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II

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Im Rathaus zu Krummbach war Gemeindeversammlung. Dieses Rathaus diente zwar zu gewöhnlichen Zeiten als Schulhaus.

Der Ammann und die Gemeinderäte waren schon alle erschienen und legten ihre Gesichter in ernste und wichtige Falten — das mochte wohl von den Sorgen und Mühen herkommen, welche das Regierungsgeschäft mit sich bringt.

Die letzten, welche kamen, waren der Barger-Bläsi und der Schneider Zwirn. Der erstere hatte, wie üblich, vorher noch einen Schoppen getrunken — vielleicht waren es auch zwei —, so dass er die rechte Zeit verpasste. Der zweite aber kam zu spät, weil er glaubte, es mache sich vornehmer.

Vor der Treppe trafen sie sich. Der Barger schnäuzte da recht umständlich und gründlich die Nase, dass es weithin klang wie ein Trompetenstoss. Darauf fuhr er sich mit dem braunen Handrücken über den Schnurrbart. Auch der Schneider Zwirn schnäuzte die Nase, um sich wie sein Kollege solcherweise auf die Sitzung vorzubereiten. Doch nahm er zum Abtrocknen sein schönes blauund rotkariertes Nastuch, damit der Barger eine richtige Meinung von ihm bekäme.

Als sie alle vereint drinnen in der Schulstube sassen, sagte der Ammann:

„Wir sind da beieinand, ihr Mannen, um über eine wichtige Frag zu beraten, welche der Zwirni-Schneider hat.“

Darauf schwieg der Ammann. Der Zwirn, der glaubte, seine Zeit sei gekommen, zog die Luft recht tief ein und sprach folgendermassen:

„Ihr wüsst so gut wie ich, ihr Mannen, dass wir allezeit, wenn’s eine Woche nicht zum regnen kommt, kein Wasser mehr in unsern Brunnen haben. Darum möcht ich am heutigen Tag vorschlagen, einen tiefen Brunnen zu graben, der auf eine grosse Wasserader führen tät. Dann müssten wir nicht alle Sommer so weit gehen, ums Wasser zu holen. Ich denk’, man könnt’ am besten beim ,Krug’ mit graben anfangen. Das wär so die Mitte vom Dorf, und es tät auch so am besten passen. Was sagt ihr dazu, ihr Mannen?“

Sie nickten bloss. Keiner hatte etwas zu sagen. Diese Idee schien ihnen so neu und ungeheuerlich, dass sie dieselbe in den ersten zehn Minuten gar nicht fassen konnten.

Endlich meinte der Ammann:

„Wir haben allezeit Wassermangel, das ist wahr.“

Mehr sagte er nicht. Die andern nickten wie zuvor. Das ging dem Schneider doch etwas zu langsam. Ganz unbegreiflich schien es ihm, wie die sich so besinnen konnten, als gelte es auf dem Markte eine Kuh zu kaufen. Er blickte unruhig von einem zum andern. Aber sie sagten nichts. Sahen nur vor sich hin oder zum Fenster hinaus, mit ausdruckslosen Augen, höchstens dass da und dort einer nickte.

Da sprach der Schneider Zwirn wieder, und seine Stimme zitterte vor Aufregung:

„Aber höret, ihr Mannen, ihr müsst bedenken, dass ein solches Wasser eine wertvolle Kraft ist, wo man allerhand Profit draus schlagen kann. Das ganze Dorf hätt’ mehr Wert, wenn ein guter Brunnen drin wär. Das müsst ihr bedenken. Und so müsst ihr euch also auch nicht so lange besinnen über die Frag. Schon lang hätt’s sein sollen, schon lang!“

Aus der ganzen Rede hatten sie hauptsächlich das Wort „Profit“ gehört, und da stutzten sie doch alle. Dieses kleine Wort regte in ihrem Innern eine Saite an, die nun langsam zu klingen begann. Aber sie sagten noch nichts.

„Und ich bin dafür,“ so fuhr der Schneider fort, „dass wir diese nützliche Sach’ nit so lang aufschieben sollten.“

Alle dachten nun an den „Profit“ und nickten eifriger mit den Köpfen. Sie schienen so allgemach die gleiche Meinung vom Brunnen zu bekommen wie der Schneider Zwirn. Das war klar.

Darum sagte nun der Ammann:

„So, jetzt sind wir so weit. Da könnten wir auch gleich abstimmen. Wer dafür ist, für den Brunnen, der soll die Hand aufheben.“

Alle streckten die Hände empor.

Der Schneider Zwirn war förmlich berauscht. Wer kann wissen — so dachte er in diesem Augenblick im stillen —, wo das noch hinaus will? Ist erst einmal der Wassernot in Krummbach abgeholfen, dann hab’ ich bei meiner ersten Sitzung das grösste Werk vollbracht, das dem hiesigen Gemeinderat je gelungen. Dann bin ich der erste Mann im Dorf! Und ihm war’s, als sage da irgendwo eine geheime Stimme: Beni, Beni, du bist der Mann, der Krummbach aus dem Schlaf aufrütteln wird. Du wirst ihnen allen den neuen Weg zeigen! Glaubst du, sie werden dann ihrer Dankbarkeit nicht irgendwie Ausdruck verleihen? Vielleicht dass sie gar auf dem Brunnentrog dein Bild in Stein aushauen lassen, damit ein jeder später einmal wisse: das ist der Schneider Zwirn, der grösste Bürger von Krummbach, der seine Heimatgemeinde, welche die Jahrhunderte hindurch etwas zurückgeblieben, den Fortschritten der Zeit entgegenführte. So oder ähnlich sprach die Stimme zum Schneider Zwirn.

Und wie er dieser heimlichen Stimme so lauschte und mit seiner gelben Hand durch den Schnurrbart strich, ganz nach Art der Stadtherren, da kamen ihm mit einem Male die andern Gemeinderäte samt dem Ammann so klein und nichtig vor. Mit schwerfälliger langsamkeit und sichtlicher Anstrengung dachten sie die Sache mit dem Brunnen durch, mühten sich an dem Gedanken, der ihm so spielend leicht gelungen. Eins ist gewiss — dachte er — ihnen würden die Nachkommen keinerlei Denkmäler setzen. Und er spürte da, wie sich eine tiefe Kluft auftat zwischen ihm und ihnen. Deshalb sah er gleichsam aus schwindelnder Höhe auf sie hernieder. Fast eine Art Mitleid beschlich ihn, als er sah, wie sie so dasassen und an der harten Nuss bissen, die er ihnen zum Knacken gegeben.

Nach einer Weile erhob der Schneider Zwirn abermals seine Stimme:

„Ich denke, ihr Mannen, wir müssen vor allem das Geld beschaffen. Aber das ist ein Kinderspiel. Die Kantonalbank in Sunnentorn gibt uns ja so viel Geld, als wir nur haben wollen. Wir müssen’s verzinsen, selb ist freilich wahr; aber der Profit vom Brunnen ist gewiss hundertmal grösser.“

Er schwieg. Und alle schauten zu ihm auf. Sie alle, die sonst geradeaus irgendwohin ins Leere schauten, drehten ihre Augen voller Bewunderung zum Schneider hinüber. Sicherlich dachte da jeder bei sich selbst: ist das ein verfluchter Kerl, dieser Zwirni-Schneider! Und bei diesem Gedanken erfüllte aller Herzen der Neid, es ihm nicht gleichtun zu können.

Den Vorschlag aber nahmen sie abermals einstimmig an und forderten von der Bank zwölftausend Franken.

Und der Zwirn fuhr fort:

„Wir haben in der Gemeinde nur einen einzigen Mann, der eine solche Arbeit ausführen könnt’. Und das ist der Grausengusti. Den müssen wir zum Brunnenmeister wählen.“

Als er schwieg, nickten sie wieder, sehr bedächtig, denn sie wussten alle, dass das der richtige Mann war.

So ward der Brunnen beschlossen und der Brunnenmeister gewählt.

Alle sechs gingen darauf nach Hause. Daheim erzählten sie’s ihren Frauen, und die brachten’s weiter, so dass noch selbigen Tags alle Einwohner von dem kühnen Aufschwunge hörten, den das entlegene Fleckchen Erde mit einem Male nehmen sollte. Und manches Herz hüpfte da schon vor Freude.

Es hiess sogar, dass ein altes Grossmütterchen, welches — wie alle wussten — die Gabe hatte, in die Zukunft zu sehen, den prophetischen Ausspruch getan, dass Krummbach in den nächsten Jahren schon einer der grössten Kurorte des Landes sein würde. Und das will etwas heissen.

Dem Schneider Zwirn wurde vom Gemeinderat der kaufmännische Teil des Brunnengrabens übergeben. Er war auch kaum zu Hause in der Stube angelangt, als er die Pritsche abräumte, Feder und Papier aus dem schiefen Kasten hervorholte und sich ans Schreiben machte. Er schrieb nach Sunnentorn „wegen dem Geld“. Bei der Tür stand seine Frau, das Jüngste auf dem Arm, und schaute ihm aus einiger Entfernung ehrfürchtig zu. Auch sie ahnte, dass Wichtiges im Gange war.

Als das Schreiben fertig war, nahm der Schneider abermals Stock und Hut und entfernte sich eilig. Sie sollten sehen, die von Krummbach, welche Arbeitskraft und Tüchtigkeit in ihm wohnten, so dachte er, als er die lange Dorfstrasse hinabschritt, der Kirche zu. Dort in der Nähe wohnte der Grausengusti, und den suchte er. Als er bei dem kleinen Häuschen angekommen, klopfte er flüchtig und herrisch an. Weil man ihm nicht sogleich öffnete, besorgte er dies selbst und trat ins Innere. Doch da schoss der schwarze Hund des Grausengusti, der allein zu Hause war, und der keine Ahnung hatte, wer vor ihm stand, mit wütendem Gekläff auf den Schneider los. So kam es, dass der Zwirni-Schneider, wie sie ihn im Dorfe nannten, noch schneller draussen als drinnen war und die Tür hinter seinem Rücken fest und sicher ins Schloss schlug.

Darauf ging er ins Nachbarhaus und fragte nach dem, den er suchte. Dort sagten sie ihm, dass der Gusti nicht zu Hause sei. Er „schaffe danieden auf der Föhnimatt“, hiess es, und komme nicht vor dem Abend zurück.

Das war die erste Schwierigkeit. Da musste der Schneider wohl oder übel seiner Ungeduld Zügel anlegen. Er liess Bescheid, der Gusti solle ihn, sowie er nach Hause komme, aufsuchen, er habe eine wichtige Sach’ für ihn.

Als der Gusti am Abend kam, hatten die beiden eine lange Sitzung, an derselben Pritsche, an der der Brief an die Bank in Sunnentorn geschrieben wurde.

„Was sagst dazu, Gusti,“ begann der Schneider, ,,wir graben jetzt einen tiefen Brunnen, und du bist unser Brunnenmeister, und fünfzig Batzen hast alle Tag.“

Der Gusti, der ordentlich nach Schnaps roch, sagte vorläufig nichts; er pfiff scharf durch die Zähne und sah den Zwirn ungläubisch an. Aber da der schwieg und auf eine Antwort zu warten schien, so meinte er:

„Jo, wo wollt ihr da den Brunnen graben?“

„He im Dorf natürlich, so beim Misthaufen vorm ,Gesprungnen Krug‘.“

„So — ich hab’ gedacht, man sollt da graben, wo’s Wasser hat.“

„Jo, meist du, es hab’ nit überall Wasser?“

„Das mein’ ich.“

Einen Augenblick kam es da an den Zwirni-Schneider wie Angst; Angst vor etwas Unbestimmtem. Doch dann schüttelte er das Gefühl der Schwäche rasch von sich ab. Er sagte in überlegenem Tone:

„Schwatz doch nit so narrechtig, Gusti. Es muss da überall Wasser genug haben.“

Und wieder pfiff der Grausengusti durch die Zähne und schwieg. Aber der Zwirn drängte:

„Weisst du etwas, womit man ’s Wasser auffinden kann?“

„Jo, selb’ wüsst’ ich schon.“

„Also, morgen früh gehst gleich dran und suchst den Pratz; aber mach’ nur, dass er auch in die Mitte vom Dorf kommt.“

„Das geht nit. Ich muss zuerst auf der Föhnimatt meine Arbeit fertig machen.“

Da brauste der Schneider auf:

„Nit von dem. Der danieden soll seine Arbeit machen lassen, wo er will. Morgen suchst ’s Wasser.“

Nur ungern tat das der Gusti. Es war ihm nicht recht, den „Föhnimättler“ einfach sitzen zu lassen. Er ärgerte sich. Aber was konnte er mehr tun?

Und weil er sich am andern Morgen immer noch ärgerte, trank er einen Schnaps mehr als gewöhnlich, dazu noch einen gehörigen. Dann ging er in den Wald und schnitt sich eine Wünschelrute.

Doch als er damit wieder dem Dorfe zuschritt, war in ihm der Ärger noch grösser geworden, ihm wollte die Sache nicht recht gefallen. Zudem fühlte er, dass ihn der lästige Durst noch mehr plagte als an andern Tagen, mit Nägeln und Sporen kratzte er ihm den Hals hinauf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Grausengusti zuerst im „Kreuz“ einkehrte und dann in der „Krone“ und dabei jedesmal ins Glas hineinguckte. Weil das nun diesmal auf Gemeinderechnung kam, bestellte er sich immer ein grosses Glas. Als er die „Krone“ verliess, war er schon ordentlich befrachtet, doch nichtsdestoweniger tat er seine Pflicht. Er hielt die frischgeschnittene Wünschelrute zwischen den Fingern und sah voller Andacht und Aufmerksamkeit auf ihre Blätter nieder. Denn wenn sie sich neigten, dann war dies ein sicher Zeichen, dass er auf einer grossen Wasserader stand. Er ging und suchte und schimpfte und schwor dabei; aber weder links noch rechts schwenkte er die Augen, auch dann nicht, wenn er selbst manchmal ins Schwanken kam.

So näherte er sich dem „Gesprungenen Krug“.

Dort stolperte er über einen Stein und fiel auf die Strasse, so lang er war — dies behauptete wenigstens der Garzam-Juli —; der Gusti aber sagte, die Wünschelrute hätte ihn an den Boden gezogen. An jener Stelle müsse eine „meineidig“ grosse Wasserader sein, und wenn sie nicht dort sei, dann sei überhaupt keine da, denn so habe ihn das Wasser noch nirgends angezogen.

Dabei blieb er und ärgerte sich hinfort nicht mehr. Denn er selbst war nun überzeugt, dass ein unterirdischer Quell unter dem Dorfe vorbeirollte.

Zur nicht geringen Freude des Ammanns und zur Befriedigung des Schneiders war der Platz, wo der Gusti umfiel, gerade neben dem Misthaufen vom ,,Gesprungenen Krug“.

Als der Grausengusti sich wieder erhoben hatte, nahm er die Wüuschelrute, welche er beim Fallen festgehalten, am untern Ende und zeichnete damit auf die Strasse einen Kreis, der mehr oder weniger rund war.

Selbstverständlich war der Zwirni-Schneider dem Brunnensuchen nicht ferngeblieben. Er folgte dem Grausengusti stets auf dem ganzen Gang durchs Dorf in kaum zwei Schritte Abstand. So war er auch einer der ersten, die sahen, wie der Gusti den Brunnen auf den Boden zeichnete. Als er bemerkte, dass dies nun gerade der Ort war, den er im Gemeinderat als den rechten und den geeignetsten bezeichnet, glaubte er wie nie zuvor in seinem Leben an seine eigene Unfehlbarkeit. Einen kleinen Kummer hatte er nur bei dem Gedanken, dass sich vielleicht nicht alle Gemeinderäte seiner Worte von der Sitzung erinnern möchten. Darum unterliess er es auch nicht, jeden einzeln, der Reihe nach, wie sie ankamen — das dauerte nicht lange, da die Kunde wie ein Blitz durchs Örtlein flog —, daran zu erinnern.

Als der ganze Rat von Krummbach und alle Männer und Frauen und Kinder, soweit sie nicht krank waren und marschieren konnten, ausserhalb des Kreises standen, und der Grausengusti drinnen, da sagte der letztere nochmals mit grosser Überzeugung:

„Da niedenvor muss es meineidig viel Wasser haben, denn so hat’s mich an der Wünschelrute noch bei keinem Brunnen z’Boden gerissen.“

Mehr wusste der Gusti nicht zu sagen; aber das genügte auch vollauf, um einen tiefen Eindruck auf alle Anwesenden zu machen.

Und weil nun der Grausengusti schwieg, glaubte der Schneider es ja nicht versäumen zu dürfen, vor dem ganzen versammelten Volke auch seine Stimme erschallen zu lassen. Ähnlich wie tags zuvor im Gemeinderat, so sprach er da abermals in wohlgesetzten und kräftigen Worten vom Werte des künftigen Brunnens. Er sprach eine gute Weile und ohne Pause. Und eine Stille war ringsum, wie sie noch kein Pfarrer in der Krummbacher Kirche je erlebt hatte.

Als er endlich schwieg, sei es nun, dass er nichts mehr zu sagen hatte oder nicht mehr weiter wusste, da waren es nicht nur die Gemeinderäte, die nickten, sondern alle, wie sie dastanden. Denn jeder rechnete im stillen aus, wie gross der Nutzen sein könne und worin er läge, den gerade er aus dem Brunnen ziehen könne. Die vom „Kreuz“ und von der „Krone“ dachten schon daran, auf welche Weise sie wohl am zweckmässigsten ihre bislang bescheidenen Häuser in Hotels umbauen sollten. Während die übrigen glaubten, dass es unter den vielen fremden Vögeln, welche dann alljährlich durchs Dorf geflogen kämen, auch für sie einige bunte Federn zu rupfen gäbe.

Es mögen ja wohl auch einige gewesen sein, die aus blosser Neugierde hergelaufen waren, und die wie Kinder mit offenen Mäulern dastanden; aber auch sie kamen bei des Schneiders Zwirn schwungvoller Rede auf ihre Kosten. Gleich einem Fieber ergriff es auch sie bei der allgemeinen Begeisterung. Und so waren denn zum Schlusse alle hochbefriedigt.

Der Garzam-Juli wollte zwar zuerst so im Hintergrunde Einwendungen machen; aber da kam er schlecht weg. Wie die bösen Hunde zeigten sie ihm dräuend die Zähne, so dass er es vorzog, zu gehen.

Als der Schneider schwieg und kein anderer mehr das Wort ergriff, zerstreuten sich die Leute allmählich. Die Frauen schritten wieder ihren Kochherden zu, welche sie im Stiche gelassen, und standen vor den Türen zu zweien und zu dreien, um ihre Privatmeinungen von der Sache den Nachbarinnen auseinanderzusetzen. Weil aber diese Meinungen denn doch etwas verschieden voneinander waren und sich nicht nur so mit zwei Worten abtun liessen, so stand an jenem Tage auf mehr als nur einem Tische ein angebranntes Essen.

Doch mancher eheliche Zwist, der darob zu gewöhnlichen Zeiten unvermeidlich gewesen, wurde dadurch aufgehoben oder doch sehr gemildert, dass sämtliche Männer in wehrpflichtigem Alter und darüber — ein paar mögen auch darunter gewesen sein, doch das hat nichts zu sagen — sich vom Brunnen weg in die drei Wirtschaften des Dorfes zerstreuten. Dort sassen sie, hielten sich mit den Ellbogen an den Tischen fest und drehten die Sache mit dem Brunnen um und um. Von unten und von oben ward sie beleuchtet, und fast schien es, als ob kein einzig dunkles Flecklein daran zu finden sei.

Doch so beim dritten oder vierten Schoppen herum mochte es sein, als der Garzam-Juli ganz unvermutet eine kleine Trübung in die bisher so heiteren Gemüter brachte.

Ihm fiel nämlich, ganz urplötzlich und ohne dass er selbst wusste warum, ein, dass der Kreis, den der Gusti gezeichnet, mitten auf der Strasse lag; und die war dort nicht sehr breit. Es stand fest, dass, wenn einmal der Brunnen dort war, kein Fuhrwerk durchkommen konnte.

Als ihm dies einfiel, freute sich der Garzam-Juli im stillen, nicht nur der Entdeckung wegen, sondern auch darum, weil dies alles in der ganzen Zeit noch keinem andern eingefallen war. Im nächsten Augenblicke schon platzte er damit in die schäumende Freude, und alle schwiegen betroffen und betreten still. Den tiefsten Stich ins Herz gab’s dem Schneider Zwirn. Der liess den Unterkiefer hängen, als wäre plötzlich das Scharnier darin gebrochen, und stierte mit grossen, runden Augen auf den Garzam-Juli. Er sah in diesem Augenblicke viel weniger imponierend und würdevoll aus, als zwei Stunden zuvor am Brunnen. Da fühlte er’s mit wehem Druck, dass sein Weg zur Höhe schon eine kleine Krümmung machen wollte. Es schien eben auch ihm nicht vergönnt, so ohne weiteres die Regionen des Ruhms zu erklimmen.

Doch mit seiner ihm angeborenen Beweglichkeit fasste er sich schon wieder nach wenigen Minuten, eine gute Weile, ehe die andern sich von ihrem Schrecken erholten. Er suchte mit einer Anstrengung, die ihm den Schweiss in dicken Tropfen auf die Stirne trieb, nach einem Ausweg aus dieser Klemme. Und mit einem Male flog ein frohlockendes Lächeln über sein Gesicht. Er hatte ihn gefunden, den Ausweg! Doch sagte er vorläufig nur:

„Du, Juli, denkst du, ich hab’ das nit auch gewusst, dass die Strass’ dort eng ist? Meiner Seel’, das hab’ ich auch gewusst.“

Ale sahen nun abwechselnd auf den einen und den andern. Der Garzam-Juli hatte sich aufgeblasen wie ein Frosch und hielt mit seinen roten Händen den Stuhl, auf dem er sass, fest umklammert. Aber der Schneider strich höhnisch lächelnd seinen Schnurrbart in die Höhe. Und als er gar erst von seinem Stuhl aufstand, um in innerer Erregung ein paarmal auf und ab zu gehen in der raucherfüllten Schankstube, da schauten sie ihn mit masslosem Staunen an. Es war seltsam, welche Gewalt der Schneider in so kurzer Zeit über die sonst recht zugeknöpften und misstrauischen Bauern gewonnen hatte. Sie hätten wohl sicherlich alle von ihm geglaubt, er sei ein Genie — wenn sie gewusst hätten, was das ist.

Als der Schneider wieder bei seinem Stuhle angekommen, liess er sich darauf nieder, dass es krachte. Dann sagte er:

„Du, Juli, du musst nicht glauben, dass ich das nit gewusst hab’, wegen der Strass’. Ja, du, wie du so dahockst, du glaubst wohl, dass müss’ jetzt so ganz unmöglich sein, dem abzuhelfen. Nein, du wüsstest sicher nicht, wie — aber ich weiss es.“

Sich an alle wendend, fuhr er fort:

„Zwar kann ich euch das jetzt nicht sagen, weil das Sach’ vom Gemeinderat ist; aber ihr werdet’s ja bald erfahren.“

Diese Geheimtuerei machte einen gewaltigen Eindruck, so dass mehr als einer sich hinter den Ohren zu kratzen oder an der Nase zu reiben begann — alles Handlungen, die sie sonst nur verrichteten, wenn der Herr Pfarrer oder sonst eine wichtige Persönlichkeit mit ihnen redete. Dem Schneider entging dies nicht, und darum schwoll ihm auch der Kamm mächtig an.

Dem Garzam-Juli, den eine sinnlose Wut brandrot färbte, wandte er verächtlich den Rücken. Der bezeigte zwar nicht übel Lust, seinem Widerpart auf den Leib zu rücken. Aber er musste zu seinem Leidwesen die Wahrnehmung machen, dass er allein war mit seiner Abneigung gegen den Brunnen und seinem Hass gegen den Schneider, und dass er es mit mehr als einem zu tun bekäme, wenn er „anfinge“.

Dieserhalb fing er nicht an. Er erhob sich und ging mit polternden Schritten der Tür zu. Dort blieb er noch einmal stehen und brüllte:

„Horchet nur auf ihn, auf den Schneiderbock, den verdammten, und folget ihm, der führet euch alle miteinand in den Dreck!“

Weiter kam er nicht, obschon er offenbar viel mehr hatte sagen wollen, denn schon flogen die Schoppengläser, und ein böses Rumoren erhob sich. Was den Garzam-Juli veranlasste, die Tür schleunigst ins Schloss zu schlagen und zu gehen.

Dies alles spielte sich im „Gesprungenen Krug“ ab. Jedoch in ganz ähnlicher Weise freuten sich die Bauern in den beiden andern Wirtschaften, mit dem Unterschiede nur, dass es dort niemandem eingefallen, der Brunnen könne die Strasse versperren. Aber nicht lange war dieser Schatten im „Gesprungenen Krug“ aufgetaucht, bis er sich auch auf die beiden andern Schankstuben weiterpflanzte.

Es drückten sich nämlich sogleich nach der neuen Wendung der Dinge einige heimlich aus dem „Kruge“ fort, um ja die ersten zu sein, die es im „Kreuz“ und in der „Krone“ berichten konnten. Dann herrschte auch an diesen beiden Orten Verblüffung und anhaltendes, peinliches Schweigen.

Nicht anders wusste man sich zu helfen, als dass man eine dringliche Gemeinderatsversammlung auf den nächsten Tag einberief, zum Zwecke, den Brunnen aus der Enge zu bringen.

Und in jener Sitzung soll’s heiss zugegangen sein. Wurden doch ganz ausserordentliche Vorschläge gemacht und beispiellose Beschlüsse gefasst. Nach der Sitzung schüttelten darum auch einige Bürger bedenklich die Köpfe, sowie sie davon hörten, dass ein Haus und ein Häuslein und zudem noch zwei Scheunen gegenüber vom „Gesprungenen Krug“ abgebrochen werden sollten, um die Strasse, die dem Brunnen weichen musste, darüber zu leiten.

Nun aber stand dem Brunnen nichts mehr im Wege.

Die längsten Hebel wurden angesetzt, und Schaufel und Pickel dazu. Von den ehrwürdigen alten Scheunen, die schon so manches Donnerwetter glücklich überlebt hatten, sausten die Ziegel mit unheimlicher Eile auf den Erdboden nieder, so, dass sie nach wenigen Tagen schon aussahen, wie geschlachtete Tiere, welchen man das Fell abgezogen.

Die Fremden, die dann an den nächsten Sonntagen durchs Dorf kamen, blieben stehen und fragten, mit Bedauern in Stimme und Miene, ob’s da gebrannt habe.

Aber es wurde ihnen nur stets die tröstliche Antwort:

„Nein, wir graben jetzt einen grossen, tiefen Brunnen; es wird jetzt bald anders zu Krummbach, als es gewesen.“

Der Krummbacher und der Katzengusti

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