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Ho - Martin!

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Vielleicht ist das, was der Landarzt Doktor Bohner und die Dame von Mangala Vorhaben, eine Sünde. Gott allein mag das entscheiden. Von der gewöhnlichen Menschenseite her könnte es höchstens eine kleine, fast unschuldige Sünde sein, ein heimliches Abenteuer. Und es bleibt trotz allem noch ein Schimmer von Märchenduft daran. Außerdem soll es geschehen in einer Freinacht, wenn ein ganzes Städtchen toll ist. Somit wird es nur das glückhafte Spiel zweier Narren.

Ein seltsam langer Tag folgte dem Spaziergang hinter der Brücke. Der Doktor hielt ihn für den längsten und seltsamsten Tag seines Lebens. Und als es endlich Abend werden mußte, setzte er sich an den Tisch neben seine Frau Amalie und sagte: „Liebste Amalie, so wie die Verhältnisse sich gestalten, muß ich leider heute abend unbedingt in die Stadt fahren. Ja, das hätte ich beinah vergessen.“

Amalie, die einmal ein junges Mädchen war und Hiller hieß und schon in jenen Tagen scharfe Augen und ein feines Gehör besaß, hebt den Kopf.

Aber hier handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit, eine Besprechung mit Kollege Stende. Es kann sich etwas in die Länge ziehen. Möglicherweise bis zum nächsten Morgen.

Die Leute behaupten, Amalie habe den Hans Bohner genommen und in doppeltem Sinne zum Manne gemacht. Sie halte ihm noch immer die Zügel stramm, hieß es. Amalie neigt ihren Kopf zur Seite, was dem Doktor mißfällt, und meint, das müsse eine ungewöhnliche Besprechung sein.

„Und dazu noch heute abend, wenn im Schwanen großer Maskenball ist?“ fragt sie.

Maskenball? Was kümmert das den Doktor. Da hilft nun alles nichts, der Doktor muß fahren. Er fährt, weil die Pflicht ruft.

„Wenn es sein muß“, meint Amalie, nicht völlig überzeugt.

„Es muß sein. Und gute Nacht. Warte nicht auf mich.“

Der Doktor trinkt sein Glas leer und geht schnell zur Tür hinaus. Heiße Leidenschaft herrschte nie zwischen den beiden. Doch sie waren gute Kameraden, Weggenossen. Der Doktor fuhr eigentlich gar nicht schlecht dabei. Jetzt aber lockt ihn ein blutrotes Begehren, fort vom warmen, sicheren Herd.

Vor dem Haus steht der Wagen. Martin sitzt gewichtig auf dem Bock. Das Kinn sank ihm auf die Brust nieder. Dieser Mann hatte die Gottesgnade zu schlafen, sowie sich eine Gelegenheit dazu fand. Gelegenheiten gab es überall.

„Fahr los, Martin!“ befiehlt der Doktor.

Über dem Lande liegt sanfte Dunkelheit, ein zarter, freundlicher Nebelschleier. Des Doktors Brust entsteigt ein zitternder Seufzer. „Herrliche Nacht.“

In den Bauernstuben brennen die Lampen. Schatten bewegen sich hinter den behangenen Fenstern. Die Menschen gehen zur Ruhe. Für den Doktor aber soll dies die Nacht der Nächte werden. „Schattenspiele“, murmelt er. „Da legen sich alle die Menschen hin zu dumpfem Schlaf. Ich aber fahre dem glühenden Leben entgegen.“ Sein Herz wird noch einmal jung und stürmisch. Er fiebert förmlich nach Sünde, Lust und Glück. Nur an die eine Nacht denkt er. Hinter dieser Nacht kann kein Morgen liegen. Ein himmlisches Wunder überraschte ihn und trug ihn fort aus dem kahlen Leben in einer kahlen Welt. Oh, er ist jetzt ein Jüngling, den zum erstenmal der Wirbel der Liebe erfaßt. Er ist ein Gott. „Rita, strahlender Stern des Südens …“

Er springt auf und ruft durchs Wagenfenster:

„Martin, du fährst so rasch wie eine Schnecke. Martin, schläfst du schon wieder? Warte, gleich setz ich dir Blutegel an.“

„Was? Blutegel, Herr Doktor? Haben Sie gerufen?“ erkundigt sich der Kutscher mit dicker Stimme.

„Wahrhaftig, du lebst noch, Martin.“

„Was? Ob ich lebe?“

„Beim alten Waldhaus hinter Endingen sollst du anhalten.“

„Wozu? Dort wohnt längst kein lebendes Wesen mehr.“

„Anhalten, hab ich gesagt.“

„Das soll geschehen. Nur versteh ich nicht …“

„Anhalten — Waldhaus — anhalten!“ ruft der Doktor, schlägt das Wagenfenster zu und sinkt mit seligem Lächeln in die Polster und in süße Träume.

Indessen führt sein Kutscher ein Selbstgespräch und stellt allerlei Fragen: „Was ist denn los? Waldhaus? Was will er dort? Und diese späte Stadtfahrt. Und aufgeregt ist er wie eine schwarze Katze. Weiß er denn nicht, daß es im Waldhaus nicht geheuer ist?“

Viele Fragen stellt der Kutscher Martin, und es ist ihm nicht wohl dabei. Er wittert, daß Ungewöhnliches sich vorbereitet. „Bewahre uns vor allem Übel“, murmelt er.

Der Doktor hingegen fürchtet sich nicht vor den Gespenstern der Nacht. Mit vorgebeugtem Kopf starrt er in die Landschaft hinaus, hinüber zum schwarzen Wald, aus dem eben eine grünschillernde Mondsichel empor schwebt. Wieder öffnet er das Fenster und atmet mit durstigen Lippen die kühle Luft.

Hundert Mal schon fuhr er über diese Straße. Jeden Baum am Wege kennt er, jeden Busch und Stein. Und es war stets eine freundliche Straße, die es gut mit ihm meinte. Aber es war die Straße des Alltags. Heute führt sie zu einem hohen Fest, und alle Dinge haben ein neues Gesicht. Gestern noch waren die Felder tot. Heute steigt Veilchenduft von ihnen auf. Zauberhaftes Ahnen des Frühlings erfüllt das weite Land. Geladen ist die Luft mit geheimen Verheißungen. Oh, Rita!

Doch düster stehen die Häuser, klotzige Riesenköpfe, die sich über den Wegrand recken und des Doktors Glückswagen mit roten Augen verfolgen. Menschengestalten huschen vorbei, scheu, als gingen sie verbotene Wege. Die ganze Welt ist verhext. Oh, Rita!

Martin wurde es müde, Fragen zu stellen, und schlief wieder ein. Das Pferd kennt den Weg. Es ist ein kluges und bedächtiges Pferd. Zuweilen trabt es ohne Zuruf und Peitsche; zumeist geht es im Schritt. Es heißt Hugo. Der Kutscher Martin darf ruhig seine Augen schließen, er kann sich auf seinen Hugo in jeder Beziehung verlassen.

Im Dorfe Endingen stürzt sich ein Hund mit wütendem Gebell auf den Wagen, Martin schrickt auf und ruft Hugo ein paar beruhigende Worte zu, dann zieht er sich die Decke fester um die Knie.

Doch der Doktor wartet mit der Hand auf dem Wagenschlag. Beim Waldhaus beugt er sich heraus und sticht Martin mit spitzem Finger in die Seite. „Alle guten Geister!“ schreit Martin.

„Hinter der Tür, rechts, im Winkel, liegt etwas. Hol es!“ befiehlt der Doktor. „Du darfst kein Licht machen.“

„Jesus helfe mir! Ohne Licht ins Waldhaus — ich? Nein, Herr Doktor, das dürfen Sie nicht von mir verlangen. Wie soll ich denn sehen, was dort liegt?“

„Taste der Wand nach, Mann. Vorwärts!“

„Wäre es nicht klüger, Sie kämen mit, Herr Doktor? Ich leuchte Ihnen dabei mit der Laterne.“

„Warte, ich will dir leuchten“, ruft der Doktor. Etwas in des Doktors Stimme veranlaßt den Kutscher, den schweren Gang allein anzutreten. Mit einem Paket kehrt er zurück. Der Doktor ergreift es mit beiden Händen, „Weiter!“

Das geht nach Berechnung und könnte nicht besser gehen. Der Doktor schließt die Wagentür. Selbst der Mond hilft mit und wirft seinen matten Schein durchs Fenster. Nur die Schnur um die Pappschachtel zeigt sich boshaft, sie hat so unsinnig viele Knoten, echte Weiberknoten, die gewöhnlich von selbst aufgehen, sich aber niemals im rechten Augenblicke lösen lassen. Ungeduldig zieht der Doktor das Taschenmesser.

Seine Finger sind fahrig. Der Stahl fährt ihm darum ins Fleisch. Blut fließt. Nur einige Tropfen, die auf die Polster fallen. Wer aber beachtet zu dieser Zeit ein paar Tropfen Blut? Des Doktors Sinn ist auf ganz andere Dinge gerichtet. Jetzt knistert Seide zwischen seinen Fingern. Kleine Schellen klingeln leise. Das Abenteuer beginnt.

Es beginnt mit der fassungslosen Frage eines entzückten Jünglings: „Rita, ist das denn menschenmöglich? Gibt es dergleichen noch in dieser Welt, Rita?“

Hastig wirft er die Alltagskleider von sich. Und auch darauf fallen ein paar Tropfen Blut. Sein Blut kocht ja und schäumt. Oh, herrliches Leben!

Den Doktor packte es mit Gewalt. Er schlüpft in das Seidengewand, er stülpt sich aufs Haupt eine Kappe mit zwei Hörnern. Geladen ist er mit Lust bis zur Bewußtlosigkeit, mit Begehrlichkeit bis zum Platzen. An den Schnäbeln der Schuhe, an den Hörnern der Kappe klingelt es silberhell.

Kühner und kühner wird der Doktor, befreit von allem Zwang, über sich selber erhoben wird er. Doch als Narr im eigenen Wagen bis vor die Tür des Schwanen fahren, das darf er nicht.

Sowie die ersten Lichter des Städtchens ins Fenster schimmern, öffnet er wieder den Wagenschlag, beugt sich weit hinaus, um Martin mit einem Fauststoß unter die Rippen zu wecken.

Er flüstert: „Martin, paß gut auf! Ja, jetzt werde ich dir etwas sagen.“

Aus gutem Schlummer schrickt Martin auf. „Ha — hö?“ Und er dreht träge den Kopf. Da aber kommt plötzlich Leben in diesen dicken, ruhigen Mann. Einen Blick nur wirft er auf den Kopf mit den Hörnern an seiner Seite. „Jesses!“ schreit er entsetzt und verschwindet blitzschnell auf der anderen Seite vom Bock. Nicht für nichts erfüllten bange Ahnungen Martins Seele. Diese Nachtfahrt erschien ihm unheimlich von Anfang an.

Gewiß ist es des Doktors Schuld, denn er dachte zuviel an sein Abenteuer und zuwenig an seinen Kutscher. Darum vergaß er Martin aufzuklären, solange es Zeit war. Nun ist es aber zu spät.

In größter Verblüffung starrt der Doktor über den leeren Kutschersitz hinweg und kann zuerst nicht fassen, was sich hier zugetragen hat. Als er es erfaßt, wird er wütend, nicht auf sich selber, sondern auf den unschuldigen Martin, der in seiner Herzenseinfalt glauben mußte, der Teufel selber sei hinter ihm aufgetaucht. „Aber Martin!“ ruft der Doktor. „Bist du verrückt geworden?“

Auf diese Frage erhält er keine Antwort. Das Pferd Hugo begreift wohl, daß ungewöhnliche Dinge vor sich gehen, und bleibt stehen.

„Martin, verdammtes Rindvieh, wo bist du?“ fragt der Doktor. „Was zum Satan? Warum brüllst du?“

Martin, der Kutscher, kann auch darauf seinem Herrn keine Auskunft geben, weil er, die Fersen im Nacken, auf der Landstraße zurückrennt. Nur Martins Laufschritt hört der Doktor und staunt und fragt sich selber: „Hast du je so etwas erlebt?“

Dieses ging nicht ganz nach Berechnung. Der Doktor blickt sich ratlos um. Hugo blickt sich ebenfalls um, legt seine Ohren vorwärts und rückwärts und lauscht. Auch Hugo versteht offenbar nicht, weshalb Martin die Flucht ergriff.

„Sei hübsch ruhig, Hugo, gutes Pferdchen!“ ruft der Doktor ihm zu. „Gleich komm ich zu dir heraus.“ Mit ausgestreckter Hand geht er um den Wagen herum, klopft Hugo den Hals, redet ihm gütig zu. Und Hugo beschnuppert die ausgestreckte Hand, nickt und findet alles wieder in Ordnung. In der Ferne hört man Martins Stiefel auf der Landstraße klappern. „Dort rennt er“, brummt der Doktor.

Martin rennt um sein Leben. Denn Martin glaubt sowohl an die oberen wie an die unteren Mächte.

Der Doktor aber will nicht länger beim verlassenen Wagen auf der Landstraße stehen und die kostbare Zeit dahinfließen lassen. Die Dummheit seines Kutschers verwünschend, führt er Hugo ein Stück weit, bis zu einem geeigneten Baum am Wegrand. Dort bindet er ihn an und legt die Decke über seinen Rücken. „Bald wird Martin wieder zu dir kommen“, tröstet er ihn und geht eilig davon.

Hugo steht allein vor einem Baum, legt wieder die Ohren vorwärts und rückwärts und ist nicht zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Nie zuvor band man ihn an einem Baum auf offener Landstraße an und verließ ihn. Nach dem langen Weg führte man ihn in den warmen Stall des Schwanen und gab ihm Hafer und Heu. Doch er fügt sich mit der Geduld der Tiere in den Willen der Menschen und läßt bekümmert den Kopf zur Erde sinken.

Die Geisterkutsche. Heiterer Roman

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