Der Segen Gottes, den der Priester damals über ihre Ehe aussprach, schien ungebrochen auf ihren gemeinsamen Bund zu liegen. Gott meinte es offensichtlich gut mit ihnen.

Nur ein Jahr später wurde ihr gemeinsamer Sohn Samuel geboren. Zwei weitere Jahre später brachte Nele Jonas zur Welt. Beide Kinder waren gesunde und kräftige Jungen. In ihrer kindlichen Naivität stellten sie oft alles auf den Kopf, aber Jan und Nele verstanden es, sie liebevoll und mit der nötigen Strenge zu begleiten. Natürlich gab es auch ausgedehnte Durststrecken in ihrer Beziehung, es wäre gelogen, wenn man behaupten würde, dass alles perfekt gewesen wäre. Aber die Fehler, die in der frischgebackenen Familie immer wieder begangen wurden, waren kein Grund zum Aufgeben. Die schönen und glücklichen Momente überwogen eindeutig, das Negative war schnell wieder vergessen, wenn es überwunden war. Nele und Jan war bewusst, dass sie selbst und ihre Kinder auch nur Menschen waren. Deshalb war es ihnen wichtig, immer wieder einander zu verzeihen, wenn etwas schieflief, um den Zusammenhalt in der Familie nicht zu verlieren. Und das stärkte ihren Zusammenhalt noch mehr, im Großen und Ganzen waren sie glücklich und dieses Glück lag in der Schönheit der gemeinsamen Zeit, die sie gemeinsam erleben durften. Keiner hätte sich gedacht, dass es nicht für immer so weitergehen und alles ein so abruptes Ende nehmen würde.

Aber es kam der Tag der unausweichlichen Veränderung. Jan hatte seit Wochen stechende Kopfschmerzen, die immer schlimmer und schlimmer wurden und kaum zu bändigen waren. So beschloss er, zum Arzt zu gehen, der ihn ins Krankenhaus überwies. Die Diagnose war erschütternd. Der Gehirntumor, der sich in seinem Kopf breitgemacht hatte, war operativ nicht zu entfernen, der Versuch hätte seinen sofortigen Tod bedeutet. Aber auch ohne OP blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Schnell war klar, dass Jan in naher Zukunft sterben würde. Die gemeinsame Zeit auf dieser Welt mit seiner jungen Familie war nun ausweglos begrenzt auf wenige Monate. Nele war verzweifelt, ihre Söhne waren doch erst fünf und drei Jahre alt. Wie sollte sie das allein schaffen? Aber Jan redete ihr immer wieder gut zu, gab ihr das Gefühl, dass er an sie glaubte. Doch die Zeit glitt ihnen durch die Finger und war nicht mehr zu fassen. Viel zu bald, vier Monate nach der Diagnose, starb Jan. Das Ringen mit dem Tod war kräftezehrend für ihn, aber er schaffte es trotzdem, seinen Frieden mit Gott zu schließen, bevor er endgültig ging. Er schloss für immer seine Augen, als er gerade achtundzwanzig Jahre alt war.

Nele war wütend über den Verlust ihrer großen Liebe und sich nicht mehr sicher, was sie glauben sollte. Wie konnte ihr ein liebender Gott den Vater ihrer beiden Kinder nehmen? Aus Zorn über diese Ungerechtigkeit beschloss sie, dem Glauben den Rücken zu kehren. Und diese ungebrochene Wut hatte sie in der Zeit, seitdem ihr Ehemann gestorben war, unaufhaltsam begleitet. Das war nun zwei Jahre her. Dieses negative Gefühl fraß sich so sehr in ihr Herz, dass sie kaum mehr Luft zum Atmen hatte, weil es ihr regelrecht die Brust zuschnürte.

Jetzt hielt sie es nicht mehr aus, so verbittert zu sein, deshalb war sie in die Kirche gekommen. Nele erinnerte sich, wie wichtig Jan das gegenseitige Verzeihen gewesen war, und wusste, dass sie endlich ihren Frieden mit Gott schließen musste. Aber wie? Sie fand nicht die richtigen Worte, stattdessen saß sie in der Bank und weinte unaufhörlich. Die Tränen, die längst geweint hätten werden sollen, flossen ihr in Strömen über die Wangen.

Beim Altar kniete plötzlich – wie von Zauberhand – eine verhüllte Frau. Sie hatte ein silberglänzendes Messer in der Hand und bearbeitete rücksichtslos die Oberfläche des wertvollen Kircheninventars, das von Künstlern aus dem Mittelalter stammen musste. Auch die Frau war so altertümlich gekleidet, als würde sie in dieser längst vergangenen Zeitepoche leben. Nele war verwirrt wegen dem, was sie sah, verängstigt blickte sie sich um. Irgendetwas stimmte hier doch ganz und gar nicht. Selbst das Gemäuer der Kirche wirkte plötzlich wie neu und war weit schmuckloser als gerade eben noch. War sie womöglich tatsächlich im Mittelalter gelandet? Wurde sie verrückt? Aber weiter kam sie mit ihren nicht zuordenbaren Gedanken nicht, denn plötzlich stürmten mehrere bewaffnete Männer lautstark die Kirche, die ebenfalls in altertümliches Alltagsgewand gehüllt waren. Ungläubig beobachtete Nele das Geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe.

Einer schrie: „Da ist die verdammte Hexe. Peristera, jetzt wirst du bezahlen für das, was du angerichtet hast!“

Die Frau am Altar zuckte kurz ängstlich zusammen, fuhr aber entschlossen in ihrer Tätigkeit fort. Es schien, als wollte sie die Inschrift, die sie wahrscheinlich gerade am Altar anbrachte, hastig beenden. Nele fragte sich, was so wichtig sein könnte, dass man sogar sein Leben dafür riskierte. Aber die Antwort würde warten müssen. Nur wenige Augenblicke, bevor die aufgebrachte Meute bei der Frau war, drehte diese sich um und bedeckte ihr Gesicht schützend mit ihren Händen. Die finster dreinblickenden Männer stürmten auf sie zu und ergriffen sie gewaltsam, obwohl sie sich nicht wehrte, und zerrten sie nach draußen. Peristera, wie die Frau anscheinend hieß, schrie vor Schmerzen auf, denn ihre Peiniger zogen sie an ihren Haaren und bohrten ihre Finger unsanft in ihr Fleisch. Sie taten ihr absichtlich weh. Womit hatte sie diese Qual nur verdient? Nele konnte nur zusehen, wie diese brutale Übermacht mit der Frau verfuhr. Aber sie folgte ihnen unauffällig nach draußen, um zu sehen, was nun geschehen sollte. Doch das grausame Schauspiel, das sich nun vor ihren Augen bot, hatte sie keineswegs erwartet. Der Mund blieb ihr vor Schreck offenstehen, ihre Knie begannen, vor Angst zu zittern.

Eine große Menschenmenge stand um einen brennenden Scheiterhaufen, der die Finsternis der Nacht hell erleuchtete. Die Leute riefen aus vollem Halse, im wiederkehrenden Rhythmus wiederholten sie ihre leidbringenden Worte: „Die Hexe Peristera soll brennen!“ Immer und immer wieder gaben sie laut johlend denselben Satz von sich, der eindeutig den Tod der Frau forderte. Die Menschen zerrten gewaltsam an ihren Kleidern und zerrissen den Stoff des Gewandes, sodass die angebliche Hexe nun halb nackt war, als sie am Rande des lodernden Feuers stand, wo sie von ein paar Männern festgehalten wurde. Notdürftig bedeckte sie mit ihren Händen ihre Scham. Die Menschen um sie herum bespuckten sie respektlos.

Ein älterer, grauhaariger Mann, dessen erhobene Stimme Autorität besaß, begann laut zu sprechen: „Peristera von Kastoria, du bist einstimmig vom Obersten Rat zum Tode verurteilt worden, weil du dich öffentlich der Hexerei schuldig gemacht hast.“

Peristera protestierte: „Ich habe doch nur denen Heilung verschafft, die schwer krank waren. Ich war für sie da in ihrer Not.“

„Und dann hast du auch noch schändlich behauptet, diese Gabe von Gott erlangt zu haben. Eine Hure Satans bist du, der Hölle entstiegen, nicht mehr und nicht weniger“, schrie der Mann, um Peristera keine weitere Chance zu geben, sich zu rechtfertigen.

Mit einer vernichtenden Handbewegung befahl er, sie auf den Scheiterhaufen zu werfen. Peristera schrie aus vollem Halse und kämpfte erfolglos um ihr Leben, als man sie gewaltsam der zerstörenden und alles verschlingenden Kraft des Feuers übergab. Sie hatte keine Chance, sich selbst zu retten – und von den Umstehenden dachte niemand daran. Die Menge johlte und feuerte ihre Verbrennung schamlos an.

Doch plötzlich geschah etwas äußerst Wunderbares. Peristera stand plötzlich aufrecht im Feuer, ihr Leib schien nicht zu verbrennen, obwohl die Flammen meterhoch um sie herum in die Höhe züngelten. Stattdessen öffnete sich der dunkle Nachthimmel, hell erleuchtet riss das Himmelszelt golden auf und ein Engel fuhr mit strahlendem Glanz hernieder. Seine Leuchtkraft war so mächtig, dass sich die Leute die Augen bedecken mussten, um das göttliche Wesen schemenhaft durch ihre Finger erkennen zu können. Vor allen Anwesenden rettete der Engel Peristera aus dem Feuer und stieg mit ihr in die Höhe. Gemeinsam verschwanden sie im Glanze des Himmelszelts, das nach dem Ereignis schlagartig so finster wie zuvor war, als wäre nichts Bemerkenswertes geschehen.

Beschämt knieten sich die Leute nieder und begannen, zu beten. Keiner konnte es leugnen, sie alle waren Zeugen eines göttlichen Wunders geworden. Nur der scheinbar Vorsitzende des Obersten Rates, der Peristeras Verurteilung verkündet hatte, stand noch immer mit offenem Mund da und konnte nicht fassen, was er eben gesehen hatte.

Nele wachte verwirrt auf. Wo war sie? Was war das für ein merkwürdiger Traum? Überrascht stellte sie fest, dass sie immer noch in der Holzbank der Kirche saß. Sie musste über die Schwermut in ihrem Herzen eingeschlafen sein. Aber etwas hatte sich grundlegend verändert. Die vergossenen Tränen hatten ihre Seele ein Stück weit gereinigt. Sie spürte endlich auf eine unerklärliche Art und Weise, dass Gott sie immer begleitet hatte, obwohl oder gerade, weil sie sich seit dem Tod ihres Mannes so trotzig verhalten hatte. Doch die schmerzhafte Sehnsucht nach der Schönheit vergangener Tage blieb unliebsam bestehen. Ihren Söhnen Elias und Jonas fehlte ein männliches Vorbild, das sie unmöglich selbst ersetzen konnte. Ihr verstorbener Vater, Neles Ehemann, hatte eine Wunde in dieser Familie hinterlassen, die nicht heilen wollte.

Da Nele sich nun fast zwei Jahren emotional über Wasser gehalten hatte, beschloss sie genau in diesem Moment, zu drastischen Maßnahmen zu greifen und etwas zu ändern, so konnte es auf keinen Fall weitergehen. Sie musste das für sich selbst und nicht zuletzt für ihre Kinder tun. Es war an der Zeit, das spürte sie deutlich.

Mit aufgekeimter Bestimmung richtete sie nun ihre Worte an Gott: „Vater im Himmel, ich kann einfach nicht mehr allein sein. Ich brauche wieder einen Ehemann und meine Kinder einen Familienvater. Jan kommt leider nicht mehr zurück, er ist hoffentlich bei dir. Bitte hilf mir, dass ich spätestens in einem Jahr den richtigen Partner an meiner Seite gefunden habe. Ich will nicht unverschämt klingen, aber es muss sich etwas tun. Die Zeit ist reif dafür und ich hoffe, dass du mir in diesem Vorhaben beistehen wirst. Amen.“

Entschlossen stand Nele auf, legte ihre Hand aufs Herz, atmete einmal tief durch, um das ausgesprochene Ultimatum an Gott zu bekräftigen. Sie verließ schnurstracks die Kirche, als hätte sie Angst, sie könnte ihre Entscheidung selbst rückgängig machen. Ihr plötzliches Vorhaben, wie sie einen Mann fürs Leben finden könnte, bekam in ihrem Kopf konkrete Züge. Sie würde sicher nicht in irgendwelchen Bars nach einem geeigneten Kandidaten suchen, so viel stand fest. Sie wollte einen Familienvater und keinen Lebemann, der ausschließlich auf Spaß und Vergnügen aus war. Sie musste sich etwas Passendes ausdenken, an welchen Orten sich vernünftige und ernst zu nehmende Männer aufhielten, die für eine Beziehung auf Dauer geeignet waren. Sie zermarterte sich auf dem Heimweg bereits den Kopf, wie sie das Problem lösen könnte.

Der Traum über Peristera war dadurch nach kurzer Zeit schon wieder vergessen. Nele maß dem Fantasiegebilde über die vermeintliche Hexe keine Bedeutung bei. Es war höchstwahrscheinlich nur Zufall gewesen, so etwas Merkwürdiges zu träumen.

Ein paar Tage später war Nele stolz auf ihren entschlossenen Tatendrang, endlich hatte sie wieder eine Aufgabe, die sie nach vorne blicken ließ. Sie hatte eine Liste angefertigt mit den Männern, die sie in Zukunft besuchen wollte. Doch als sie noch einmal auf das Geschriebene blickte, kamen plötzlich wieder Zweifel auf. Sie musste verrückt geworden sein, als sie die Namen auf das weiße Papier geschrieben hatte. Anfänglich hielt sie es für eine ausgezeichnete Idee, aber je genauer sie es sich überlegte, umso mehr kam in ihr das Gefühl auf, dass dieser Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Was dachte sie sich bloß dabei? Sie schob die Liste zur Seite, nur um sie ein paar Sekunden später gleich wieder zur Hand zu nehmen.

„Einen Versuch ist es allemal wert. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, ermahnte sich Nele selbst und sprach es laut aus, um nicht gleich wieder das Handtuch zu werfen. Außerdem würde in Kürze Martha, eine gute Freundin, eintreffen, um die Jungen zu hüten, während Nele unterwegs war auf ihrer selbst gewählten Mission, einen neuen Partner zu finden. Es gab jetzt kein Zurück mehr, wenn Nele in Zukunft nicht mehr allein sein wollte. Natürlich musste sie sich innerlich auf Rückschläge gefasst machen, aber das war immer noch besser, als weiterhin zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen.

Da klingelte es auch schon an der Tür. Samuel und Jonas stürmten umgehend auf Martha los, als sie eintrat, und begrüßten sie überschwänglich. Als die Freude der Jungen sich etwas gelegt hatte, hielt die Freundin Nele noch kurz auf und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen.

„Bist du dir sicher, dass es richtig ist, deinen Jugendschwärmereien hinterherzujagen? Die werden doch alle selbst bereits Frau und Kinder haben“, gab Martha zu bedenken.

„Ja, das kann natürlich sein. Ich muss mir gut überlegen, was ich sage, um keinen Unfrieden in eine bestehende Familie zu bringen, denn das will ich auf keinen Fall. Aber ich möchte es versuchen, es gab ja damals immer einen Grund, warum mir diese Männer gefielen, bevor ich Jan kennenlernte. Es ist mir klar, dass es eigentlich aussichtslos ist, aber irgendetwas sagt mir, der Vernunft zum Trotz, dass ich es versuchen sollte“, erklärte Nele mit Nachdruck, um endlich gehen zu können, ehe sie der Mut komplett verließ, denn sie war sich selbst nicht sicher, wie schlau ihr Vorhaben tatsächlich war.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, verdrehte Martha die Augen, sie machte sich ernsthaft Sorgen, was auch irgendwie süß war.

Nele kannte außerdem Marthas Ansicht, die besagte, man wäre ohne Mann besser dran im Leben. Aber was wusste ihre Freundin in der Hinsicht schon? Sie hatte noch nie den Richtigen an ihrer Seite. Sie wusste nicht, wie sich wahrhafte und aufrichtige Liebe anfühlte. Genauso hatte sie es mit Jan erlebt und diese enge Vertrautheit zu einem Menschen vermisste Nele schmerzlich. Sie wusste zwar selbst nur zu gut, dass es eine Utopie war, zweimal im Leben so intensiv zu lieben, denn Jan war für sie nicht ersetzbar. Aber vielleicht war das auch nicht nötig, wenn man einen vertrauenswürdigen und liebevollen Mann als Partner hatte, vielleicht reichte es dann aus, sich zu respektieren, um gut und gewinnbringend gemeinsam durchs Leben zu gehen.

Nele saß im Auto und klopfte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad, während sie fuhr. Der Abschied von ihren Söhnen und Martha lag erst eine Stunde zurück. Der Regen prasselte lautstark auf das Blech des Wagens. Sie stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe ein. Trotzdem kam sie nur im Schneckentempo voran, weil es wie aus Kübeln goss und das Wasser auf der Straße stehen blieb.

Sie hatte in letzter Zeit sorgfältig im Internet recherchiert, um die richtigen Adressen herauszufinden von den Männern, die einst ihre Jugendlieben waren. Alle hatten sie ein Merkmal gemeinsam, nämlich das, dass Nele für sie einst geschwärmt hatte. Sie glaubte, dass sie möglicherweise noch heute etwas für einen dieser potenziellen Kandidaten empfinden könnte, zumindest hoffte sie das inständig. Ihr Vorhaben war es, einfach unangemeldet vor der Tür zu stehen, um sich einen vorläufigen Eindruck des Lebensstils und der Lebensumstände der jeweiligen Person machen zu können. So würde sie, wie sie sich einredete, am schnellsten herausfinden, ob derjenige für sie geeignet sein könnte. Sie war sich bewusst, wie vorsichtig sie sein musste, um eine eventuell vorhandene Familie nicht in eine unnötige Streitsituation zu versetzen. Sie wollte auf keinen Fall eine Beziehung zerstören, er musste auf jeden Fall Single sein. Und das galt es, als Erster herauszufinden, um einen schnellen, höflichen Abgang hinlegen zu können, wenn dem nicht so war. Das galt natürlich auch für den Fall, dass sie den Eindruck hatte, dass etwas mit dem Typen nicht stimmte, womit sie im wahrscheinlichsten Fall rechnen musste. Schließlich wurden Macken aus der Jugendzeit bekanntlich nicht besser, dessen war sie sich bewusst.

Der erste Mann, den sie nun im Begriff war, zu besuchen, war ihre größte Jugendliebe, an ihn hatte sie sofort denken müssen, als sie ihren fast wahnwitzigen Plan ausgeheckt hatte, wieder einen Mann fürs Leben zu finden. Sie waren damals ein ganzes Jahr ein Paar gewesen, er war auch der einzige Junge, mit dem sie vor ihrem Ehemann das Bett geteilt hatte, was am Anfang Probleme in ihrer jungen Ehe bereitet hatte, weil Jan eifersüchtig reagierte auf ihren verflossenen Ex-Freund. Sein Name war Philipp und er wohnte praktischerweise immer noch in dem Haus seiner Eltern, denn dort war Nele früher öfter zu Besuch und durfte auch bei ihm übernachten.

Mit gemischten Gefühlen fuhr sie nun die Einfahrt hoch und fragte sich, ob es überhaupt möglich war, ihn wieder zu lieben, wenn man überhaupt von Liebe reden konnte, schließlich war sie damals sehr jung und, im Nachhinein betrachtet, eigentlich nur schwärmerisch verliebt. Schnell wischte sie den abhaltenden Gedanken weg und stieg entschlossen aus dem Auto. Sie rannte die paar Meter bis zur Haustür, um nicht klatschnass zu werden, der Regen hatte in der Zwischenzeit kaum nachgelassen. Erleichtert stellte sie fest, dass Philipp eine eigene Türglocke besaß, was dafürsprach, dass er nicht mehr in seinem alten Kinderzimmer hauste. Ein Muttersöhnchen konnte sie echt nicht gebrauchen. Zitternd drückte sie auf die Klingel und wartete nervös trippelnd und händereibend, dass jemand öffnete. Erneut ergriff Nele die Panik, das war doch eindeutig die dümmste Idee ihres Lebens. Sie sollte, so schnell es ging, wieder verschwinden, ehe es zu spät war. Abrupt drehte sie auf der Türschwelle um, um sich aus dem Staub zu machen. Aber genau in diesem Moment öffnete jemand die Haustür und begrüßte sie unwirsch. Es war Philipp – und er war nicht erfreut sie zu sehen.

Nele rutschte das Herz in die Hose. „Hallo, Philipp, ich bin es, Nele“, stotterte Nele trotzdem zur Begrüßung.

Auf einmal hellten sich die Gesichtszüge ihres Gegenübers auf und Philipp lächelte. „Entschuldigung, ich habe dich nicht erkannt. Ich dachte, du wärst einer dieser lästigen Vertreter, die von Haus zu Haus gehen und die man schwer wieder unterbricht, wenn sie ihr Verkaufsgespräch einmal gestartet haben“, sagte er freundlich.

Nele musterte ihn unbewusst. Er trug einen eleganten dunkelblauen Anzug und ein modernes weißes Hemd, er wirkte sehr gepflegt und war attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte. Irgendwie beschlich Nele das Gefühl, dass er nicht allein sein konnte, so ein Mann war doch niemals im Leben Single. So einer hatte sicher die Auswahl unter den verschiedensten Frauen und war dadurch bestimmt seit Jahren glücklich verheiratet. Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn Philipp bat sie, hereinzukommen, sie zögerte einen kurzen Moment, wollte dann aber nicht unhöflich sein und folgte ihm.

Er führte Nele in seine geschmackvolle Dachgeschosswohnung, die er sich vor vielen Jahren ausgebaut hatte, wie er ihr ungefragt erzählte. Alles war sehr modern eingerichtet – mit einem schräg erscheinenden Schwerpunkt auf kunstvolle, bizarre Skulpturen. Nele suchte fieberhaft nach einem eindeutigen Hinweis für eine bestehende Beziehung, aber nichts deutete darauf hin, kein Gegenstand war zu erkennen, der einer Frau gehören könnte. „Bist du Single?“, platzte Nele heraus.

„Ja, ich wohne hier allein“, antwortete Philipp und bat seinem Gast höflich einen Sitzplatz auf der Couch an.

Während er in der Küche verschwand, um den Kaffee zuzubereiten, den er angeboten hatte, sah sich Nele die Fotos im Raum an. Es waren fast ausschließlich Porträts von Philipp. Nele beschlich leise das ungute Gefühl, dass er sehr selbstverliebt sein könnte. Soweit sie sich erinnerte, war das damals schon ein Problem zwischen ihnen gewesen, weil er zur Selbstdarstellung neigte. Wahrscheinlich sollte sie einfach wieder gehen, vielleicht konnte sie sich noch rausschleichen. Da kam er aber schon mit dampfendem Kaffee und reichte Nele eine Tasse, die sie trotz ihrer Nervosität dankbar annahm.

„Was machst du hier?“, erkundigte sich Philipp.

Nele atmete tief durch, sie wollte ehrlich sein: „Mein Ehemann ist vor zwei Jahren gestorben. Es war eine harte Zeit mit meinen beiden Kindern. Ich hatte das Bedürfnis, eine Reise durch meine eigene Vergangenheit zu machen.“

„Du hast Kinder? Bewundernswert, das wäre nichts für mich“, beteiligte sich Philipp am Gespräch.

Nele hakte diesen Besuch bereits innerlich als erledigt ab, wenn er keine Kinder mochte, war er eindeutig der Falsche. Ihre Jungen waren das Wichtigste in ihrem Leben und brauchten dringend einen Stiefvater, der für sie da war.

„Was machst du so?“, fragte Nele trotzdem noch höflich.

„Ach, ich arbeite als Manager im Entertainmentbereich“, kam betont angeberisch zurück.

„Und privat?“, legte Nele neugierig noch eines drauf.

„Ich lebe das Leben, wie es kommt. Das gilt bei mir auch für Frauen, wenn du deshalb da bist“, zwinkerte Philipp ihr zu.

Nele fühlte sich nun endgültig unbehaglich, aber jetzt wollte sie den Rest auch noch erfahren, wenn sie schon einmal hier war, denn sie würde gewiss nicht wiederkommen. Skeptisch fragte sie: „Wie meinst du das?“

„Na ja, du bist eine hübsche Frau. Ich hätte Lust auf Sex mit dir. Wenn du möchtest, könnten wir uns ja gemeinsam vergnügen. Ich glaube, ich habe sogar noch etwas Kokain da, das würde die kurzweilige Unterhaltung noch um einiges intensiver machen“, flüsterte Philipp in einem eingeübten verführerischen Ton, wie ihn Weiberhelden wie er perfekt beherrschten.

Das war Nele eindeutig zu viel. Was war aus dem netten Jungen geworden, mit dem sie damals zusammen gewesen war? Irgendwie musste sie die Kurve kratzen, denn dieses eindeutige Angebot zu einmaligem Sex war eindeutig nicht ihr Ding. Und Drogen gingen gar nicht. Sie musste einen Weg finden, um höflich einen Abgang zu machen.

„Philipp, ich wollte eigentlich nur wissen, wie es dir geht. Ich habe kein Interesse an Sex mit dir“, sagte sie schließlich betont höflich, aber eindeutig.

„Macht nichts, ich finde sicher noch eine andere Frau heute, die mit mir das Bett teilt“, sagte er erklärend, als wäre es das Normalste der Welt, und zuckte mit den Achseln.

Nele blieb der Mund offenstehen. Hatte er das wirklich in ihrer Gegenwart gesagt? Sie konnte es nicht fassen. Das war der Punkt, an dem sie endgültig verschwinden musste. Sie bedankte sich noch halbherzig für die Gastfreundschaft, ehe sie eilig die Wohnung verließ und mit ihrem Auto schnell davonfuhr. Innerlich ärgerte sie sich, vielleicht wäre es besser gewesen, nicht zu erfahren, was aus Philipp geworden war – ein selbstverliebter, vergnügungssüchtiger Casanova. So einer würde Nele niemals ins Haus kommen. Angewidert versuchte sie verkrampft, auf andere Gedanken zu kommen. Aber das war gar nicht so leicht, denn auf einmal kam ihr in den Sinn, warum Philipp in ihrer Jugendzeit mit ihr Schluss gemacht hatte – wegen einer anderen. Langsam wunderte es Nele nicht mehr ganz so heftig, warum er sich in diese Richtung entwickelt hatte. Aber egal, einen Mann auf ihrer Liste konnte sie schon abhaken, das war eindeutig ein Reinfall gewesen.

Nele parkte bei einem Pizza-Imbiss, um an einem der Stehtische ein Stück Schinkenpizza mit Champions zu essen. Das Ganze spülte sie mit einer Cola hinunter. Kauend hegte sie wieder Zweifel, ob dies überhaupt der richtige Weg war, um einen Mann fürs Leben zu finden. Sollte sie vielleicht doch aufgeben? Nein, nur weil die erste Begegnung ein massiver Rückschlag war, durfte sie jetzt nicht das Handtuch werfen. Sonst würde sie sich ewig vorwerfen, es nicht probiert zu haben. Sie wusste von Anfang an, dass wenig Chance auf Erfolg stand, aber sie musste es weiter versuchen, um es eindeutig zu wissen. Entschlossen stieg sie wieder ins Auto und setzte ihren Weg fort.

Der zweite Mann auf der Liste war Paul, eine unerwiderte Liebe oder – besser gesagt – Schwärmerei von Nele aus sehr jungen Jahren. Er war vor langer Zeit fast drei Jahre mit ihrer älteren Cousine Magdalena liiert gewesen. Im stillen Kämmerlein hatte Nele ihn heimlich bewundert, ohne es ihm gegenüber jemals laut auszusprechen. Wahrscheinlich war diese Unerreichbarkeit damals sogar bewusst gewählt, denn sie war noch viel zu jung für echte Erfahrungen, ein kleines Mädchen, das keine Ahnung von der großen, weiten Welt hatte. Diese Gefühlsduselei war angesiedelt in der Zeit zwischen Kindheit und Jugendzeit. Eigentlich war Paul mehr wie ein großer Bruder für Nele, der mit ihr, natürlich gemeinsam mit ihrer Cousine, spielte. Es brach ihr damals das Herz, als die Beziehung zwischen den beiden zerbrach, denn ab diesem Zeitpunkt war Paul nicht mehr da und sie konnte ihn nicht mehr im Geheimen anhimmeln. Jetzt, da Nele erwachsen war, musste sie selbst grinsen über diesen kindlichen Herzschmerz einer Heranwachsenden, wie sie es damals gewesen war.

Nele bog zum schmucken Dorfplatz der überschaubaren Marktgemeinde ein, in der sie sich gerade befand. Hier waren bunte, mehrstöckige Wohnhäuser, die italienischem Baustil ähnlich waren. In einem davon sollte Paul heute wohnen. Sie parkte am Straßenrand und stieg zaghaft aus. Nele atmete tief durch, strich ihr Kleid glatt und begab sich zu der Türklingel, auf der sie Pauls Namen fand, und drückte sie diesmal etwas entschlossener. Im ersten Moment erkannte Nele Paul gar nicht, als er ihr mit Vollbart und sichtlich ungepflegt die Tür öffnete. „Paul?“, fragte sie unsicher.

„Nele, bist du es wirklich?“, grinste er wie ein Honigkuchenpferd.

„Ja, ich wollte dich besuchen“, sagte sie sichtlich verlegen. Sie wusste gar nicht, wie sie ihm ihre Anwesenheit erklären sollte. „Darf ich hereinkommen?“, ergänzte sie noch.

„Ja, natürlich. Es ist halt nicht aufgeräumt, Besuch hatte ich nicht erwartet. Magst du etwas zu trinken?“

„Gerne, ein Glas Wasser bitte!“ Nele folgte ihm in die Küche. Nicht aufgeräumt war deutlich untertrieben, das Geschirr von mehreren Tagen stapelte sich neben der Spüle. Der Esstisch bot gerade noch genügend Freiraum, dass sich eine Person setzen konnte, deshalb räumte Paul hastig ein paar Dinge weg, um weiteren Platz zu schaffen.

Das Gespräch, das nun folgte, war durchaus nett, aber Nele fand dabei heraus, dass Paul nicht auf eigenen Beinen stand. Seine Eltern waren die Gönner seines Lebensstils. Seine einzige Beschäftigung war ein Internetcomputerspiel, tagein und tagaus. Paul ging praktisch nie vor die Tür, was sein mitleiderregendes Aussehen erklärte, aber das sagte Nele ihm natürlich nicht laut ins Gesicht. Essen erhielt er von den verschiedenen Lieferservices. Mutter und Vater schickten ihm einmal in der Woche eine Haushälterin, die das Notwendigste zusammenräumte, putze, Wäsche wusch und Besorgungen machte. Ansonsten hatten seine Eltern ihn komplett links liegen gelassen, sie waren enttäuscht von ihrem Sohn. Aber sie waren zu schwach, um ihm den Geldhahn und die Unterstützung zuzudrehen, schließlich war er ihr einziges Kind. Und Kind war auch die passende Bezeichnung, denn erwachsen war Paul eindeutig nicht geworden. Aber er dachte gar nicht daran, etwas zu ändern, gab selbst zu, dass er trotzig seinen Eltern gegenüber handelte. Paul tat Nele irgendwie leid, sie mochte ihn. Aber sie verstand nicht, wie man so leben konnte – einsam in einer Scheinwelt, abgeschnitten von der gesamten Außenwelt.

„Du siehst nicht sehr gepflegt aus“, wagte sie sich doch noch vor, auch wenn es unhöflich war.

„Ich weiß, es macht für mich keinen Sinn, zum Friseur zu gehen. Für wen denn? Es bekommt mich kaum jemand zu Gesicht“, antwortete er sichtlich geknickt.

„Komm, du steigst jetzt unter die Dusche und wenn du fertig bist, schneide ich dir die Haare und rasiere dir diesen unmöglichen, langen Bart ab. Was sagst du dazu?“, fragte ihn Nele hilfsbereit.

„Das ist sehr freundlich von dir, ich bin es gar nicht mehr gewöhnt, dass es jemanden kümmert, was mit mir los ist“, sagte Paul dankbar.

Gesagt, getan.

Bei ihren Gesprächen über gemeinsame Erinnerungen aus vergangenen Tagen verwandelte Nele Paul wieder in einen herzeigbaren Menschen. Es dauerte eine Weile, bis die vielen überschüssigen Haare am Kopf und im Gesicht gefallen waren. Als sie damit fertig war, war sie selbst überrascht, wie attraktiv er war. Paul bemerkte ihre Unsicherheit, nutze den Moment aus und umarmte Nele herzlich. Ihr blieb der Atem weg, als seine Lippen sich an die ihren näherten. Nele kämpfte mit sich selbst, sie sehnte sich nach einer innigen Berührung, zu lange war es her, dass sie Nähe spüren durfte. Aber da kamen ihr ihre beiden Söhne in den Sinn. Nein, sie durfte das nicht zulassen. Paul war nett, aber er hatte sein Leben nicht im Griff. Mit ihm wäre es, als müsste sie ein weiteres Kind versorgen und dazu reichte weder ihre Ausdauer noch ihre Energie. So drehte sie den Kopf zur Seite und ließ zu, dass er ihre Wange freundschaftlich küsste.

„Tut mir leid, ich kann das nicht. Ich finde dich sehr sympathisch, aber mehr kann ich mir nicht vorstellen zwischen uns“, entschuldigte sich Nele.

„Ja, du hast recht. Vielleicht sollte ich wirklich irgendwann mein Leben auf die Reihe bringen, sonst wird sich auch weiterhin keine Frau für mich interessieren“, seufzte er enttäuscht.

Irgendwie bezweifelte Nele, dass Paul selbst seinen eigenen Worten Glauben schenkte. Auch wenn sie es ihm von Herzen wünschte, war das wahrscheinlich ein leerer Vorsatz, seine Gewohnheiten waren zu festgefahren. Sie bedankte sich aufrichtig für das gute Gespräch und verabschiedete sich. Es war schade, dass so einem netten Mann der Antrieb fehlte, aus seinem Leben etwas zu machen. Das Mitgefühl für Paul begleitete sie, als sie ging.

Nele starrte liegend an die Decke. Langsam hatte sie das Gefühl, sich in ihrer Vergangenheit nur in Versager verliebt zu haben, obwohl zwei Personen natürlich nicht stellvertretend für die Männerwelt stehen konnten. Ihr war nach diesen Enttäuschungen umso deutlicher bewusst, wie sehr sie mit ihrem Ehemann Jan verbunden war – in allen Bereichen ihres Lebens. Sie vermisste ihn schmerzlich, als sie an diesem Abend im Bett lag. Sie hatte sich in einer kleinen Pension ein Zimmer genommen, um ihre ungewöhnliche Tour am nächsten Tag fortsetzen zu können. Es war leichter, jetzt nicht in den Alltag zurückzukehren, sonst würde Nele ihr Vorhaben mit Sicherheit abbrechen. Über diesen Gedanken schlief sie ein und träumte erneut von Unglaublichem.

Nele stand wieder in der erstaunten Menschenmenge, die sich betend und ehrfürchtig niedergekniet hatte. Kurz zuvor hatten sie noch tobend den Tod der vermeintlichen Hexe Peristera gefordert. Von dem Engel, der sie vor wenigen Augenblicken gerettet hatte, oder Peristera selbst war nichts mehr zu erkennen am Himmel. Nur ein unnatürliches, schwach leuchtendes Licht war am Firmament geblieben, entschwand dann langsam, aber sicher in der Höhe, ehe es stockfinster war. Nele erinnerte sich an diese Szene, denn sie war in ihren Träumen schon hier gewesen.

„Die Inschrift“, schoss es Nele unerklärlich durch den Kopf. Sie schaute sich zögernd um und zog langsam schleichend den Rückzug an. Doch keiner achtete auf Nele, denn die Leute konnten immer noch nicht glauben, was sie Fantastisches gesehen hatten. Keiner traute sich, etwas zu sagen, sonst hätten sie die niederschmetternde Vermutung anstellen müssen, dass sie beinahe eine Heilige verbrannt hätten, wenn sich sogar der Himmel für sie öffnete und einen strahlenden Boten Gottes schickte, um diese außergewöhnliche Frau zu retten.

Wenn sich Nele recht an den Geschichtsunterricht über das Mittelalter erinnerte, würde jeden der hier Anwesenden über kurz oder lang die Angst überfallen für das, was er in dieser Nacht getan hatte, ewig in der Hölle zu schmoren. Aber darüber wollte Nele nun nicht weiter nachdenken, sie musste in die Kirche zurück, um die Inschrift zu lesen, die Peristera am Altar angebracht hatte. Sie schlich sich davon, kaum war sie außer Sichtweise, eilte sie zurück in das kalte Gemäuer. Schnell erreichte sie mit hastigen Schritten den Altar und wollte sich gerade bücken, um die Buchstaben zu entziffern, die Peristera hier eingraviert hatte, ehe die Männer sie gewaltsam nach draußen gezerrt hatten, um sie am Scheiterhaufen zu verbrennen.

Ein Hundebellen weckte Nele unsanft mitten in der Nacht. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wo sie war, ihre Gedanken hingen immer noch bei der Inschrift, die Peristera im Traum in den Altar geritzt hatte. Es wurmte Nele, nicht zu wissen, was diese scheinbar besondere Frau der Nachwelt hinterlassen wollte. War es doch von Bedeutung, weil der Traum wiedergekehrt war? Wahrscheinlicher war, dass das alles nur ein Hirngespinst und nicht sonderlich bemerkenswert war. So wischte Nele den Gedanken weg, aber es blieb Unsicherheit in ihrem Herzen zurück, eine leise Ahnung, dass das Ganze etwas mit ihr selbst zu tun haben könnte.

Nele blickte sich bewusst im Zimmer um, jetzt kam ihr wieder in den Sinn, wo sie war, in dem schäbigen Motel, um ihre Suche nach einem geeigneten Mann möglichst schnell fortführen zu können. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst vier Uhr morgens war. Erschöpft versuchte sie, wieder einzuschlafen, aber sie war zu aufgewühlt dafür. Langsam verstrichen die Minuten, während sie auf den Morgen und die ersten Sonnenstrahlen wartete.

Mann Nummer drei auf Neles Liste hieß Manuel. Nach einem kargen Frühstück, bestehend aus Milchkaffee und einer Buttersemmel, machte sie sich abermals unsicher auf den Weg. Sie kannte Manuel aus ihrer damals ehrenamtlichen Arbeit, als sie noch selbst eine Jugendliche war. Nele war in der Pfarre aktiv und betreute gemeinsam mit Manuel Jungscharkinder. Sie waren die Gruppenleiter einer schwer zu bändigenden, aber herzlichen Rasselbande. Manuel war in Nele verliebt und versuchte mehrfach, sie zu erobern. Aber sie ließ ihn immer wieder abblitzen, was ihr jedes Mal ziemlich leidtat, denn sie mochte den Jungen sehr. Doch damals betrachtete sie ihn ausschließlich als guten Freund, schließlich arbeiteten sie Seite an Seite mit den Kindern. Außerdem waren Philipp und Nele zu dieser Zeit ein Paar, die Sympathie zu Manuel musste dadurch hinten angestellt bleiben. Wäre Philipp nicht gewesen, hätte Manuel wahrscheinlich eine Chance bei Nele gehabt. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Es war an der Zeit, es herauszufinden.

Nele irrte mit dem Auto die Straße auf und ab, irgendwo hier musste doch das Geschäft sein, welches Manuel heute gehörte, aber sie fand es einfach nicht, das ärgerte Nele maßlos. Zum dritten Mal fuhr sie nun hier entlang, aber dieses Mal achtete sie genau auf die Hausnummern. Endlich, da war es, das Haus mit der Nummer 19. Nele wurde stutzig. Ja, hier war ein Geschäft, aber es war von außen fast komplett schwarz, ein weißer Totenkopf zierte mittig das dunkle Schaufenster. Darunter stand Tattoodesign.

Nele zuckte mit den Achseln, parkte den Wagen am Straßenrand, stieg aus und steuerte zielstrebig auf den Laden zu. Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ein. Erneut unsicher schaute sie sich um. An den Wänden hingen Tausende Fotos von kunstvollen Tätowierungen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Nele wunderte sich bei manchen, was Menschen dauerhaft auf ihrer Haut tragen wollten, vor allem, wenn es sich um unbeschreibliche Grausamkeiten handelte. Da gefielen ihr die harmlosen Tier- und Naturtätowierungen schon besser.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte höflich ein Mann, der scheinbar sein eigener bester Kunde war. Nele machte unbewusst einen Schritt zurück, denn die unzähligen Tattoos und Piercings, die dem Mann als bizarrer Körperschmuck dienten, schreckten sie innerlich ab. Wie konnte man sich nur selbst so verunstalten? Nele ermahnte sich innerlich, nicht so oberflächlich zu sein, und rief sich wieder ins Gedächtnis, warum sie eigentlich hier war.

„Ich suche nach dem Besitzer dieses Geschäftes. Sein Name ist Manuel“, wagte sich Nele wieder einmal mutig vor.

Der tätowierte Mann grinste, als er sprach: „Ich bin es, kennst du mich nicht mehr, Nele?“

Nele riss ungläubig die Augen auf. Vor ihr stand tatsächlich Manuel, sie hatte ihn wegen all der Farbe und dem Metall an seinem Körper nicht gleich erkannt. Geschockt brachte sie kein einziges Wort heraus. Doch Manuel merkte man die Wiedersehensfreude deutlich an, er trat zu Nele und umarmte sie stürmisch. Nele stand da wie eine erstarrte Salzsäule und rührte sich nicht vom Fleck. Verzweifelt versuchte sie, hinter die farbige Maskerade der Person vor ihr zu blicken und den Manuel zu sehen, den sie einst gekannt hatte. Sie wollte sich keineswegs von der inneren Schönheit ablenken lassen, aber von Manuels natürlicher Ausstrahlung war nichts übrig. Deshalb gelang es Nele auch nicht, sie schämte sich, schließlich hasste sie oberflächliches Gehabe und nun schaffte sie es selbst nicht, sich vom Erscheinungsbild eines Menschen nicht beeinflussen zu lassen.

Als sie sich etwas gefasst hatte, ließ sie sich von Manuel das Geschäft zeigen. Er war stolz auf das, was er tat. Er schwärmte von den vielen Menschen, die seine Kunden waren und immer wieder zu ihm, ihrem Tätowierer des Vertrauens, kamen. Eines musste Nele ihm aber eindeutig lassen, er ging sichtlich auf in seiner Arbeit und war ein Mann der leidenschaftlichen Taten. Der Laden brachte ihm ein solides Einkommen, das mehr als genug Geld für sein bescheidenes Leben war. Mehr als eine kleine Wohnung, Essen und etwas Kleidung brauchte er nicht zum Leben. Es war ihm Glück und Freude genug, wenn seine Kunden mit seiner kreativen Arbeit zufrieden waren.

Irgendwie blitzte im Gespräch doch etwas durch von dem früheren Manuel. Nele erkannte langsam wieder die guten Eigenschaften an ihm, die sie damals an ihm geschätzt hatte. Aber mehr als Freundschaft konnte sie sich nicht vorstellen mit diesem Mann, das war anscheinend auch nicht anders geworden seit ihrer Jugendzeit. Gut, dass er keine Ahnung hatte, dass dieser Spontanbesuch ein Auskundschaften ihrerseits war, denn er freute sich so, seine alte Freundin wiederzusehen.

„Nele, ich bin so froh, dass du da bist. Ich liebe dich immer noch. Wegen meiner besonderen Gefühle für dich konnte ich nie eine andere Frau in meinem Leben halten“, gestand Manuel aus heiterem Himmel. Mit diesen Worten machte er alle erleichterten Gedanken, die Nele sich zuvor zusammengereimt hatte, kaputt. Ihr Körper schaltete schlagartig auf Fluchtinstinkt um. Panisch sah sie sich selbst und ihre Söhne vor sich, alle drei vom Kopf bis zur Zehenspitze tätowiert.

„Aber wir hatten doch nie Kontakt zueinander“, erwiderte Nele.

„Ich weiß, ich hatte Angst, dass du mich wieder zurückweist, so wie du es damals so oft getan hattest“, sagte er ehrlich traurig.

„Manuel, das hat sich nicht geändert. Ich bin hier, weil wir einst so gute Freunde waren, aber mehr kann ich mir nicht vorstellen.“

Jetzt rannen dem hart wirkenden Kerl die Tränen über die Wangen. Wäre sie bloß nicht gekommen, sie hatte ja keine Ahnung, welche Hoffnungen sie damals in Manuels Herzen unbewusst gelegt hatte.

„Das wollte ich nicht, ich wollte dir nur eine Freude machen mit meinem Besuch“, gestand Nele.

„Du konntest das ja nicht wissen. Nele, bitte komm nicht wieder. Mein Herz hält das nicht mehr aus. Ich habe mich damit arrangiert, unglücklich in dich verliebt zu sein. Aber dich zu sehen und nicht haben zu können, würde mich wahnsinnig machen, bitte versteh das.“ Kaum hatte er die Worte gesprochen, drehte er sich weinend um.

Nele murmelte eine weitere Entschuldigung und verließ wie ein geprügelter Hund den Laden. Die Liste war eindeutig eine schwachsinnige Idee, so viel stand jetzt fest, sie wollte niemandem wehtun damit, aber genau das hatte sie nun geschafft. Erneut zertrat sie die Hoffnung, die sie selbst in ihr Herz gesät hatte. Sie zweifelte schon wieder, ob sie sich am richtigen Weg befand. Enttäuscht kehrte sie nach Hause zurück. Heute hatte sie eindeutig mehr erfahren, als sie wissen wollte.

Es war mittlerweile zwei Monate her, seitdem Nele den drei Männern von ihrer Liste einen Besuch abgestattet hatte. Es standen zwar weitere zwei Namen darauf, aber trotzdem lag das Stück Papier in einer Küchenlade wie ein unliebsam gewordener Gedanke, den man einfach wegsperrt, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen.

Nele hatte gerade ganz andere Sorgen, ihre finanziellen Schwierigkeiten waren ihr über den Kopf gewachsen. Ihr Gehalt als Musiklehrerin reichte hinten und vorne nicht mehr aus, da sie wegen ihrer Söhne bis jetzt nur Teilzeit arbeitete. Aber ab sofort mehr in ihrem Job zu arbeiten, war unmöglich, denn mehr Stunden waren einfach nicht verfügbar. So sehr sie sich auch bemühte an einer anderen Musikschule zusätzlich unterrichten zu können, keiner stellte sie unter dem Schuljahr ein.

Nele war wieder wütend auf Gott, sie hatte ihn um Hilfe gebeten, aber nun reichte ihr das Wasser bis zur Kehle und sie stand immer noch ganz allein da. Was dachte er sich bloß dabei? Konnten nicht endlich bessere Zeiten für sie anbrechen? War das zu viel verlangt nach allem, was sie durchgemacht hatte?

Aus purer Verzweiflung sah sich Nele nun nach einem anderen Job um, der sich mit der Betreuung ihrer Kinder irgendwie vereinbaren ließ, aber das war gar nicht so leicht. Der entscheidende Tipp kam dann von ihrer Freundin Martha. Ausgerechnet in der Pfarre suchte man eine Haushälterin, da die Vorgängerin in Pension gegangen war. Nele beschloss, es einfach zu versuchen. Was hatte sie noch zu verlieren?

Mit mulmigem Gefühl betrat sie das Pfarrhaus, zu lange war sie nicht hier gewesen. Zaghaft klopfte sie an der Tür des Büros an.

„Herein“, hörte sie eine weibliche Stimme von innen.

Nele atmete wie immer tief durch und betrat zögerlich die Kanzlei. Auf dem Schreibtischsessel saß eine hochschwangere Frau, die im selben Alter wie Nele sein musste. Freundlich sagte sie: „Ich bin Lisa, die Pastoralassistentin. Was kann ich für dich tun?“

Nele war im ersten Moment verwirrt, sofort mit du angesprochen zu werden, aber als sie die freundliche Frau noch einmal anblickte, war sie sich sicher, dass dies nur ihrer Herzlichkeit zuzuschreiben war. Nele fühlte sich eigenartig wohl in Lisas Gegenwart. Trotzdem war sie unsicher in ihren Worten, so stotterte sie: „Ich bin wegen des Jobs als Haushälterin da.“

Lisa seufzte erleichtert, ehe sie sagte: „Endlich, es ist wirklich mehr als dringend, diesen Posten zu besetzen. Es sind nur wenige Stunden in der Woche, da es nur darum geht, das Pfarrheim und die Kirche sauber zu halten. Eigentlich bräuchten wir auch dringend eine Sekretärin, da ich nur mehr zwei Wochen bis zum Mutterschutz habe und das Seelsorgeteam unserer Pfarre nicht auch das noch übernehmen kann. Ich bin ja schon heilfroh, wenn die Gottesdienste einigermaßen weiterlaufen.“

„Wenn du möchtest, kann ich das Sekretariat auch übernehmen, also vorausgesetzt, meine Söhne sind hier willkommen. Ich bin eigentlich Musiklehrerin, aber seitdem mein Mann verstorben ist, schaff ich es nicht mehr mit den Finanzen und bin froh über jeden Zuverdienst“, gestand Nele.

Mit der Reaktion der Pastoralassistentin hatte Nele nicht gerechnet, Lisa stand mit Freudentränen in den Augen auf und umarmte Nele. „Dich schickt der Himmel. Natürlich sind deine Söhne hier jederzeit willkommen. Mein Baby wird in Zukunft auch mitkommen, wenn ich nach dem Mutterschutz wieder ein paar Stunden arbeiten werde, aber das Sekretariat gehört dir, denn ich glaube nicht, dass ich mit meinem Kleinen, wenn es auf der Welt ist, mehr als geringfügig arbeiten kann. Also nur, wenn du damit einverstanden bist?“

„Natürlich bin ich das“, freute sich Nele. Endlich lief einmal etwas glatt. Innerlich fiel ihr ein Stein vom Herzen, das zusätzlich Geld löste zumindest die finanziellen Probleme. „Sorry, Gott, und danke für deine Hilfe“, entschuldigte sich Nele still für die vorangegangenen Vorwürfe.

Nele hatte sich schon nach kurzer Zeit gut im Pfarrheim eingearbeitet. Lisa und sie nutzten die wenigen Tage bis zu ihrem Mutterschutz, um alles ordnungsgemäß in Neles Aufgabenbereich zu übertragen, und es klappte im Großen und Ganzen gut. In dieser Zeit lernte Nele dann auch Noah kennen, Lisas Ehemann. Die beiden waren ein schönes Pärchen, freuten sich von ganzem Herzen über den Nachwuchs, der bald das Licht der Welt erblicken würde. Und Nele freute sich für die beiden, sosehr hatte sie Lisa in dieser kurzen Zeit ins Herz geschlossen, aber das beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit, sie verstanden sich einfach hervorragend.

Auch Neles Söhne Samuel und Jonas hatten sich bereits daran gewöhnt, statt nach Hause zu fahren, gewisse Zeiten im Pfarrheim zu verbringen. Es war wie ein zweites Heim, in dem alle willkommen waren. Und das zauberte ein gutes, geborgenes Gefühl in Neles Herz. Auch wenn Lisa jetzt nicht mehr arbeiten durfte, hatten sie engen Kontakt und fieberten gemeinsam auf die Geburt hin. Und Lisa war es auch, die Nele wieder dazu brachte, sich für den Glauben an Jesus Christus zu interessieren. Denn Lisa wollte, dass Nele die Kinderliturgie übernahm. Einmal im Monat gab es im Pfarrheim einen Kinderwortgottesdienst, bei dem es möglich war, im Sitzkreis ganzheitlich mit den Kindern zu arbeiten mit Liedern, Bildern und vielen Bewegungen, damit die Kleinen mit ganzem Herzen mitfeiern konnten. Nele gefiel diese lockere und spielerische Art, mit der Lisa den Kindern die Geschichten aus der Bibel erzählte und mit viel Gefühl die Herzen der Kinder für Gottes Liebe öffnete. Nele war über alle Maßen wissbegierig und löcherte Lisa mit Fragen, den schon beim nächsten Gottesdienst mit den Kindern musste sie allein zurechtkommen, aber sie freute sich darauf, das war eine neue Herausforderung. Und schließlich war es nicht viel anders als ihre Arbeit als Musiklehrerin, hier galt es auch, die Kleinen zu begeistern, damit sie mit Freude ihr Instrument lernten, in Neles Fall das Klavierspielen.

Nele las nun auch ab und zu wieder für sich in der Bibel. Als sie die Geschichten über Jesus las, verstand sie ihren verstorbenen Mann besser, was seinen unerschütterlichen Glauben betraf. Sie verstand nun, dass sein Tod niemals eine Strafe gewesen war, sondern wahrscheinlich eine Erlösung von seiner Erkrankung. Im Himmel gab es keine Schmerzen für Jan mehr. Nele verstand wieder, wie wichtig Gottes Liebe war. Wie ein kleines Kind saugte sie diese kostenlos geschenkte Zuneigung auf. In ihrem Herzen wuchsen die Hoffnung und der Wunsch, diese Liebe auch wieder weitergeben zu können. Dankbarkeit erfüllte sie, denn Gott ließ ihre Wunden heilen. Es tat Nele gut, endlich wieder den Boden unter den Füßen zu spüren.

Als endlich das Finanzielle durch die erfüllende, neue Arbeit gefestigt war, regte sich der Wunsch nach einem Mann erneut bei Nele. So kramte sie abermals unsicher die Liste hervor und las den nächsten Namen darauf: Frederic.

Kurz entschlossen engagierte Nele wieder Martha als Babysitterin und machte sich auf den Weg. Es war leicht, Frederic im Internet zu finden, denn er war der Erbe eines Familienunternehmens, eine über das Land hinaus bekannte Konditorei mit verschiedenen Standorten.

Nele kannte Frederic von einem Sommerlager, eine musikalische Freizeit für Jugendliche. Es war damals eine kurze Romanze zwischen den beiden entbrannt. Der allererste Kuss ging auf sein Konto. Musizieren wurde in seiner Anwesenheit zur Nebensache, so verliebt war sie gewesen. Doch zurück zu Hause, war das Ganze nach einigen Monaten und vielen verschickten Briefen wieder vergessen, die Entfernung war einfach zu weit. Damals waren fünfzig Kilometer ein unüberbrückbares Hindernis.

Nele stieg, am Ziel angelangt, aus dem Auto aus. Staunend betrachtete sie das riesige Kaffeehaus mit der dazugehörigen Backstube, die die anderen Filialen der Konditorei täglich belieferte und durchaus einen angesehenen Bekanntheitsgrad besaß. Schüchtern trat sie ein und bestellte sich Kaffee und Kuchen. Als die Kellnerin beides brachte, erkundigte sich Nele vorsichtig nach dem Chef des Hauses und ob er zu sprechen wäre. Die Kellnerin versicherte ihr, dass er da sei, aber sie müsste erst fragen, ob er Zeit für ein Gespräch mit Nele hätte. So verschwand sie und kehrte nach wenigen Minuten mit Frederic zurück. Er hatte sich kaum verändert, bis auf die Tatsache, dass er nun erwachsen war und die Zeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Aber sein Gesicht war unverkennbar. Nele musste lächeln, denn zumindest beim Aussehen gab es diese Mal keine großen Überraschungen.

„Grüß Gott. Stimmt etwas mit dem Kuchen nicht?“, erkundigte er sich zuvorkommend und höflich.

„Nein, alles bestens. Ich wollte dich nur wiedersehen, Frederic“, wagte sich Nele vor.

Frederic verengte seine Augen zu Schlitzen und musterte Nele, ehe ihm ein Licht aufzugehen schien. „Nele, das süße Mädchen, das mich mit ihren Küssen im Sommerlager verzaubert hat“, sagte er charmant und setzte sich ungefragt an den Tisch. Er nahm Neles Hand in die seine und küsste ihren Handrücken. „Schön, dich wiederzusehen“, erklärte er lächelnd.

Neles Herz hüpfte vor Freude. „Ich freue mich auch sehr“, gab sie zurück.

Es folgte ein zweistündiges Gespräch über alte Zeiten. Nele versank in seinen wunderschönen braunen Augen. Frederic war sympathisch und charmant, alles an ihm schien zu stimmen. Nele war zufrieden, das Wiedersehen verlief sehr erfreulich. Es war fast so, als wäre dazwischen keine Zeit vergangen, sie verstanden sich auf Anhieb blendend. Noch dazu hielt er die ganze Zeit hindurch Neles Hand, das Gefühl seiner Berührung war sehr angenehm und ließ Neles Hoffnung weiterleben.

„Möchtest du die Konditorei sehen? Also die Backstube, in der wir unsere süßen Leckereien herstellen?“, fragte Frederic.

Nele willigte ein und folgte ihm. Es war spannend, zu sehen, welcher Aufwand für das vielseitige Angebot der Konditorei betrieben wurde, es war ein Zuckerbäckerparadies, Kreativität und unverfälschter Geschmack wurden hier eindeutig großgeschrieben. Zum Schluss der Führung zeigte Frederic Nele sein Büro. Kaum hatte er die Tür zugemacht, zog er Nele an sich. Er küsste sie auf die Lippen und brachte Nele in Gedanken durch diese spontane Berührung zurück in die Vergangenheit, als sie Frederic damals zum ersten Mal küsste. Es tat gut, ihn spüren zu können, es war genauso schön wie damals. Nele war sichtlich aufgeregt. Doch er war kein Teenager mehr und seine Hände knöpften nun gekonnt Neles Bluse auf. So etwas hätte er damals nicht getan. Und auch jetzt wollte es Nele nicht überstürzen, auch wenn sie sich sehr nach Nähe sehnte. So trat sie einen Schritt zurück.

„Frederic, es ist wunderschön, dich zu küssen, aber ich will es nicht übertreiben fürs erste Mal. Ich würde dich gerne besser kennenlernen“, sagte sie mutig.

Frederic sah beschämt zu Boden und stammelte: „Nele, ich bin verheiratet und habe eine drei Monate alte Tochter. Es tut mir leid, ich dachte mir, ich könnte einmal mit dir schlafen. Es ist nur, ich habe es mir immer gewünscht, dich so spüren zu können. Es war nicht richtig, ich sollte meine Frau nicht betrügen. Ich glaube, es war ziemlich unüberlegt von mir.“

Nele blieb der Mund offen. Es war ihr jetzt peinlich, hier zu sein. Warum hatte sie nicht gleich nach einer Ehefrau gefragt? Natürlich stand seine Familie an erster Stelle! Genau diesen Fehler wollte sie nicht begehen. Schleunigst verschwand sie aus seinem Leben und rannte weg, ohne sich umzudrehen. Immer mehr wuchs ihr die Sache über den Kopf, jetzt brachte sie schon Familienväter dazu, sich zu entschuldigen. Sie war eindeutig kein guter Mensch. Durch Wut und Verzweiflung legte sich ein Tränenschleier über ihre Augen, während sie nach Hause fuhr. Ihr Leben glich immer mehr dem einer Achterbahnfahrt.

Nele suchte umgehend Hilfe bei Martha, die mit ihrer Hab-ich-dir-doch-gleich-gesagt-Rede keine große Hilfe war. Dass sie heute einen schweren Fehler begangen hatte, wusste Nele selbst. So packte sie ihre Jungen zusammen und brachte sie nach Hause, um von dort aus Lisa anzurufen. Vielleicht konnte diese ihr weiterhelfen.

Lisa zeigte mehr Verständnis, konnte ihr aber auch nur zur Geduld und zum Vertrauen in Gottes Plan raten. Das war Nele mittlerweile zu wenig handfest. Sie wollte doch nur glücklich sein, war es leid, zu warten. Es fühlte sich schrecklich an, ohne die zärtliche Liebe, die Jan immer für sie übrig gehabt und die so unendlich gutgetan hatte.

Nele fiel durch den Vorfall erneut in ein tiefes Loch, ließ es in ihrer Trauer zu, komplett abzustürzen. Allen Vernunftgründen zum Trotz betrank sie sich und leerte Weinglas um Weinglas, während Samuel und Jonas schliefen. Der Alkohol und die tiefe Einsamkeit machten Nele schläfrig. Sie war gerade dabei, einzunicken, als das Telefon läutete.

„Nele? Hier ist Noah. Lisa hat unser Baby zur Welt gebracht. Wir wollen es nach dir benennen, Nele, und dich fragen, ob du seine Patin wirst. Kannst du herkommen?“, flötete Lisas Ehemann aufgeregt ins Telefon.

Nele vergaß über die Euphorie, dass sie zu betrunken war, um mit dem Auto fahren zu können. Sie weckte kurzerhand ihre Söhne und setzte sich hinters Steuer mit ihren Kindern auf der Rückbank, was keine gute Entscheidung war. Doch weit kam sie nicht, schon nach der ersten Kurve verlor sie die Kontrolle über den Wagen und krachte trotz Vollbremsung in eine Straßenlaterne. Erschrockene Passanten holten umgehend Hilfe. Die Rettung brachte Mutter und Kinder ins Krankenhaus. Samuel hatte eine Platzwunde am Kopf und Jonas einen gebrochenen Arm. Nele selbst hatte zwei gebrochene Rippen und musste operiert werden.

Als sie aus der Narkose erwachte, plagte Nele das schlechte Gewissen, alles lief wieder einmal schief in ihrem Leben. Den Führerschein war sie mit Sicherheit los und ihre eigenen Kinder hatte sie in Lebensgefahr gebracht. Wie sollte sie sich selbst ihr dummes Verhalten verzeihen? Nele weinte, keine der Krankenschwestern konnte sie beruhigen, ehe die Tür aufging und genau die fünf Menschen eintraten, bei denen Nele sich dringend entschuldigen musste.

Als Erster stürmten Samuel und Jonas auf ihre Mutter zu und umarmten sie vorsichtig. Nele stöhnte trotzdem auf vor Schmerzen. „Jungs, es tut mir so leid, dass ich euch in Gefahr gebracht habe“, sagte Nele aufrichtig.

„Passt schon, Mama. Wir sind so froh, dass du lebst“, gab Samuel zurück.

„Wir hatten alle unbeschreibliches Glück. Der Arzt meinte, dass ein Schutzengel über uns gewacht hat“, ergänzte Jonas.

„Ja, da hat er wahrscheinlich recht“, versuchte Nele, positiv zu klingen. Dann lenkte Nele ihre Aufmerksamkeit auf das Trio, das noch im Zimmer stand – beziehungsweise saß und lag. Denn Noah hatte Lisa in einem Rollstuhl hereingebracht und sie hatte das neugeborene Baby am Arm liegen.

„Darf ich vorstellen, das ist Nele“, sagte Lisa ohne Vorwürfe in der Stimme.

Nele musste nun wieder weinen, aber dieses Mal vor Freude. „Es tut mir so leid, was ich angerichtet habe“, gestand Nele.

„Gott hat dir längst verziehen, damit du es in Zukunft besser machen kannst. Warum sollten wir dich dann verurteilen?“, erklärte Noah.

„Ihr seid so wunderbare Menschen“, schniefte Nele.

Lisa legte Nele das Baby in den Arm und fragte: „Magst du ihre Patin werden?“

„Nichts lieber als das“, freute sich Nele dankbar.

Das Geschenk, das ihr das Leben in diesem Moment machte, war unbezahlbar. Klar musste Nele noch die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen. Aber das war ihr momentan egal, denn ihre Söhne waren am Leben und verziehen ihr und Lisas kleine Familie war nicht einmal böse auf sie. Ganz im Gegenteil, sie vertrauten ihr weiterhin. Nele war glücklich und wieder felsenfest sicher, Gott meinte es doch gut mit ihr.

Und Nele hielt endlich daran fest, sodass eine dankbare Zeit an Gott folgte. Es war wie ein Neuanfang, ihre Fehler war verziehen und das beflügelte Nele, dankbarer für die wertvollen Menschen und wichtigen Dingen des Lebens zu sein. Sie haderte auch nicht mehr mit der Tatsache, alleinerziehende Mutter zu sein, denn sie war so glücklich, dass ihren Kindern bei dem Unfall nichts zugestoßen war und dass sie ihre Entschuldigung akzeptiert hatten.

Nele musste zwar eine Nachschulung machen, um ihren Führerschein zurückzubekommen, aber sie empfand das als gerecht. Für ihre erneute Mobilität lernte sie fleißig und stotterte ihre Geldstrafe vom Gehalt ab. Es war trotzdem gut so, die Freude darüber, dass nicht mehr passiert war, überwog eindeutig.

Nele erlaubte es sich einfach wieder, glücklich zu sein – gemeinsam mit ihren beiden Söhnen. Sie verbrachten viel mehr Zeit mit Lisas Familie, um die frischgebackenen Eltern zu entlasten. Nele konnte auch die Zeit mit dem Baby richtig genießen. Es war einfacher, ein fremdes Kind zu hüten, als wenn man selbst ein schreiendes Bündel zu Hause hatte, das einen manchmal bis zum Rande der Erschöpfung brachte und in anstrengenden Phasen scheinbar kein Ende in Sicht war.

Doch eines war sehr merkwürdig in dieser freudigen Zeit. Der Traum von Peristera kehrte fast jede Nacht wieder. Er wiederholte sich unaufhörlich, sodass Nele Peristera immer wieder zuschaute, wie sie die Inschrift am Altar anbrachte. Aber Nele konnte nicht erkennen, was sie schrieb, denn sie wachte stets im entscheidenden Moment auf. Dieser Traum verwirrte Nele immer mehr. Was hatte Peristera mit ihrem Leben zu tun? Und warum konnte sie nicht erkennen, was so wichtig war, dass die fremde Frau es in den Altar ritzte?

Nach ein paar Wochen kramte Nele noch einmal die Liste hervor, und zwar zum letzten Mal. Ein einziger Name stand noch darauf. Sie hatte zwar keine Hoffnung mehr, dass der letzte Mann der Richtige für sie war, aber der Vollständigkeit halber beschloss Nele, ihn doch noch zu besuchen. Doch dieses Mal war es ein reiner Freundschaftsbesuch, denn Nele wollte sich nicht erneut in Teufels Küche bringen, die vorangegangene Begegnung war ihr eine Lehre gewesen.

Beeindruckt fuhr sie wenig später bei der Villa vor, in der Julian lebte. Er hatte sich in den letzten Jahren mit einer brauchbaren App fürs Smartphone dumm und dämlich verdient. Er war vor langer Zeit ein Mitschüler von Nele und hatte sie getröstet, als Philipp sie damals verlassen hatte. Kurz ließ sie ihn in ihr Herz, ehe sie beschloss, nie wieder einen Mann zu lieben. Sie wollte bis an ihr Lebensende Single bleiben. Damit waren Julians Chancen bei ihr zunichtegemacht, er war ihr zum falschen Zeitpunkt zugetan. Nele musste über diese Erinnerungen laut auflachen, denn aus heutiger Sicht war ihr Verhalten sehr naiv gewesen. In so jungen Jahren jeglicher Beziehung abzuschwören, war mehr als komisch. Damals hatte sie echt keine Ahnung vom Leben.

Nele versuchte, gefasst zu wirken, und läutete mutig bei dem Haus mit Schlosscharakter an. Ein Butler öffnete und erkundigte sich nach alter Schule nach ihrem Befinden und ihrem Begehr. Es war, als wäre man in vergangene Zeiten zurückversetzt durch sein förmliches Getue. Der Hausdiener führte sie höflich und zuvorkommend zu Julian, der sich über den Besuch durchaus freute. Sofort erkannte er Nele und umarmte sie freudig.

Nach kurzem Small Talk zeigte Julian Nele das Anwesen mit Schwimmbad, Golfplatz und romantisch angelegten Gärten. Prunk erstreckte sich, wohin das Auge reichte, es wirkte wie in einem Märchen. Nebenbei plauderten sie über sein Leben. Er war geschieden, hatte aber keine Kinder, weil seine Ex-Frau wegen ihrer Figur nicht schwanger sein wollte. Er versicherte Nele aber, dass er Kinder liebte und etwas enttäuscht war, weil er keine hatte.

Nele begann unbewusst darüber nachzudenken, ob sie mit Julian einen Volltreffer gelandet hatte. Ihr Vorsatz, nur in freundschaftlicher Absicht zu kommen, war auf einmal wie vom Wind weggeblasen. Blitzschnell, eigentlich viel zu überstürzt, verabredeten sie sich zu einem Dinner in seiner wunderschönen Villa in ein paar Tagen, denn Julian musste noch zu einem Termin im Ausland und vertröstete Nele höflich auf das geplante Wiedersehen. Nele freute sich wie ein kleines Kind. Hochrot vor Nervosität begab sie sich nach Hause. Doch ein leiser Anflug von Panik kroch erneut in ihr Herz. Was dachte sie sich dabei? Wahrscheinlich gar nichts, sonst hätte sie nicht schon wieder alle Register der Hoffnung gezogen, doch noch einen Mann zu finden, der ihr Leben bereichern könnte.

Martha war überrascht, dass Nele sobald zurück war. Auch ihre Söhne Samuel und Jonas wollten noch nicht gehen, denn sie waren gern bei Martha. So blieb Nele auf einen Kaffee und tratschte mit ihrer langjährigen Freundin. Diese warnte sie erneut und holte Nele auf den Boden der Tatsachen zurück, als sie erklärte, dass Julian schon in der Schulzeit sehr eigenartig war. „Pass bloß auf“, waren ihre Worte.

„Ja, du hast ja recht. Aber waren wir nicht alle von der Rolle in unserer Pubertät und benahmen uns wie von einem anderen Stern?“, erwiderte Nele.

„Das schon, aber Julian benahm sich manchmal etwas wie ein Psychopath. Entschuldigung, dass ich das so sage, aber es war echt nicht normal, wie er sich verhielt. Ich hätte ihm eher eine Karriere als Triebtäter zugetraut“, gab Martha eiskalt von sich.

Nele starrte sie ungläubig an. Das war doch nicht ihre warmherzige Freundin, die da sprach! „Bist du eifersüchtig? Oder würdest du mir mein Glück nicht vergönnen, falls Julian doch der Richtige ist?“, fragte Nele patzig.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich möchte dich nur vor einem weiteren großen Fehler bewahren. Ja, es klingt hart, aber ich würde es in Erwägung ziehen, dass es immer noch sein könnte, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat. Weißt du nicht mehr, was damals vorgefallen ist?“, seufzte Martha ehrlich besorgt.

Nele starrte auf ihre Fingernägel und piepste kleinlaut: „Doch. Er hat mich eine Stunde in sein Kinderzimmer gesperrt, weil ich ihm gesagt habe, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann.“

„Da siehst du es. Das ist nicht normal“, ermahnte Martha sie.

„Aber er hat sich hundert Mal entschuldigt. Außerdem waren wir fast noch Kinder“, rechtfertigte sich Nele.

„Wie du meinst, ich habe dich gewarnt“, sagte Martha mit strengem Blick. Damit war das Thema Julian für diesen Tag abgehakt. Doch das ungute Gefühl in Neles Herzen war ein Stück weit gewachsen. Hatte ihre Freundin doch recht? Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.

Zwei Tage später gab es die nächste Überraschung. Lisa rief Nele aufgeregt in der Pfarre an und berichtete, dass ein Aushilfspriester für die Pfarrgottesdienste und ein paar weitere seelsorgliche Pflichten heute noch zu ihr kommen würde, um Lisas Mutterschutz zu überbrücken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es immer geheißen, dass kein Personal für die Vertretung zur Verfügung stünde.

Na gut, dann musste sich Nele nun neu arrangieren, damit der Geistliche seine Arbeit machen konnte und sie ihm nicht in die Quere kam. Leise schickte sie ein Stoßgebet zu Gott, er möge einen aufgeschlossenen, offenen Priester schicken und keinen verbohrten, der die Zusammenarbeit erschweren würde.

Als es am späten Vormittag dann an der Tür klopfte, meldete sich Nele laut mit einem einfachen: „Herein!“

Als der Geistliche den Raum betrat, blieb Nele unbeabsichtigt der Mund offenstehen. Damit hatte sie nicht gerechnet, vor ihr stand ein junger, dunkelhaariger und hübscher Mann, der höchsten fünf Jahre älter war als sie selbst. Er passte keineswegs in das Bild, das Nele bislang von Priestern hatte. Alle, die sie bis jetzt kannte, waren mindestens über fünfzig Jahre alt.

„Ich bin Pater Nikolaos“, stellte sich der junge Mann schüchtern vor. Nele, die erst jetzt bemerkte, dass sie den Geistlichen peinlich anstarrte, ohne ein Wort zu sagen, löste sich aus ihrer unpassenden eingefroren wirkenden Körperhaltung, gab ihm höflich die Hand und nannte freundlich ihren Namen. Lächelnd und sichtlich erleichtert, dass Nele doch noch reagiert hatte, fügte er hinzu: „Ich bin der Aushilfspriester, ich soll einige Aufgaben der Pastoralassistentin übernehmen, die gerade ein Baby bekommen hat.“

Nele schoss der Gedanke in den Kopf, dass sein Akzent irgendwie süß war. Schnell ermahnte sie sich innerlich, dass man über einen Geistlichen nicht so dachte. Trotzdem fragte sie: „Woher kommen Sie? Also, woher stammt Ihr Akzent?“

„Ich komme ursprünglich aus Griechenland. Darf ich Ihnen das Du anbieten? Es ist mir lieber, weil es persönlicher ist“, sagte er förmlich.

„Ja natürlich. Ich bin Nele.“

Dann zeigte sie ihm das Pfarrheim und die Kirche, damit er seine Arbeit aufnehmen konnte. Sie erklärte die wichtigen und weniger wichtigen Details, wie immer war sie nervös, wenn etwas neu war. Pater Nikolaos machte es Nele aber leicht, seine ungezwungene und lockere Art beeindruckte sie. Er erzählte ihr sogar eine Geschichte über die heilige Lucia, deren Darstellung sich in einem Seitenaltar der Kirche befand. Die Legende über die Lichtbringerin, die schon in so jungen Jahren die Armen versorgte, Trost spendete und ihnen Gottes Wort nahebrachte, beeindruckte Nele noch mehr. Der Priester konnte so lebendig erzählen, dass die Botschaft der Geschichte direkt ins Herz ging. Das war eine Gabe, die ihn sicher zu etwas ganz Besonderem machte. Nele konnte sich vorstellen, dass die Menschen, die hier wohnten, ihn sehr gernhaben würden.

Und Nele behielt recht, Nikolaos begeisterte bereits in den wenigen Tagen, die er da war, die Pfarre und deren Mitglieder. Er war warmherzig und hörte den Menschen zu, ehe er mit seinen guten Worten Zuwendung und Vertrauen schenkte. Dadurch wurde er bei den meisten mit offenen Armen empfangen. Die paar, die ihn noch argwöhnisch anblickten, würden sich auch noch an seine Anwesenheit gewöhnen, da war sich Nele ziemlich sicher. Sie selbst hatte endlich jemanden gefunden, der ihr Gottes Gegenwärtigkeit in ihrem Leben sehr bildhaft erklären konnte. Sie verbrachte gerne Zeit in seiner Nähe, um ihm zu helfen, sich einzuleben, denn sie profitierte selbst davon. Sogar ihre Söhne fanden den neuen Priester cool. Nur die Tatsache, dass Nikolaos sehr hübsch war, irritierte Nele. Deshalb war sie mehr als erleichtert, als es endlich zum Date mit Julian kam.

Das Zusammentreffen mit Julian lief im Großen und Ganzen gut. Nele war bei ihm zu Hause in seiner prunkvollen Villa. Er hatte sie im Vorfeld gebeten, einen Bikini mitzubringen. Und so sonnten sie sich gemeinsam am Pool, tranken Cocktails und gingen im lagunenartigen Blau schwimmen. Im Wasser benahmen sich die beiden albern, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser und begannen, wie Jugendliche zu rangeln.

Plötzlich drückte Julian Nele an sich und küsste sie. Nele freute sich über diese zärtliche Berührung, dieses Mal sprach ja nichts dagegen. Doch die Begeisterung war von kurzer Dauer, denn Julians Hände wanderten gleich zu ihren Brüsten und er flüsterte ihr ins Ohr: „Ich will mit dir schlafen.“

Nele löste die Umarmung und erwiderte: „Julian, das geht mir zu schnell.“

Unvermittelt schrie er hysterisch los: „Was soll das? Küssen lässt du dich und dann machst du einen Rückzieher?“

Nele starrte ihn schockiert an, seine Reaktion war eindeutig überzogen.

Julians Miene hellte sich aber wieder auf, reumütig gestand er: „Entschuldigung, Nele, das war dumm von mir. Mein Stress in der Arbeit steigt mir viel zu sehr zu Kopf. Ich hatte heute schon einen schrecklichen Tag. Natürlich darfst du das Tempo bestimmen.“

Nele war hin- und hergerissen, als er sie erneut vorsichtig küsste. Aber dieses Gefühl auf ihren Lippen, das sie seit Jahren nicht gespürt hatte, entfachte die Sehnsucht in ihrem Herzen nach Zuneigung und zärtlicher Nähe. So ließ sie ihn gewähren, verzieh ihm innerlich seinen eigenartigen Wutausbruch. Doch das ungute Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, fand trotzdem weitere Nahrung und war keinesfalls aufgehalten.

Pater Nikolaos überraschte Samuel und Jonas mit einem Ausflug zu einem Fußballspiel. Die Jungen freuten sich riesig und ihre Mutter war glücklich, dass sie es im Vorfeld dem Priester erlaubt hatte, ihre Jungs mitzunehmen. Er kümmerte sich rührend um die beiden. Sie schlossen ihn sofort in ihr Kinderherz, da sie endlich ein männliches Vorbild hatten, welches ihnen seit dem Tod ihres Vaters so sehr gefehlt hatte. Nele freute dieser Anblick, wie sehr hatten ihre Söhne es verdient, dass es ihnen gut erging nach alledem, was sie in der Vergangenheit hatten durchmachen müssen, als sie ihren Vater verloren.

Nele fuhr inzwischen zu Julian, um mit ihm zu sprechen. Die Zweifel, dass sie die Finger von ihm lassen sollte, verstummten nicht in ihr. So löcherte sie ihn mit Fragen, die er charmant und zuvorkommend beantwortete. Er küsste sie erneut und die Hoffnung auf ein Happy End keimte in Nele wieder auf. Er versprach sogar, sie nie wieder zu bedrängen. Fröhlich machte sie sich auf den Nachhauseweg und wischte die übrig gebliebenen Zweifel weg. Vielleicht konnte es wirklich sein, dass sie einfach einmal Glück hatte.

In Neles Garten wurde gegrillt, als sie zu Hause ankam, ihre Söhne und Nikolaos schrien lautstark und euphorisch: „Überraschung!“

Und der Priester fügte noch hinzu: „Die gemeinsame Zeit beim Fußballspiel war so kurz, jetzt dachten wir, dass ein gemeinsamer Grillabend nett wäre. Ich hoffe, du freust dich.“

„Und wie!“, strahlte Nele übers ganze Gesicht.

Gemeinsam mit ihren Jungen deckte sie den Tisch und stellte ein paar dekorative Kerzen dazu, die herrlich dufteten, als man sie entzündete. Das gesellige Essen war kurzweilig und lustig. Sie hielten sich die Bäuche vor Lachen. Die vier hatten fast den Anschein einer glücklichen Familie. Wenn man nicht wusste, dass Nikolaos Priester war, würde man ihn als Außenstehender in diesem besonderen Moment für den Familienvater halten.

„Gibst du mir den Salat?“, bat der Priester. Als Nele ihm die Schüssel reichte, berührten sich zufällig ihre Finger. Es war elektrisierend und steigerte sich zu einem warmen, wohligen Empfinden auf Neles Haut. Sie schämte sich in Gedanken für ihre unpassenden Gefühle. Schließlich hatte er ein Gelübde abgelegt. Trotzdem sollten dieser idyllische Abend und Nikolaos selbst ihr in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Der Traum von Peristera kehrte zurück. Wieder stand Nele in der mittelalterlichen Kirche und beobachtete die Frau, als sie die Inschrift am Altar anbrachte. Die Männer zerrten Peristera wenig später gewaltsam hinaus, die Schreie der johlenden Menschenmenge drangen abermals in das heilige Gemäuer und hallten von den Wänden hernieder. Nele zog es nach draußen, um die Errettung vom Scheiterhaufen durch den Engel zu sehen. Aber kurz hielt sie inne und entschied sich doch anders. Sie ging zum Altar und sah zum ersten Mal klar die fremdartigen Zeichen vor sich, die Peristera in den Stein geritzt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund verstand Nele, was dort stand, obwohl sie sicher war, diese Sprache nicht gelernt zu haben. Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung, stand dort geschrieben. Vor Schreck taumelte sie zurück und fiel – das war unmöglich.

Schreiend wachte sie auf, ihr Herz raste. Keuchend versuchte Nele, zur Besinnung zu kommen. Was sollte das? So etwas konnte und durfte nicht sein, was sich ihr Unterbewusstsein da über alle Maßen Verrücktes ausmalte. So tat sie den Traum als Hirngespinst ab, etwas anderes war einfach nicht vorstellbar. Anscheinend war sie doch noch verwirrter, als sie angenommen hatte. Schließlich hatten sich viele Glücksmomente in ihrem Leben eingestellt.

Das Telefon läutete, Nele ging ran und eine aufbrachte Martha meldete sich am anderen Ende: „Nele, triff dich bitte nicht mehr mit Julian. Ich habe gerade erfahren, dass er beschuldigt wird, mehrere Frauen sexuell belästigt zu haben.“

Nele atmete tief durch, ehe sie antwortete: „Es würde mich interessieren, wer das behauptet.“

„Ich habe es von einer Nachbarin, deren Schwester hat eine Freundin und deren Ehemann ist mit einem Staatsanwalt befreundet, der den Fall zugeschrieben bekommen hat.“

„Martha, tut mir leid, für solch eine Gerüchteküche habe ich keine Zeit. Julian besucht mich gleich“, tat Nele die Worte ihrer Freundin ab.

„Nein, Nele, lass ihn nicht herein“, flehte Martha ängstlich.

„Das ist doch lächerlich. Meine Jungen sind bei Pater Nikolaos und Julian und ich machen uns einen schönen Nachmittag“, sagte Nele nachdrücklich und legte auf, als Julian auch schon an der Tür läutete.

Er bezauberte Nele erneut mit seinen zärtlichen Küssen. Diesmal ließ Nele es zu, dass er ihre Brüste leicht massierte, es war ein angenehmes Gefühl. Julian stöhnte ihr erregt ins Ohr: „Schlaf mit mir.“

Doch dafür war Nele noch immer nicht bereit, zu Sex gehörte mehr als nur anfängliche Schwärmereien. Sie machte ihren Standpunkt klar und weigerte sich erneut, sich zu früh für diese besondere Intimität zu öffnen. Doch Nele hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Julians Augen blitzten wutentbrannt auf, er verbog blitzschnell Neles Hände und hielt sie fest. Sie schrie laut auf vor Schmerz, aber Julian kümmerte das wenig. Er versuchte, Nele die Hose auszuziehen, während er sie gewaltsam fest umklammerte. Nele war nun eindeutig klar, dass er sie zu vergewaltigen versuchte. Sie probierte panisch und mit aller in ihr steckenden Kraft, sich zu wehren, aber sie hatte keine Chance gegen ihn. Verzweifelt flehte sie Julian um Erbarmen an, doch der dachte gar nicht daran.

Genau in diesem Moment stürmte Nikolaos das Zimmer, riss Julian mit unmenschlicher Stärke in die Höhe und schleuderte ihn gegen die Wand. Dieser blieb bewusstlos am Boden liegen. Nele weinte, einerseits wegen des Schocks, andererseits aus Erleichterung. Der Priester hob sie behutsam hoch auf seine Arme und trug sie ins Badezimmer. Seine sanften Augen schienen ihr in die verletzte Seele zu schauen. Diese wohlige Wärme, die Nikolaos’ Körper an Nele abstrahlte, war ein wunderbares Gefühl, sie fühlte sich in Sicherheit. Nele wünschte sich, für immer in seinen Armen liegen zu dürfen, um diese Geborgenheit spüren zu können. Dass sie seine Nähe nie haben könnte, weil er Geistlicher war, gab Nele das erste Mal einen Stich ins Herz. Er war ihr Held und Retter, mehr durfte das nicht bedeuten. Er hatte sie nur vor Julian bewahrt, von dem sie nicht glauben wollte, dass er zu so was fähig war. Als Nikolaos sie absetzte, um die Polizei zu rufen, blieb eine schmerzhafte Leere in Neles Herz. Vielleicht war es doch ihre Bestimmung, ohne Partner zu sein, und sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Schließlich durfte sie nicht undankbar sein, denn das, was sie mit Jan hatte erleben dürfen, durften nicht viele Menschen erleben – eine aufrichtige, ehrliche und intensive Liebe.

Die Sanitäter nahmen Julian im Rettungswagen mit, begleitet von der Polizei. Nele und Nikolaos mussten sich den langwierigen Befragungen der Beamten stellen und deshalb auf die Polizeistation mitkommen. Auf dem Revier stellte sich heraus, dass Nele mit einem blauen Auge davongekommen war, denn ihr Peiniger war tatsächlich bereits mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt worden, aber jede dieser Frauen hatte im Nachhinein die Anzeige zurückgezogen. Es lief bereits ein Ermittlungsverfahren, ob er seine Opfer zusätzlich unter Druck setzte, ihnen zusätzliche Angst und Schrecken einjagte, damit sein gewalttätiges Treiben nicht bestraft wurde von öffentlicher Hand.

Nikolaos durfte anschließend mit Nele die Polizeistation wieder verlassen. Schließlich hatte er in Notwehr gehandelt. Martha hatte ihn Gott sei Dank auf den Plan gerufen und war an seiner statt bei Samuel und Jonas, damit der Priester der Mutter der Jungen zur Rettung eilen konnte. Nele hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihrer Freundin nicht geglaubt und Martha ihr trotzdem umgehend geholfen hatte. Sie würde sich bei ihrer Freundin entschuldigen müssen.

Am verwirrendsten aber waren im Moment die unwillkommenen Gedanken, die Nele über Nikolaos im Kopf herumschwirrten. Er war ihr Held, aber das war nicht das Problem. Ein unbeschreibliches Verlangen nach diesem Mann machte sich in ihr breit. Auch das noch, konnte sie sich nicht im Zaum halten? Ihr Herz meldete sich anscheinend zu den unpassendsten Zeiten zu Menschen, gegenüber denen sie keine Zuneigung empfinden sollte. War seit dem Tod ihres Ehemannes irgendetwas falsch gepolt in ihrer Gefühlswelt? Oder war es eine unbewusste Reaktion ihres Verstandes, um ihr zu zeigen, dass sie immer noch nicht bereit war, einen anderen Mann zu lieben?

Plötzlich vermisste sie Jan schmerzlich, wäre er doch nicht gestorben, hätte sie niemals über so etwas nachdenken müssen. Wieder einmal wünschte sie sich, dass er nie krank geworden wäre, aber Wünsche brachten einen im Leben leider nicht weiter.

Um von ihrem eigenen Gefühlschaos abzulenken, erzählte Nele Nikolaos von ihrem wiederkehrenden Traum von Peristera, natürlich ohne die Worte der Inschrift zu erwähnen.

„Ich kenne diese Geschichte. Die Kirche in meinem Heimatort ist der heiligen Peristera geweiht“, erklärte der Priester.

Nele starrte ihn fassungslos an: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte, das sind Hirngespinste.“

Nikolaos redete einfach weiter: „Die Inschrift, die sie am Altar anbrachte, konnte bis heute keiner deuten. Das ist sehr geheimnisvoll und faszinierend für die Menschen, deshalb kommen viele, um das Geschriebene zu sehen. Warte, ich glaube ich weiß noch, was sie eingraviert hatte: Nele, die Liste bringt dir kein Glück. Nikolaos ist deine Bestimmung.“ Jetzt starrte der Priester Nele in peinlicher Stille an, ehe er sie fragte: „Welche Liste?“

Nele konnte sich vor lauter Schreck nicht einmal eine Notlüge zusammenbasteln, sie stammelte: „Ich hatte eine Liste von Männern, Bekanntschaften aus meiner Vergangenheit. Ich hoffte, dadurch wieder einen Ehemann zu finden, was im Nachhinein gesehen sehr naiv war, denn Julian stand auch auf dieser blöden Liste.“

Nikolaos hörte einfach nicht auf, Nele mit offenem Mund anzublicken. In ihr stieg Panik hoch. Wie konnte sie einem Geistlichen nur so etwas sagen? Was dachte er jetzt bloß? Natürlich musste er schockiert sein. Der Fluchtinstinkt meldete sich in ihr, Nele machte auf dem Absatz kehrt und ließ den erstaunten Priester einfach stehen. Hoffentlich würde er ihr irgendwann dieses peinliche Gespräch verzeihen, aber für den Moment musste sie einfach nur weg, es war besser so.

Nachdem sich alles etwas gesetzt hatte und genügend Zeit vergangen war, verbrannte Nele die Liste, die ihr eindeutig kein Glück gebracht hatte, und beschloss, sich mehr ihren Söhnen zu widmen. Sie entschuldigte sich auch bei Martha. Sie war eine sehr gute Freundin, denn sie war kein bisschen böse, hatte sich nur große Sorgen gemacht und das zu Recht – Julian saß im Gefängnis und wartete auf seinen bevorstehenden Prozess.

Außerdem organisierte Nele eine gemütliche Gartenparty zur Taufe von Lisas Baby. Die frischgebackene Mutter freute sich riesig über dieses besondere Geschenk der Taufpatin ihrer Tochter. Die Feier rundete die gelungene Taufe harmonisch ab und die Stimmung war glänzend. Die kleine Nele, die der Mittelpunkt der Feierlichkeiten war, schlief gerade seelenruhig in ihrem Kinderwagen und bekam von dem Trubel um ihre Taufe gerade nichts mit.

Nach ein paar Gläsern Wein hielt Nele eine Rede. Sie dankte darin Gott für die Ehe von Lisa und Noah und für das Mädchen, das aus dieser Verbindung hervorgegangen war und das heute getauft wurde, weil es Gottes geliebtes Kind war.

„Ich hoffe für dich auch, dass du noch einmal die Chance bekommst, zu heiraten“, sagte Lisa dankbar und merkte erst, als sie es vor allen ausgesprochen hatte, dass sie, ohne es zu wollen, wahrscheinlich einen wunden Punkt im Herzen von Nele getroffen hatte.

Aber diese reagierte souverän: „Ich bin eine starke Frau und komme ebenso gut allein zurecht. Meine beiden jungen Männer sind mir Geschenk genug, außerdem hatte ich eine wunderbare Ehe mit Jan. Prost auf die kleine Nele. Möge ihr ein glückliches, langes und vor allem gesegnetes Leben bevorstehen.“

Alle klatschten, nur einer war sichtlich unzufrieden. Nikolaos stand plötzlich eindeutig empört auf, sodass nur die gratulierende Nele und er standen, alle anderen blickten sie an und fragten sich wahrscheinlich, was das sollte. Unerwartet ergriff er ebenfalls vor versammelter Feiergemeinde das Wort: „Und was ist mit mir, Nele? Ich liebe dich und möchte mit dir zusammen sein.“

Ein schockiertes Tuscheln ging durch die Reihen. Nele war es peinlich, dass der Priester ihr öffentlich seine Liebe gestand, noch dazu im Beisein ihrer Söhne. Aber sie beschloss trotzdem, ehrlich zu sein: „Ich liebe dich auch, aber du bist doch Priester. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen dein Gelübde brichst. Die Menschen brauchen dich.“

Die Anwesenden hatten nun jede Aufmerksamkeit auf die beiden gerichtet. Es entging niemandem, dass Nikolaos aus vollstem Herzen auflachte. Keiner konnte sich dieses eigenartige Verhalten erklären. Ratlos blickten sich alle an. Aber er löste Gott sei Dank mit seiner Erklärung die peinlich anmutende Situation umgehend auf: „Nele, ich habe mich keinem Zölibat verpflichtet. Ich bin nicht römisch-katholisch, sondern griechisch-katholisch und gehöre somit zu den wenigen katholischen Priestern, die heiraten dürfen.“

„Es gibt in der katholischen Kirche verheiratete Priester?“, fragte Nele ungläubig nach.

„Ja, es sind sehr wenige, aber es gibt sie“, sagte er lächelnd.

Nele brauchte einen Moment, ehe sie begriff, was Nikolaos gesagt hatte. Dann stürmte sie auf ihn zu. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich. Ein unbeschreiblich gutes Gefühl erfüllte Neles Herz. Alle um sie herum applaudierten lautstark. Nele fand in diesem besonderen Augenblick ihr Glück wieder, alles ergab plötzlich einen Sinn. Gottes Schönheit hatte sich schon immer im Spiegel ihrer eigenen Seele gezeigt, nur war Nele das bis jetzt nicht ganz klar gewesen. Sie spürte deutlich das Geschenk eines wunderschönen Lebens, sie war wieder bei sich selbst angekommen.

Es war sogar fast so, als berührte Jan sanft ihre Schulter und flüsterte ihr zu: „Gut gemacht, Liebling. Du warst schon immer im Herzen Gottes zu Hause, darin liegt die wahre Schönheit des Lebens, im Lieben und Geliebt-zu-werden.“

Worte verletzen ... und Schweigen tötet

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