Читать книгу Der Himmel küsst die Erde - Karl-Heinz Fleckenstein - Страница 10
ОглавлениеEine Nacht wird zum Zeitmaß der Weltgeschichte
Maria, deine persönliche Weihnachtsgeschichte begann mit Profanem. Kaiser Augustus, ein machtbewusster Stratege, hatte sich geschickt zum Alleinherrscher emporgehoben. Er litt gewiss nicht unter fehlendem Selbstwertgefühl, als er sich „Sohn Gottes“ titulieren ließ. Als er ein neues Steuergesetz erließ, wollte er wissen, wie viele Bürger ihm unterstanden. Ein Verwaltungsakt in den üblichen Strukturen. Augustus und Quirinius sind für dich wohl eher zufällig die ersten Namen, die uns in deiner Geschichte begegnen.
In der Tat spielten für mich diese Personen überhaupt keine Rolle. Sie dienten eher der zeitlichen Einordnung. Einen Kalender mit exakter Zahlenangabe für Jahr, Monat und Tag, wie ihr ihn heute habt, kannten wir damals nicht. Was du als Verwaltungsakt bezeichnest, war schon Grund genug, Menschen hin und her zu schieben. Wie Zahlen auf einem Blatt Papier. Sie verloren ihre Gesichter und zählten nur noch als bloße Masse für eine Herrschermacht, waren Objekte eines eiskalten Kalküls. Unter diesen Menschen war auch ich mit Josef nach Bethlehem unterwegs.
Sicherlich warst du damals nicht die einzige Frau, die in der Zeit ihrer Schwangerschaft von dieser steuerlichen Klassifizierung betroffen war. Bestimmt wart ihr beide auch nicht die Einzigen, die Quartierprobleme hatten.
Sicherlich nicht. Was ihr heute romantisch mit einer geschmückten Krippe und Krippenfiguren darstellt, zeigt nichts weiter als unsere ganz massiven Probleme in alltäglichem Umfeld.
So wurde dein Kind geboren, mitten hinein in den größten Schlamassel. Zum unpassendsten Zeitpunkt. Hättet ihr das planen können, ihr hättet es bestimmt ganz anders gemacht. Aber in der Regel klappt ja nur selten etwas so, wie es nach unserem Ermessen sein sollte.
Und doch kam damals in Bethlehem mit meinem Kind Gott sichtbar in die Welt. Mitten hinein in einen Alltag, in dem alles schieflief, der nicht das geringste Feierliche an sich hatte. Es war kein Fest angesagt. Nichts war gerichtet. Ganz im Gegenteil. Die Ereignisse überstürzten sich. Es reichte eben gerade noch, dass der Engel den Hirten Bescheid sagte. Das war alles. Diese machten sich auf den Weg und fanden mich und Josef in diesem Stall. Dazu das Kind in der Krippe liegend.
Die Hirten waren weder Männer einer Bibelschule, noch gehörten sie einer Synagogengemeinde an. Am Sabbat waren sie wohl auch unterwegs. Sie lebten in der Gruppe und von der Gruppe. Und dieser Art von Menschsein zeigte sich Gott durch die Botschaft der Engel. Klar gesagt, er informierte Außenseiter, Menschen, die keinerlei religiöse oder gesellschaftliche Voraussetzung für eine Gottesoffenbarung hatten.
Und doch waren sie unterwegs zu dem einen Ziel, von dem der Engel gesprochen hatte. Gemeinsam stießen die Hirten auf den Stall. Durch den Höhleneingang betraten sie den erbärmlichen Raum. Sie sahen nichts mehr vom vorherigen Engelsglanz, sondern eine erschreckend arme Familie. Nichts als ein Baby in Windeln. Es war alles vollkommen unspektakulär. Doch als sie hineinkamen, war es mir, als ob alle Engel des Himmels mit ihnen den Raum erfüllten. Mit einem Mal schien den irdischen Gestalten all ihre Schwere genommen. Erleichtert und befreit standen sie da und sahen mein Kind in der Krippe. Und wie sie meinen Sohn betrachteten, erkannten sie die Macht des Lebens. Eine Macht, die sie nur erahnt, aber noch nie erlebt hatten. Und es war ihnen, als würde ihr Leben neu beginnen. Tief in meinem Innern vernahm ich die Melodie eines himmlischen Lobgesangs. Ganz zart. Wie eine Erinnerung, die aus den Tiefen meiner Seele aufstieg. Diese Musik, die den Raum erfüllte, klang beruhigend wie ein Wiegenlied. Sie übertönte nichts. Aber in dieser Melodie schwang eine unsichtbare Kraft mit, die alles Seufzen, Klagen und Zagen, auch das bitterste Stöhnen, und selbst den härtesten Fluch aufweichen und in ein himmlisches Lob verwandeln konnte. Die Hirten kehrten zurück, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten. Das unterschied sie von ihren Zeitgenossen. Und alle wunderten sich über ihre Rede. Sie waren die ersten, die die „Gute Nachricht“ weitergeben durften.
Was war für dich das Bedeutsamste an diesem Ereignis im Stall von Bethlehem?
Die Engel sagten es ganz klar: „Euch ist heute der Retter geboren!“ Also, der Retter der Menschheit. Damit wurde diese Nacht zum Zeitmaß der Weltgeschichte, zum Tag Null der Zeitrechnung. So entscheidend war dieses Ereignis, dass alles, was davor geschehen war, als „vor Christi Geburt“, und alles was danach kam, mit „nach Christi Geburt“ bezeichnet wird. In dieser Nacht kam Gott durch mein Kind in aller Einfachheit zu den Menschen. So einfach, dass auch die Armen wie die Hirten auf dem Feld Zugang zu ihm fanden.
Waren mit dieser Botschaft „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren“ (Lk 2,11) zunächst nur die Hirten angesprochen?
Damit waren nicht nur die Hirten auf dem Feld gemeint. In der Engelbotschaft heißt es zuvor ausdrücklich: „Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll.“ (Lk 2,10). Die Botschaft gilt also jedem. Auch euch persönlich. Euch ist heute der Retter geboren. Das Gotteskind wurde Menschenkind, damit ihr Gotteskinder werden könnt. Jedoch hat mein Sohn diese Welt nicht pauschal erlöst. Erlösung ereignet sich erst da, wo ihr Jesus als Retter erkennt und annehmt.
Mit dem Blick auf die Einfachheit der Hirten frage ich mich heute: Wo geht unsere Kultur hin? Beschränkt sie sich auf den Austausch von Informationen, die unter allen Umständen unterhaltend und verkäuflich sein müssen? Bedeutet die digitale Revolution, die Allmacht von Computer und Smartphone, dass wir unsere vierte Dimension verlieren, das Göttliche, das die Hirten noch in ihrem ganzen Sein erfasst hatten?
Die Hirten wollen euch heute mit euren Computern und Smartphones an der Hand nehmen und euch sagen, dass diese nur die eine, die vordergründige Welt, repräsentieren. Sicher, ihr braucht diese Welt des Informationsaustausches für eure Berufe. Zu eurem wahren Leben gehört aber der göttliche Weitblick, damit ihr dort, wo alle nur schwarzsehen, die bunte Vielfalt und die rettende Wahrheit erkennen und annehmen könnt.
Es hat im Laufe der Geschichte so viele gegeben, die versprochen haben, uns das Heil und das Glück zu bringen. Karl Marx brachte den Kommunismus. Lenin und Stalin wollten das Paradies auf Erden schaffen, notfalls mit der Peitsche. Was daraus geworden ist, wissen noch viele von uns aus eigener Erfahrung: Statt des versprochenen Paradieses kam die Hölle! Im Dritten Reich dann das Unheil auf der ganzen Linie. Manche Philosophen glauben, die Menschheit mit übersteigertem Individualismus beglücken zu müssen. Doch sie haben damit oft nur Angst und Verzweiflung hervorgerufen.
Nur mein Sohn kann euch Friede und Freude ins Herz pflanzen. Auch wenn damit eure Probleme nicht alle hinweggewischt sind. Aber mit seiner Hilfe, seiner Anwesenheit in eurem Leben, werdet ihr sie bewältigen. Er kann selbst ausweglose Situationen im Weltgeschehen verändern. Ein Beispiel dafür ist das atheistische Regime in der früheren Sowjetunion. Dass es zerbrach, war sein Werk.
Trotzdem bewegen uns zahlreiche Fragen und Zweifel. Vieles bleibt einfach unbeantwortet. Unsere Sehnsüchte werden nicht eins zu eins erfüllt. Wir sitzen unterm Weihnachtsbaum und fragen danach, was sich seit dem Lobgesang der Engel mit ihren vollmundigen Ansagen geändert hat. Müssen wir am Ende der Weihnachtszeit mit dem Christbaum auch unsere Sehnsüchte und Hoffnungen abschmücken? Warten und hoffen? Ist es das?
Das Warten, Suchen und Fragen gehört wesentlich zu eurem Glauben an meinen Sohn. Solange ihr auf dieser Welt lebt, wird sich der Glaube nie darüber erheben können. Damals wie auch heute gilt: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ (Lk 2,11-12). Mehr gibt es nicht. Und zugleich ist damit schon alles gesagt. Reicht euch das nicht?
Johannes der Täufer ließ einmal meinen Sohn fragen, ob er derjenige sei, der kommen sollte. Oder ob man auf einen anderen warten solle? Jesus wies auf die gegenwärtigen Zeichen des Reiches Gottes hin. Es werden immer nur gebrochene Zeichen sein. Mehrdeutig und vielschichtig. Eben deshalb sagt er: „Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“ (Mt 11,6). Um dieses Ärgernis des Glaubens kommt ihr nicht herum. Das könnt ihr nicht umschiffen. Das ist ähnlich wie mit den Sternen. Man sieht sie nicht am hellen Tag. Nur in der Nacht. Nur wenn es sonst ganz dunkel um euch ist. So verhält es sich mit dem Glauben. Er ist eine Sache des Vertrauens, nicht der Sichtbarkeit. Dazu braucht ihr den Heiligen Geist, der auch euch die Ohren für den Lobgesang der Engel öffnet. Wo das geschieht, da wird der Retter auch heute geboren: mitten hinein in eure zerrissene und sehnsüchtig hoffende Welt.
Was bei euch im Stall von Bethlehem begann, setzt sich also fort als die paradoxe, geheimnisvolle Strategie Gottes als „Rettung von unten“.
In meinem Sohn kommt der Retter auch heute zu euch. Er heilt und tröstet. Er fordert euch Menschen heraus. Er sucht Arme und Reiche. Es liegt an euch, ob ihr euch ihm anschließen wollt. Er kommt und bringt Verhältnisse in Ordnung, sodass sich Menschen versöhnen. Was bei uns in diesem Stall geschah, will sich wiederholen in eurem Leben. Mein Sohn möchte bei euch einkehren. Er ist ein Geber, kein Nehmer. Er schenkt sich und bringt mit, was ihr braucht. Er macht sich klein. Ihr könnt seine Krippe sein. Er kommt und verwandelt euch. Ihr dürft ihm vertrauen in eurer Einsamkeit, in eurem Versagen. Auch in eurer Todesfurcht sucht er eure Nähe. Mit ihm werdet ihr am Ende den Sieg davontragen. Lasst mein Kind aus der Krippe bei euch einziehen! Dann soll jeder einzelne von euch wissen: Ich bin jetzt Teil einer großen Geschichte, der Liebes-Geschichte Gottes mit seiner Welt und mit seinen Menschenkindern.