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Eine gemeinsame Sprache?

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Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Frage, über was adelige Go-Betweens redeten. Wir sollten jedoch auch einen kurzen Blick darauf werfen, wie sie redeten. Wie benutzten sie Sprache, um ihren Zielpersonen näher zu kommen? Und in welcher Fremdsprache verständigten sie sich überhaupt? Auf Englisch, Französisch oder Deutsch?

Für Wittgenstein sind „die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt.“ Eine sprachgeschichtliche Untersuchung des Adels kann uns daher nicht nur seine Kommunikationsfähigkeit erklären, sondern auch einen Einblick in seine Mentalität geben.

Der Adel gilt als ein in Aspik festgehaltenes Gebilde mit einer exklusiven Sprache, die fern von allen Außeneinflüssen existierte. Die „Verhöflichung des Kriegers“ hatte seit dem Mittelalter dazu geführt, dass die galante Rede zum Inbegriff adeliger Identität wurde.20 Im 19. Jahrhundert wurde die (angeblich) gekünstelte Sprechweise der Aristokratie immer mehr zur Zielscheibe der Kritik. Vor allem in Deutschland und Frankreich machte man sich über die „unnatürliche“ Sprache der Adligen und über ihre „weibischen“ Gesten lustig; beides galt als „unaufrichtig“. Noch Mitte der 1950er Jahre kritisierte man in Österreich das „schlechte Deutsch“ des Adels, das „mit ausländischen Wörtern durchsät“ sei.21 Dies war beileibe kein rein österreichisches Phänomen: In Großbritannien demonstrieren die Briefe der Geschwister Mitford eindrücklich die Besonderheiten adliger Sprache im 20. Jahrhundert. Bis heute gelten die Mitford-Schwestern als stark exzentrisch. Die hübscheren von ihnen, Diana und Unity, himmelten Hitler an, während die weniger attraktive Schwester Jessica Stalin verehrte. Es überrascht daher nicht, dass eine weitere Schwester, die politisch gemäßigte Nancy Mitford, ihre Familiengeschichte in mehreren Romanen verarbeitete. Doch abgesehen von ihren radikalen politischen Affinitäten sind die Mitfords bekannt dafür, dass sie untereinander in einer ganz speziellen Sprache kommunizierten. Heute finden Leser ihre Briefe entweder besonders charmant oder schier unerträglich. Aber was auch immer man von ihnen hält: Diese Briefe geben uns einen Einblick in die adelige Sprache.

Wie die Mitfords wuchsen die meisten adligen Mädchen in einem Kokon auf. Sie wurden in der Regel zu Hause unterrichtet, während ihre Brüder fortgingen – erst aufs Internat, später zur Armee oder auf die Universität. Durch diese Form der isolierten Erziehung wurden adlige Frauen automatisch zu Hüterinnen einer exklusiven Sprache.

Der entscheidende Aufsatz über die Sprache der englischen Oberschicht in der Zwischenkriegszeit – der bis heute kein deutsches Äquivalent hat – stammt von Nancy Mitford. Inspiriert wurde sie durch einen Artikel des Sprachwissenschaftlers Alan S. C. Ross über U-Sprache (u stand für upper-class, d.h. Oberschichtssprache) und Non-U-Sprache (non-upper-class). Beispielsweise bezeichnete die Oberschicht eine Toilette als „loo“ und einen Spiegel als „lookingglass“ (während die Mittelschicht dazu „toilet“ und „mirror“ sagte). 1956 veröffentlichten Ross und Mitford gemeinsam mit weiteren prominenten Autoren das Buch Noblesse Oblige. Böse Gedanken einer englischen Lady. Es machte so sehr Furore, dass zahlreiche Angehörige der verunsicherten Mittelschicht quasi über Nacht ihren Wortschatz änderten.

Obwohl Mitford bei ihrer Analyse einen durchaus ironischen Ton anschlägt, kam es nicht von ungefähr, dass eine Frau ihrer Herkunft Ross bei seinen Arbeiten half. Frauen der Oberschicht hielten am längsten an einer überhöhten Sprache fest, doch diese Strategie gefährdete vor allem in Großbritannien seit dem Ersten Weltkrieg immer stärker die gesellschaftliche Harmonie. Gerade der Oberschichtsakzent einer Nancy Mitford, die sich u.a. in einer freiwilligen Feuerwehrbrigade engagierte, wurde von anderen Feuerwehrhelferinnen als beleidigend empfunden – sie drohten sie aus der Feuerwehr zu feuern.22 Tatsächlich jedoch wollte Mitford niemanden verspotten, der Akzent war bei ihr, wie bei vielen Frauen der Oberschicht, so tief verwurzelt, dass selbst Nancys rebellische Schwester Jessica Mitford ihn nie ablegen konnte. Noch als engagierte Kommunistin klang sie wie eine Herzogin.

Die Männer des Adels und der Oberschicht waren von dieser gekünstelten Sprechweise weniger betroffen. Tonaufnahmen ihrer Stimmen aus den 1930er Jahren klingen relativ normal. In Deutschland war es sogar üblich, dass männliche Adlige einen lokalen Dialekt pflegten. Reichskanzler Otto von Bismarck beispielsweise identifizierte sich mit der „einfachen Landbevölkerung“ und unterhielt sich mit ihr gerne in der örtlichen Mundart. Auch von Kaiser Wilhelm II. wissen wir aus zahlreichen Anekdoten, dass er häufig „berlinerte“, was einer der Gründe für seine (überraschende) Beliebtheit war.23 Mit seiner „Volksnähe“ wollte er auch soziale Spannungen abbauen; Sprache diente ihm dazu, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, man verfüge über einen gemeinsamen Horizont. So wurde Wilhelm geradezu zum Meister des geflügelten Wortes. Viele seiner Äußerungen waren ebenso unvergesslich wie unverzeihlich – so prägte er den Ausdruck „gelbe Gefahr“ für die Chinesen, riet den Frauen bei „Kinder, Küche, Kirche“ zu bleiben und nannte die Sozialisten „vaterlandslose Gesellen“. Die Tatsache, dass der Kaiser diese markigen Sprüche im Berliner Dialekt von sich gab, gefiel dem Durchschnittsdeutschen (mit Ausnahme vielleicht der Bayern) umso mehr.

Obwohl Hochadelige eine in sich geschlossene Gruppe bildeten, wäre es daher falsch, sie als gesamtgesellschaftliche Autisten zu sehen. Tatsächlich hatten die Männer eine größere Vielfalt an Kommunikationspartnern, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Ihre – gesellschaftlichen und folglich sprachlichen – Verkehrskreise umfassten Angehörige regierender Häuser, Standesgenossen im In- und Ausland, bürgerliche und ländliche Eliten, Dienerschaft und Pächter. Je mehr Außenbeziehungen vorhanden waren, umso mehr sprachlichen Einflüssen war der Adel theoretisch ausgesetzt. Er reagierte daher mit sehr unterschiedlichen „Sprachen“ auf unterschiedliche Gruppen: Mit Regenten korrespondierte der Hochadel aus formeller Distanz heraus. Besonders devot war der Umgang mit Kaiser Wilhelm II., der, trotz aller Volksnähe, von seiner höfischen Umgebung einen außergewöhnlich byzantinischen Stil erwartete. Die Kaiserfreunde Eulenburg und Fürstenberg erreichten hierin Perfektion, aber auch Verwandte des Kaisers mussten sich diesen Anforderungen beugen. Reichskanzler Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst wurde vom Kaiser mit „Du“ und „Lieber Oheim“ angeredet. Er wiederum antwortete in Briefen mit der Schlussformel „Eurer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster treugehorsamster“. Diese Servilität erklärte er mit den Worten: „Mit Souveränen ist man nicht verwandt.“24

Zwischen den einzelnen Monarchen jedoch existierte Ebenbürtigkeit, selbst wenn der eine Gesprächspartner lediglich über ein kleines Land herrschte und der andere der britische König war. Der Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen zum Beispiel duzte König Georg V. Georg, der in Hessen Deutsch gelernt hatte, revanchierte sich und vertraute Hohenzollern-Sigmaringen Dinge an, die er keinem Dritten gegenüber angesprochen hätte. Beispielsweise teilte er ihm am 24. Mai 1914 mit: „Du wirst sehen: Grey reißt uns geradewegs in eine Katastrophe.“25 Die Tatsache, dass der König Grey, seinem eigenen Außenminister, nicht über den Weg traute, war für Hohenzollern-Sigmaringen eine äußerst nützliche Information, die er sofort an das deutsche Auswärtige Amt weitergab. Derartige Vertraulichkeiten blieben kein Einzelfall.

Vertrautheit existierte auch in der Gruppe, die unmittelbar unterhalb der regierenden Häuser rangierte, dem Hochadel. Im Umgang mit Standesgenossen wurde eine verwandtschaftsähnliche Beziehung voraus- und sprachlich umgesetzt, selbst wenn keine Blutsbande vorhanden waren. Für Frankreich hat die Soziologin Monique de Saint Martin gezeigt, dass es im aristokratisch geprägten Jockey Club bis heute Tradition ist, dass „zwei beim Essen nebeneinander sitzende Mitglieder, die sich nicht kennen, sich nicht einander vorstellen: da sie zur gleichen Welt gehören, sind sie gehalten, so zu tun, als ob sie sich schon immer kennen würden.“26 Eine ähnliche Tradition existiert im bayerischen und im österreichischen Adel, dessen Angehörige einander mit Vornamen anreden, selbst wenn sie nicht miteinander verwandt oder befreundet sind.

Es war gerade diese „sprachliche Nähe“, die sich die heimlichen Helfer für ihre Missionen zunutze machten. Dass sie viele der Personen, mit denen sie Kontakt aufnehmen mussten, von vornherein duzten oder mit Vornamen anredeten, trug auf ganz natürliche Weise dazu bei, dass Unterhaltungen entspannter verliefen und die Gesprächspartner sich öffneten.

Angehörige des Bürgertums wurden natürlich von all dem ausgeschlossen. Um sich Neureiche und gesellschaftliche Aufsteiger vom Hals zu halten, verwendeten die Adligen diverse Insider-Witze und hatten zahllose Spitznamen füreinander.

Bis heute kann es in privaten Adelsarchiven schwer sein, Briefe einzelnen Personen zuzuordnen, da Spitznamen immer seltener entschlüsselt werden können. Kaum jemand weiß noch, wer mit dem lieben „Bobo“ oder der lieben „Dodi“ gemeint war. Viele dieser kindlichen Kosenamen wurden bis an das Lebensende beibehalten. Die jüngste Tochter von Herzog Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha blieb in der Familienkorrespondenz zeitlebens das „Baby“. An ihre Schwester, die Königin von Rumänien, schrieb sie als betagte Dame: „Love from your old baby“.

Die zahllosen Kosenamen deuten auf eine größere Intimität innerhalb adeliger Familien hin als bisher angenommen. Doch die scheinbare „Infantilisierung“ von Familienangehörigen hatte noch andere Gründe. Die Inflation an Spitznamen hing auch damit zusammen, dass sich Vornamen in Adelsfamilien als Leitnamen häuften. Die interne Benutzung von Spitznamen diente also dazu, alle Wilhelms (z.B. der Bentinck-Familie) oder alle Ernsts (z.B. bei den Hohenlohes) voneinander zu unterscheiden.

Neben diesem ganz praktischen Ansatz gab es aber noch einen weiteren wichtigen Grund für die Kosenamen: Sie dienten zur Ausgrenzung Außenstehender, wie der Drehbuchautor Julian Fellowes gezeigt hat. Fellowes hat zahlreiche Drehbücher wie Gosford Park und Downton Abbey verfasst, die in der Welt des Adels spielen. Auch wenn er sich dabei einige Freiheiten erlaubt, hat er doch ganz richtig erkannt, warum Spitznamen für die Aristokratie so wichtig waren:

„Jeder wird ‚Toffee‘ oder ‚Bobo‘ oder ‚Snook‘ genannt. Sie selbst glauben, diese Namen hätten vor allem etwas Verspieltes und stünden für eine ewige Kindheit. Die Namen erinnern sie an ihr Kindermädchen und daran, wie sie im Pyjama vorm Kamin im Spielzimmer saßen. Dabei dienen sie in Wirklichkeit dazu, sich von Außenstehenden abzugrenzen. Sie beschwören die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte herauf, die alle Neuankömmlinge ausschließt; sie sind nur ein weiteres Mittel, die Vertrautheit mit Ihresgleichen öffentlich zur Schau zu stellen. Und die Spitznamen bilden tatsächlich eine wirksame Grenze. Ein Neuling kann in die Bredouille geraten, weil er eine Person zu gut kennt, um sie weiterhin mit ‚Lady so-und-so‘ anzureden, aber bei Weitem nicht gut genug, um sie ‚sausage‘ zu nennen. Spricht man sie jedoch mit ihrem tatsächlichen Vornamen an, so ist das für alle Eingeweihten ein sicheres Zeichen dafür, dass man sie eigentlich überhaupt nicht kennt. Damit wird jedem Neuankömmling von vorneherein verwehrt, dass sich eine gewisse freundschaftliche Vertrautheit entwickelt, wie sie in anderen Schichten üblich ist.“27

Spitznamen waren folglich eine Strategie, um unliebsame Vertraulichkeiten von Emporkömmlingen zu vermeiden. Erzwungene Intimität von Bürgerlichen wurde laut Nancy Mitford als Tortur empfunden: „Schweigend muss man […] erdulden, dass man von vergleichsweise fremden Menschen beim Vornamen angeredet oder mit bloßen Vor- und Nachnamen vorgestellt wird.“28

So offensichtlich die Abneigung gegen das aufstrebende Bürgertum auch war, die Haltung des Adels gegenüber der „Unterschicht“ stand oftmals auf einem ganz anderen Blatt. Mitfords Essay über die U- und Non-Sprache weist bereits darauf hin: In England ähnelte die Sprache der Oberschicht derjenigen der „einfachen Bevölkerung“, beide verwendeten einen ähnlich alten, traditionellen Wortschatz. Darüber hinaus hatte die Arbeiterklasse ihren Cockney-Slang, und die Angehörigen der Oberschicht hatten ganz ähnliche Präferenzen, wie Ross betont: „Zweifellos waren vor allem junge U-Sprecher [Oberschichtssprecher] in den neunziger Jahren und mindestens noch bis 1914 fast süchtig nach Slang.“29 Ein Beispiel hierfür ist die Erzählung Blandings Castle von P. G. Wodehouse, in der der Sohn des Lords ständig Slang-Wörter verwendet und seinen erzürnten Vater mit „guv’nor“ (Chef) anredet.30

Diese relative Nähe zwischen der Ober- und der Unterschicht war kein rein englisches Phänomen wie das Beispiel Bismarcks schon gezeigt hat. Adelige hatten in der Regel ihren ersten Lebensmittelpunkt auf dem Land und lernten als Kinder von den Dienstboten Dialekte (nicht selten zum Entsetzen ihrer bürgerlichen Kindermädchen). Sie fühlten sich häufig auch noch als Erwachsene in der ländlichen Lebens- und Sprachwelt heimischer als in Diskussionen mit den anspruchsvollen Bildungsbürgern. Graf Castell-Castell beschrieb dies während des Ersten Weltkrieges in einem Brief an seine Frau:

„Unter meinen Offizieren hatte ich heute Streit. Es ist nicht ganz homogen unser Kasino. Ich mache auch wieder hier die Erfahrung, dass unsereins sich besser mit halbgebildeten, aber etwas tiefer stehenden Leuten verträgt wie den Honoratioren.“31

Naturgemäß neigten die Honoratioren zu mehr Widerspruch. Darüber hinaus verstanden sie als „Städter“ kaum Castells Sorge über Jagd- und Ernteergebnisse. Wenn er Ernteprognosen diskutieren wollte, dann unterhielt Castell-Castell sich darüber lieber mit einem Soldaten, der im zivilen Leben Landarbeiter war, als mit einem Offizier, der in Friedenszeiten als Zahnarzt gearbeitet hatte. Den Zahnarzt interessierten andere Themen, und er besaß einen anderen Wortschatz. Wolfgang Frühwald behauptete sogar, die deutsche Mittelschicht habe ihren ganz eigenen „gebildeten Dialekt“ entwickelt, der sie vom Adel und vom „gemeinen Volk“ klar abgrenzte.32

Auch für Großbritannien gibt es unzählige Beispiele für die „Sprachlosigkeit“, die häufig zwischen dem Adel und der Mittelschicht existierte. Unter anderem persiflierte Aldous Huxley die scheinbar erratische Konversation des Hochadels: Während einer Abendgesellschaft, die sich zur Katastrophe auswächst, wechselt Lord Badgery ständig das Thema – eine solch assoziative Gesprächsführung galt unter Adligen als besonders geistreich. Badgerys bürgerliche Gäste können mit seinem Tempo kaum schritthalten und sind verwirrt.33 Badgery hingegen empfindet schwerfällige „Belehrungsmonologe“ durch Bildungsbürger als Zumutung. Das adelige Ideal war der Dilettant, wobei das Wort „Dilettant“ hier eine positive Bedeutung hatte und vom lateinischen delectare, „erfreuen“ abgeleitet wurde. Dem Bürgertum ging es jedoch selten nur darum, andere mit Konversation zu „erfreuen“, sie wollten ihr Spezialwissen demonstrieren. Beim Adel kam so etwas selten gut an. Der – alles andere als fiktionale – Herzog von Devonshire sah es noch Ende des 20. Jahrhunderts als eine enorme Auszeichnung von Tapferkeit an, dass seine Frau „Debo“ jährlich einen Tag für Gespräche mit lokalen Honoratioren opferte. In seinen Augen waren diese Herrschaften alles andere als stimulierend. Da die Herzogin eine geborene Mitford war, konnten darüber hinaus nur wenige ihrem Sprachwitz folgen. „Debo“ blieb jedoch vorsichtig im Umgang mit ihrer bürgerlichen Umgebung und versuchte auf die berüchtigt scharfen Mitfordkommentare zu verzichten. Sie tat ihr Bestes, die (wie Lord Cecil of Chelwood es einmal nannte) „Mittelschicht-Monster“34 nicht vor den Kopf zu stoßen.

Diese Vorsicht im Austausch mit dem Bürgertum war typisch für viele Hochadelige. In hochadeligen Korrespondenzen mit bürgerlichen Adressaten – ob in Deutschland oder Großbritannien – herrschte allgemein ein politisch korrekt anmutender Ton vor. Diese Vorsicht zeigte sich auch in adeligen Reden, die vor einem „gemischten“ Publikum gehalten wurden. Graf Castell-Castell umschrieb in einer Konfirmationsrede die in der Kirche anwesende Landbevölkerung zum Beispiel als „Nebenmenschen“.

Neben der höfischen Sprache, dem binnenadeligen Code und der politisch korrekten Sprache für das Bürgertum musste man in Hochadelsfamilien natürlich auch Fremdsprachen beherrschen.

Wie intensiv an Sprach- und Landeskenntnissen im Adel gearbeitet wurde, zeigt schon ein Blick auf Zeitungsabonnements. Der Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen las Zeitungen und Zeitschriften in drei Sprachen, u.a. die Illustrated London News, Independence Romaine und das Bukarester Tageblatt. Hansel Pless musste seinem Vater schon als Kind über Artikel in der Times und dem Figaro Bericht erstatten.35

Ähnlich streng ging es in Russland zu. Seit Katharina der Großen hatten französische Gouvernanten die Kinder des russischen Hoch- und Landadels aufgezogen. Ein Junge der russischen Oberschicht glaubte daher noch als Zehnjähriger, Französisch sei die Landessprache Rußlands. Fälle wie diese sind typisch für die russische Oberschicht, die wenig mit dem Rest der Gesellschaft verband. Französischkenntnisse blieben wichtig, aber Ende des 19. Jahrhunderts lief die englische Sprache der französischen in puncto Beliebtheit eindeutig den Rang ab. Ganze Heerscharen britischer Kindermädchen fielen über den Kontinent her und hinterließen ihre Spuren, deutsche Kinder zählten von nun an ihren Zehen ab, wie viele kleine „piggies“ (Schweinchen) auf den Markt gingen, und sangen Lieder über die „three blind mice“.36 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt es geradezu als gesellschaftlicher Makel, die „drei blinden Mäuse“ nicht zu kennen. Die niederländische Adlige Victoria Bentinck beklagte sich zum Beispiel, ihre Nichte Mechthild habe sich durch ihre Heirat „sprachlich verschlechtert“: „Sie ging eine Zweckehe mit einem deutschen Grafen ein. Da er keine andere Sprache als seine Muttersprache beherrschte, musste er sich in unserer Familie in Middachten wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlen: Dort sprach man vier verschiedene Sprachen und mitunter alle in einem einzigen Atemzug. Sie hätte einen Diplomaten heiraten sollen, keinen Edelmann vom Lande. Im diplomatischen Dienst wäre sie ganz in ihrem Element gewesen.“37

Tatsächlich war Mechthild alles andere als glücklich über ihren trägen deutschen Ehemann. Einen ähnlichen Fehler wie dieser beging Fürstin Daisy Pless. Die gebürtige Britin heiratete 1891 in eine der reichsten deutschen Adelsfamilien ein. Obwohl sie vierzig Jahre in Deutschland lebte, gelang es ihr kaum, ihrem begrenzten deutschen Wortschatz zu erweitern.38 Einer der Gründe dafür war, dass alle ihre deutschen Freunde, Kaiser Wilhelm II. eingeschlossen, darauf bestanden, mit ihr Englisch zu sprechen. In dieser Hinsicht „profitierte“ sie davon, dass sich Englisch als neue Sprache des Adels durchgesetzt hatte. Sie hätte jedoch besser auf ihren Bekannten, König Eduard VII., hören sollen, der ihr geraten hatte, zunächst einmal „ordentlich“ Deutsch zu lernen. In den Kreisen der britischen Königsfamilie galten Deutschkenntnisse bis 1914 als wichtig. Eduard VII. sorgte dafür, dass seine älteren Söhne die Sprache lernten, und als sein Sohn Georg (der spätere König Georg V.) Prince of Wales wurde, schickte er ihn zu einem Auffrischungskurs nach Hessen.

Gute Fremdsprachenkentnisse dienten natürlich in erster Linie dazu, das internationale Freundschafts- und Verwandtschaftsnetzwerk aufrechtzuerhalten. Fremdsprachen waren im Hochadel aber auch eine Demonstration von multipler Ubiquität. Sie wurden gezielt als politisches Mittel eingesetzt, um Sprachbarrieren innerhalb der Herrschaftsgebiete zu überwinden. Regierende Häuser galten hier wie so oft als ein Vorbild: Kaiser Franz Joseph sprach neben Deutsch, Französisch und Italienisch auch etwas Tschechisch und Ungarisch, um mit all seinen Untertanen kommunizieren zu können.

Auf der Mikroebene hochadeliger Familien lag Grundbesitz häufig in verschiedenen Sprachräumen. Polnisch oder Tschechisch zu sprechen, war demnach ein wichtiges Mittel, seine „Verortung“ und damit seine Zugehörigkeit zu einer Region zu verdeutlichen. Fürst Pless zum Beispiel versuchte durch Erlernen des Polnischen sowohl Herrschaftsansprüche zu festigen als auch schwelende gesellschaftliche Konflikte zu entschärfen. Wie wir noch sehen werden, waren die schlesischen Güter der Familie Pless immer wieder Zielscheibe politischer Auseinandersetzungen. Die Pless-Männer wollten daher in keinem Teil Schlesiens als Fremdkörper angesehen werden.

Max Egon Fürstenberg wurde ebenfalls bilingual erzogen, da seine Familie neben dem Stammsitz Böhmen auch mit dem deutschen Fürstenbergzweig in Baden verbunden war. Als Mitglied des österreichischen Herrenhauses und des Böhmischen Landtages halfen ihm seine Tschechisch-Kenntnisse, Disharmonien unter Abgeordneten zu überwinden und politische Kompromisse auszuhandeln.

Eine Vernachlässigung von Fremdsprachen konnte für Hochadelige negative Konsequenzen haben. Über den Fürsten Oettingen-Wallerstein bemerkte ein Diener:

„Der Herr Fürst hatte einen ganz jungtschechisch gesinnten Lehrer für die böhmische Sprache. Aber mit den böhmischen Manieren will er durchaus nichts zu tun haben.“39

Oettingen-Wallerstein vernachlässigte zum Leidwesen seiner Familie die böhmischen Familienbesitzungen.

Doch auch wenn Fremdsprachen für den international vernetzten Hochadel von größter Wichtigkeit waren, so wurde diese Form der Kosmopolität vom Bürgertum immer kritischer beäugt. Wie wir in Kapitel 2 sehen werden, war mit dem Aufstieg des Nationalismus der internationale Hochadel zunehmend suspekt geworden. Eine neue ‚nationale Sprache‘ wurde vom Bürgertum postuliert. Im Deutschen Reich wurde ihre sprachliche „Entartung“ seit der Jahrhundertwende als ernsthaftes Problem gesehen. Hierbei waren sich Bürgertum und niederer Adel einig. Hans von Tresckow befürchtete 1907 einen Mangel an nationalem Gefühl beim Hochadel. Ein entscheidendes Symptom hierfür schien ihm die Fremdsprachenmanie zu sein:

„Mittags hatte mich Graf Maltzahn eingeladen, mit ihm im Hotel ‚Kaiserhof ‘ zu frühstücken. Ich traf ihn dort mit dem Prinzen Brion, dem Prinzen Schönaich-Karolath und einem polnischen Grafen Skorczewski, alles Mitglieder des preußischen Herrenhauses, in dem gerade das Enteignungsgesetz gegen die Polen beraten wurde. [Ich] setzte mich mit Maltzahn an einen anderen Tisch, denn diese Stützen des preußischen Thrones unterhielten sich mit Rücksicht auf ihren polnischen Kollegen, der übrigens gut deutsch sprach, in französischer Sprache. Das ist wirklich der Gipfel von Snobismus. Die Regierung treibt Germanisierungspolitik und die erlauchten Mitglieder des Herrenhauses sprechen in der deutschen Reichshauptstadt mit einem preußischen Staatsangehörigen polnischer Abstammung französisch. Maltzahn war empört darüber. Er ist wirklich noch ein guter Deutscher, der von der Internationalität der großen Familien noch nicht angekränkelt ist.“40

Die „großen Familien“ hatten allen Grund, ihre Sprachfertigkeiten nicht aufzugeben. Sie halfen ihnen, Besitz und internationale Freundschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Und es war diese Kommunikationsfähigkeit, die sie zu idealen Go-Betweens machte.

Hitlers heimliche Helfer

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