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DIE DREI LEHRZYKLEN DES BUDDHA Das Unausdrückbare ausdrücken

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Die Erleuchtung des Buddha war wie dieser »Wow!«-Moment in einem Labor, und zuerst wollte er zu niemandem darüber sprechen. Gemäß dem Lalitavistarasūtra sprach er daraufhin spontan diesen Vers:

Ich habe diesen nektargleichen Dharma gefunden,

Tiefgründig, friedvoll, frei von Bezugspunkten, leuchtend und nicht bedingt.

Wem auch immer ich dies lehren würde, er oder sie könnte es nicht verstehen.

Deshalb werde ich einfach stumm in der Mitte des Waldes verweilen.2

Und das tat er dann auch eine ganze Weile lang; offenbar nahm er an, dass niemand verstehen werde, worin seine Erkenntnis der wahren Natur des Geistes bestand. Später jedoch wurde er von anderen ermutigt zu lehren, und tat dann auch die verbleibenden fünfundvierzig Jahre seines Lebens nichts anderes als das. Das mag merkwürdig erscheinen – wie konnte er fünfundvierzig Jahre lang etwas lehren, was sowieso niemand verstand? Der Buddha sagte zwar, dass seine Erkenntnis der Natur des Geistes in der Tat unausdrückbar und unvorstellbar sei, aber das bedeutet nicht, dass sie vollkommen unzugänglich ist – und das ist ein großer Unterschied. Sie ist unvorstellbar, aber es gibt dennoch einen Pfad, der uns schließlich die gleiche Erkenntnis erfahren lässt. Sie ist dann zwar immer noch unvorstellbar, aber unsere Erfahrung davon ist ebenfalls unvorstellbar. Er besaß diese Einsicht, aber auch das unendliche Mitgefühl und die Fähigkeit, anderen tatsächlich zu zeigen, wie geistige Freiheit zu erreichen ist, und so lehrte der Buddha das, was nicht gelehrt werden kann. Wir können den Geschmack von köstlichem Essen ja auch nicht erfahren, indem wir nur darüber reden oder davon hören. Es kann uns jedoch inspirieren, ein köstliches Essen zu kochen, um den Geschmack zu erfahren. Vielleicht werden wir ja genauso inspiriert, den Geschmack der Erleuchtung zu erfahren, ohne die Worte mit dem zu verwechseln, worauf sie sich beziehen.

Der Buddha erkannte, dass es Wege gibt, sein Erwachen zu kommunizieren. Alle diese Wege sind indirekte Unterweisungen, aber wenn wir ihnen folgen, können wir tatsächlich erkennen, was der Buddha gesehen hat. Der indische buddhistische Dichter Aśvaghoṣa sagte dazu:

Wir gebrauchen Worte, um frei von Worten zu werden,

Bis wir die reine wortlose Essenz erreichen.

Somit sind die buddhistischen Lehren so etwas wie Finger, die auf den Mond zeigen. Aber wenn wir nur auf die Finger blicken, werden wir nie den Mond sehen. Fünfundvierzig Jahre lang zeigte uns der Buddha immer wieder andere Finger, die immer auf denselben Mond deuteten, der nichts anderes als die wahre Natur unseres Geistes ist. Der Buddha benutzte so viele Finger, weil wir den Mond vielleicht übersehen hätten, wenn er nur mit einem einzigen Finger auf ihn gezeigt hätte. Wenn aber viele Personen mit vielen Fingern aus allen möglichen Richtungen auf den Mond deuten, kann man ihn nicht so leicht übersehen. Daher gab der Buddha viele verschiedene Unterweisungen, die alle wie Finger sind, die aus unterschiedlichen Richtungen deuten. Da sie aus unterschiedlichen Richtungen deuten, sagten natürlich manche Menschen: »Das ist genau das Gegenteil von dem, was er früher gesagt hat.« Das ist wahr, aber er deutete einfach nur aus einer anderen Richtung auf genau denselben Mond. Es ist, als würde man zwei Personen nach dem Weg zum Weißen Haus fragen, wobei eine links und die andere rechts davon steht. Die erste Person wird nach rechts deuten und die zweite nach links. Wenn wir denken, dass eine von ihnen Unrecht hat oder sie sich widersprechen, übersehen wir das, worum es hier geht (und das Weiße Haus).

Als kurzer Abriss im Hinblick darauf, was in der Lehrlaufbahn des Buddha geschah, bevor er das Herz-Sūtra lehrte, sollte erwähnt werden, dass er laut der Mahāyāna-Tradition drei Lehrzyklen lehrte, die »Dharma-Räder« genannt werden. Dies ist eine Unterteilung, die sich auf den Inhalt bezieht und nicht auf die zeitliche Abfolge. Der Buddha sprach zuerst über die grundlegende Befindlichkeit des Menschen, jene Lehren, die als die Vier Edlen Wahrheiten bekannt sind. Am Anfang gab er Belehrungen über das, womit wir uns vornehmlich beschäftigen – Leiden. Dann sprach er über die Ursachen des Leidens oder den Ursprung des Leidens. Danach lehrte er, dass wir tatsächlich unser gesamtes Leiden und seine Ursachen beenden können, was die Dritte Wahrheit, die von der Beendigung des Leidens, ist. Die Vierte Edle Wahrheit beschreibt den Pfad, die Methoden, um die Beendigung des Leidens zu erreichen. Der Buddha sprach zu Beginn also nicht über die Leerheit, das heißt, er lehrte die Prajñāpāramitā-Sūtren nicht am Anfang. Es ist ziemlich offensichtlich, warum er das nicht tat – es hätte keinen Buddhismus gegeben. Wenn er das Herz-Sūtra von Anfang an gelehrt hätte, hätten die Menschen einfach nur gesagt: »Bist du verrückt?« und wären gegangen. Stattdessen versuchte der Buddha, den Weg zu tiefgründigeren Einsichten, wie etwa die Leerheit, dadurch zu ebnen, dass er die Vier Edlen Wahrheiten lehrte. Das heißt, dass er uns Menschen zuerst über unsere grundlegende Situation unterrichtete. Mehr oder minder teilen wir alle die Erfahrung des Leidens, aber die meisten Menschen versuchen, ihr Leid zu ignorieren oder es beiseite zu schieben. Darüber hinaus sind sie unwissend bezüglich der Ursachen des Leidens, darüber, dass es ein für alle Mal beendet werden kann, und sie kennen nicht die Mittel, es zu beenden. Dies sind die ersten Lehren des Buddha, die er im Antilopenhain in Sarnath in Indien verkündete. Seine erste Lehrrede richtete sich nur an fünf Personen, nämlich seine früheren Weggefährten in asketischen Praktiken, bevor er sich unter den Bodhi-Baum gesetzt und Buddhaschaft erlangt hatte. Es heißt, dass diese ersten fünf Schüler des Buddha ihre Befreiung aus Saṃsāra (Arhatschaft) allein dadurch verwirklichten, dass sie seine Unterweisung über die Vier Edlen Wahrheiten hörten.

Im zweiten Zyklus der Lehren des Buddha findet sich dann das Herz-Sūtra. Dieser Zyklus besteht aus den Prajñāpāramitā-Lehren und wird das »Dharma-Rad der Merkmalslosigkeit« genannt. Diese Unterweisungen erteilte er auf einem Berg in Indien, dem »Geierscharberg«, der sich in der Nähe von Rājagṛha im heutigen Bihar befindet. Zu Zeiten Buddhas war diese Stadt der Sitz eines mächtigen Königs, eines Freundes und Gönners des Buddha. Als Buddha Śākyamuni den zweiten Zyklus seiner Unterweisungen lehrte, gab es eine riesige Zuhörerschaft; die Sūtren sprechen von tausenden von Mönchen und tausenden von Bodhisattvas sowie von vielen nichtmenschlichen Wesen, Götter etwa und andere Nicht-Erdenbewohner.

Sollten Sie jemals die Gelegenheit haben, den Geierscharberg aufzusuchen, so ist es die Reise wert. Wenn es irgendeinen Ort auf der Welt gibt, an dem wir durch unsere bloße Anwesenheit einen flüchtigen Blick auf die Leerheit erhaschen können, dann dort. Das ist natürlich nur meine Projektion, aber ich fand den Platz sehr beeindruckend und wollte ihn nicht wirklich verlassen; es fühlte sich dort so an, als wäre man aus Zeit und Raum herausgetreten.

In diesem zweiten Lehrzyklus spricht der Buddha vor allem über śūnyatā – dass nichts so ist, wie es scheint. Zugleich lehrte er aber auch Mitgefühl, denn dem Buddha zufolge leiden die Wesen aufgrund ihres Anhaftens daran, dass die Dinge so existieren, wie sie erscheinen. Sie greifen nach Luftschlössern, die niemals ihren Wunsch nach Glück erfüllen können. Sie müssen also aufwachen, sehen, was tatsächlich da ist, und in einer erfolgversprechenderen Art und Weise nach Glück streben. An diesem Punkt kommt Mitgefühl ins Spiel, denn der Buddha, der erkennt, wie die Dinge tatsächlich sind – dass die Wesen nur deshalb leiden, weil sie an nichtexistenten, täuschenden Erscheinungen festhalten –, will selbstverständlich darauf hinweisen, dass dieses Leiden nur auf einer falschen Wahrnehmung beruht und völlig unnötig ist. Letztendlich ist saṃsārisches Leiden nur ein Irrtum, wie der Fehler in einem Software-Programm – es sollte nicht passieren, geschieht aber trotzdem. Das ist der Grund, warum der Buddha fünfundvierzig Jahre lang lehrte. Er sah zwar, dass er nicht wirklich mitteilen konnte, was er erfahren hatte, konnte es aber nicht ertragen, die in ihr Leid versunkenen Wesen zu sehen – was, wenn wir sehen, wie die Dinge tatsächlich sind, völlig unnötig ist und behoben werden kann. Daher sind die zwei zentralen Punkte, die der Buddha im zweiten Zyklus lehrte, Leerheit und Mitgefühl.

Im dritten Zyklus lehrte er ebenfalls Leerheit und Mitgefühl, aber zusätzlich sprach er über das, was »Buddha-Natur« genannt wird. Buddha-Natur ist nicht wirklich etwas anderes als Leerheit, aber der Begriff bezieht sich mehr auf die subjektive Seite, darauf, Leerheit tatsächlich zu erfahren oder zu leben und sie nicht einfach nur als Objekt oder Vorstellung zu begreifen. Mit anderen Worten, Buddha-Natur bezeichnet die Leerheit unseres eigenen Geistes – die Natur unseres eigenen Geistes, seine Leerheit und gleichzeitige Klarheit, Leuchtkraft, Bewusstheit und Wachheit. Der dritte Zyklus unterscheidet auch zwischen dem, was in den Lehren des Buddha von vorläufiger Bedeutung und was von letztendlicher Bedeutung ist. Somit schafft der dritte Zyklus Klarheit über all die Fingerzeige, wie etwa, ob ein bestimmter Finger in diese oder jene Richtung zeigt, damit wir sie nicht verwechseln oder als widersprüchlich betrachten.

Das Herzinfarkt-Sutra

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