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LEERHEIT BEDEUTET LOSLASSEN

Verankert darin, dass es keinen Grund und Boden gibt

Das Herz-Sūtra und die anderen Prajñāpāramitā-Sūtren sprechen über viele Dinge, aber ihr grundlegendes Thema ist die fundamentale Tatsache, dass unsere Existenz keinen Grund und Boden hat. Egal was wir tun, egal was wir sagen und fühlen, wir brauchen nichts davon zu glauben. Es gibt rein gar nichts, woran wir uns festhalten könnten, und selbst das ist nicht sicher. Somit ziehen uns diese Sūtren den Teppich unter den Füßen weg und nehmen uns auch alle unsere Lieblingsspielzeuge fort. Wenn uns normalerweise jemand eines unserer geistigen Spielzeuge wegnimmt, dann finden wir einfach neue. Das ist einer der Gründe, warum viele Prajñāpāramitā-Sūtren so lang sind – sie listen alle Spielzeuge auf, an die wir nur denken können und sogar noch etliche andere mehr, aber unser Geist wird auch weiterhin neue ersinnen und neue ergreifen. Der wesentliche Punkt ist, dahin zu gelangen, dass wir tatsächlich aufhören, nach dem nächsten Spielzeug zu suchen und zu greifen. Dann müssen wir schauen, wie sich dieser Geisteszustand anfühlt. Wie fühlt sich unser Geist an, wenn wir nicht nach irgendetwas greifen, wenn wir nicht versuchen, uns selber zu unterhalten, und wenn unser Geist nicht außen sucht (oder wo auch immer), wenn also nichts übrig ist, wohin wir gehen könnten? Wenn wir mitten auf dem Meer sind, weit vom Land entfernt, und wir lassen einen Landvogel von unserem Schiff auffliegen, so kommt dieser Vogel nicht weit. Er wird immer zum Schiff zurückkehren, weil das der einzige Platz für ihn zum Landen ist. Ebenso versuchen unsere Gedanken und Emotionen immer irgendwo hinzugelangen, in den Himmel aufregender Dinge zu fliegen, aber sie können nicht wirklich irgendwo außerhalb unseres Geistes hingehen und werden schließlich immer wieder genau zu dem Geist, in dem sie entstanden sind, zurückkehren. Daher brauchen wir unsere Gedanken nicht festzunageln, sondern es ist in Ordnung, wenn sie sich bewegen. Selbst wenn sie sich weit weg bewegen, müssen wir uns keine Sorgen um sie machen, ihnen nachrennen oder eine Suchmannschaft losschicken. Es ist unvermeidlich, dass sie sich immer wieder im Geist niederlassen, also verlieren wir auch niemals irgendwelche Gedanken. Das bedeutet, dass wir nicht hinter ihnen herjagen oder sie zurückbringen müssen. Ganz grundsätzlich können wir niemals aus unserem Geist heraus, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben mögen, »außer uns« zu sein. Wir können niemals aus unserem Geist heraustreten und schauen, wie die Welt außerhalb unseres Geistes ist. Die Prajñāpāramitā-Sūtren sprechen von dieser grundlegenden Erfahrung, zu unserem Geist, wie er ist, zurückzukehren, ohne irgendwo hinzugehen, ohne irgendetwas zu tun und ohne irgendetwas zu manipulieren. Es geht darum, unseren Geist einfach so sein zu lassen, wie er ist. Für gewöhnlich tun wir das nicht, sondern versuchen stattdessen immer wieder, unseren Geist dazu zu bringen, etwas zu tun.

Daher geht es bei der Leerheit um die Jetztheit aller Phänomene, darum, ohne ein Gefühl von soliden oder dauerhaften Dingen im gegenwärtigen Moment zu sein; es geht um die schiere Erfahrung des unendlichen Spiels des Geistes ohne irgendetwas, was wir bestimmen oder woran wir uns festhalten könnten.

Das Sanskrit-Wort für Leerheit ist śūnyatā. Eine der wörtlichen Bedeutungen von śūnya ist »leer«, eine andere »Null«. In der indischen Mathematik ist die Ziffer Null śūnya, aber diese Null unterscheidet sich sehr von der »Null« im Westen. Wenn wir an Null denken, denken wir schnell an »Nichts«, aber in Indien bedeutet der Kreis von śūnya »Fülle«, »Vollständigkeit« oder »Ganzheit«. Ebenso bedeutet »Leerheit« nicht »Nichts«, sondern vielmehr »Fülle« im Sinne von vollständigem Potential – alles kann in der Leerheit und wegen der Leerheit geschehen. Viele Menschen fragen sich, wie irgendetwas funktionieren kann, wenn nichts wirklich existiert. Nāgārjuna sagt jedoch, dass es genau deswegen funktioniert. Wenn alles eine wirkliche Existenz hätte, das heißt, in sich selbst und aus sich selbst heraus existieren würde und somit unveränderlich wäre, dann würden die Dinge von nichts bedingt sein. Aber dann könnten sie auch nicht in Interaktion treten, weil das eine Veränderung zur Folge hätte. Nur weil sich alles fortwährend verändert, sind Interaktion und Funktionieren möglich.

Die Wurzel des Wortes śūnya bedeutet »anschwellen«, was die Vorstellung von Hohlheit impliziert. Die Phänomene der scheinbaren Wirklichkeit muten wirklich an, während sie jedoch tatsächlich leeren Luftballons ähneln, die nur durch unsere Unwissenheit aufgeblasen sind. Durch unsere Unwissenheit blasen wir eine Menge Nichtse zu sehr großen Etwassen auf. Wenn sie anschwellen, ist das der Kreis oder der Ballon von śūnya. Śūnyatā bezeichnet somit nicht Nichts, sondern die Tatsache, dass alles aus dem unendlichen Raum der Phänomene kommt, in dem nichts festgelegt ist, aber in dem alles geschehen kann. In diesem Sinne steht śūnyatā für das vollständige Potential des Entstehens aller Dinge, und es bedeutet auch abhängiges Entstehen. Alles, was wirklich zu sein scheint, ist nur wie ein aufgeblasener Luftballon – eine Menge heißer Luft und nicht viel mehr, wenn überhaupt etwas. Solange unsere scheinbare Wirklichkeit nicht hinterfragt wird, scheint sie irgendwie in Ordnung zu sein, aber wenn wir über Leerheit nachdenken und meditieren, werden all die Luftballons, mit denen wir uns normalerweise vergnügen, zerstochen und als das enthüllt, was sie wirklich sind, nämlich nichts als heiße Luft.

Wenn wir die Idee der Null in der Mathematik betrachten, wenn wir isoliert eine Null anschauen, scheint sie nichts zu sein, aber viele Nullen, die auf andere Ziffern fofgen, bedeuten eine Menge, wie etwa »100«, »1.000« oder »1.000.000.000«. Dies zeigt, dass unendliche Mengen aus der Null hervorgehen können. Sie ist also nicht bloß nichts. Ebenso ist Leerheit nicht »nichts«, was in vielen buddhistischen Texten immer und immer wieder betont wird. Sie ist jedoch auch kein »Etwas«. Normalerweise denken wir, wenn ein bestimmtes Phänomen nicht etwas ist, dann muss es nichts sein, und wenn es nicht nichts ist, muss es etwas sein. Aber das Wort »Leerheit« soll lediglich auf die Tatsache verweisen, dass eine Sache, dieses Etwas, durch das, was wir darüber sagen oder denken, nicht wirklich in korrekter Weise charakterisiert wird, weil unser dualistischer Geist sich immer in dem einen oder anderen Extrem verfängt. Leerheit bedeutet, außerhalb unserer festgefahrenen Bahnen zu denken, also außerhalb der eingespielten Bahnen unseres Schwarz-Weiß-Denkens oder dualistischen Denkens. Solange wir auf dem bekannten Terrain dualistischen Denkens bleiben, gibt es immer Existenz, Nichtexistenz, Unvergänglichkeit, Auslöschung, gut und schlecht. Innerhalb dieses Bezugsrahmens werden wir niemals darüber hinausgelangen, egal, ob wir religiös, eine Wissenschaftlerin, ein Buddhist, eine Agnostikerin oder was auch immer sind. Leerheit fordert uns auf, ganz und gar aus diesem Terrain herauszutreten. Sie verweist auf die radikalste Transformation unserer gesamten Anschauungen über uns selbst und die Welt. Leerheit bedeutet nicht nur das Ende der Welt, wie wir sie kennen, sondern dass diese Welt von vornherein niemals wirklich existiert hat. Verstehen wir wirklich, was das bedeutet, ist das so erschreckend, dass wir durchdrehen oder wie diese Arhats einen Herzinfarkt erleiden könnten. Natürlich nicht notwendigerweise, denn es gibt auch Berichte von Menschen, die es tatsächlich verstanden und keinen Herzinfarkt hatten. Nichtsdestotrotz ist die Tatsache, dass wir keinen Grund und Boden unter den Füßen haben, überaus furchterregend, weil es alles infrage stellt, was wir sind und was wir denken.

Leerheit, Abhängiges Entstehen und Quantenphysik

In gewisser Hinsicht haben die Lehren über die Leerheit viele Parallelen zur Quantenphysik. Quantenphysiker sagen uns, dass es nicht wirklich eine Welt »da draußen« gibt. Tatsächlich gibt es da nicht viel, wenn überhaupt etwas. Sie suchen immer noch nach etwas, weil es besser klingt und wir dann keine Angst haben müssen, dass es wirklich überhaupt nichts gibt, an dem wir uns festhalten können. Wenn Physiker über ein Quantenfeld sprechen, besteht es fast gänzlich aus Raum, in dem sich ein wenig Energie befindet, jedoch keine Teilchen. Zwar sprechen sie unter Umständen gelegentlich von »Teilchen«, aber dieser Ausdruck bezieht sich nicht mehr auf irgendeine Art von Substanz, sondern nur auf statistische Wahrscheinlichkeiten von Beziehungen. Dies entspricht dem, worum es bei der Leerheit geht, nämlich, dass es überhaupt kein einziges Phänomen gibt, das unabhängig und eigenständig existiert. Die Beschreibung eines Quantenfelds gleicht sehr der Formel »Form ist Leerheit. Leerheit ist Form. Leerheit ist nichts anderes als Form, und Form ist nichts anderes als Leerheit« im Herz-Sūtra. Alles steht miteinander in Wechselbeziehung und verändert sich dauernd, in jedem Augenblick, ist aber völlig ungreifbar.

Nach den Erkenntnissen der Quantenphysik verändert sich, wenn sich bei einem Teilchen eines Teilchenpaars etwas verändert, zum Beispiel der Spin, auch das andere Teilchen, selbst wenn es sich am entgegengesetzten Ende des Universums befinden mag. Das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit ist also nicht auf einen bestimmten Bereich oder ein bestimmtes Gebiet im Raum beschränkt; es ist tatsächlich unendlich und alldurchdringend wirksam. Der Buddha sagte dasselbe, indem er Abhängiges Entstehen als unendliches Geflecht von Ursachen und Bedingungen bezeichnete. »Ursachen und Bedingungen« beziehen sich nicht auf kleine Dinge, die sich umeinander drehen und sich irgendwie verhalten, denn wenn wir näher hinsehen, kann keines von ihnen wirklich gefunden werden. Solange wir alle diese Ursachen, Bedingungen und ihre Resultate nicht analysieren, scheint alles gut zu funktionieren (zumindest die meiste Zeit). Werfen wir aber einen tieferen Blick darauf, wie die Dinge tatsächlich funktionieren oder was die Dinge tatsächlich sind, wird es sehr verschwommen. Das gleiche Phänomen findet sich auch in der Quantenphysik – je intensiver die Physiker hinschauen und je mehr Elementarteilchen sie finden, desto kleiner und unfassbarer werden diese Teilchen, bis sie nicht einmal mehr als »Teilchen« bezeichnet werden können. Die Physiker verwenden bloß Namen und Beschreibungen für einen fortwährenden Prozess, was diesen, der unvorstellbar ist und sich immerzu verändert, in gewisser Weise zu etwas gefriert, was ein bisschen greifbarer ist, wie etwa mathematische Gleichungen oder Formeln. Das ist damit vergleichbar, wenn der Buddha aus der Perspektive der Leerheit sprach und er die Formel »Form ist Leerheit. Leerheit ist Form« verwendete. Ganz grundsätzlich können wir niemals wirklich exakt beschreiben, was geschieht. Wir können den Prozess im Labor beobachten und »Wow!« sagen, aber das ist es dann auch schon so ziemlich. Später versuchen wir dann auszudrücken, was geschehen ist, genauso wie es der Buddha tat, als er seinen Schülerinnen und Schülern beschrieb, wie die Dinge sind, wenn sie aus der Perspektive des Erwachens zur wahren Realität gesehen werden.

Das Herzinfarkt-Sutra

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