Читать книгу Die Liebe des Ulanen - Karl May - Страница 5

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2. Ein Veteran.

Verfolgt man die Straße, welche von Thionville über Stuckingen nach Südosten führt, so passirt man einige kleine Zuflüsse der Mosel, und gelangt unbemerkt auf eine fruchtbare Hochebene, in deren reichen Bodenertrag sich einzelne kleine Dörfer und Meierhöfe theilen. Dort liegt der Ort Ortry mit einem Schlosse, dessen Aeußeres allerdings keinen sehr imponirenden Eindruck macht, dessen innere Ausstattung aber desto mehr von dem Reichthume seines Besitzers zeugt.

Dieser ist der Baron von Sainte-Marie. Vor einer nicht zu langen Reihe von Jahren in diese Gegend gekommen, war er den Bewohnern derselben vollständig fremd gewesen, und auch jetzt wußte man weiter nichts, als daß sein Name erst seit einiger Zeit in die Adelsregister aufgenommen worden sei.

Er lebte den Winter über in Paris und kam beim Einbruch des Frühjahres nach Ortry, um bis zum Spätherbste hier zu bleiben. Er hielt sich keine Gesellschaften und lebte sehr zurückgezogen, hatte aber auf die Arbeitsverhältnisse der Umgegend einen großen Einfluß gewonnen.

In der Nähe des Schlosses, unten am Bache, wo früher die Rinder geweidet hatten, erdröhnten jetzt die Dampfhämmer; riesige Schornsteine ragten empor, und schwarze Räder drehten sich unter heimtückischem Schnauben im Kreise. Rußgeschwärzte Arbeiter hantirten mit Zange und Feile, und auf dem ganzen Etablissement lag jene mit Ruß und metallischen Atomen geschwängerte Luft, welche eines der unangenehmsten Attribute unseres eisernen Zeitalters ist.

Der Baron von Sainte-Marie betrat diese rauchgeschwärzten Gebäude nur selten selbst. Ein Fabrikdirector hatte die Aufsicht über sämmtliche Arbeiter. Oefters jedoch stieg eine lange, hagere, weißköpfige Gestalt vom Schlosse hernieder, um, ohne ein Wort zu sagen, langsamen Schrittes die Fabrikräume zu durchwandern, und dann flüsterten die Arbeiter einander warnend zu: »Der Capitän geht um!«

Dieser Capitän war der Vater des Barons. Man erzählte sich, daß er bereits neunzig Jahre alt sei; aber seine Haltung war kerzengerade, sein dunkles Auge noch voll Leben, und sein Mund noch voll der schönsten Zähne. Diese Letzteren bemerkte man, wenn er sich in zorniger Stimmung befand. Er zog dann mit einer fletschenden Bewegung seiner Oberlippe den dicken, schneeweißen Schnurrbart empor, so daß sein starkes, blendendes Gebiß zu sehen war und demjenigen eines Hundes glich, der sich anschickt, sich auf seinen Gegner zu werfen.

Nie sprach der Capitän zu einem der Arbeiter ein Wort; nie lobte oder tadelte er; aber man wußte, daß er die eigentliche Seele des ganzen Unternehmens sei. Wenn er an der Werkbank, am Ambos, am Glühofen stehen blieb, dann nahmen sich die Leute doppelt zusammen. Beim geringsten Fehlgriff fletschte er die Zähne, kniff die Augen zusammen und entfernte sich schweigend; doch nach einigen Minuten kam sicher der Werkmeister, und sagte sein unwiderrufliches: »Abgelohnt und entlassen!«

Schritt dann der Alte wieder dem Schlosse zu, so athmeten die Leute erleichtert auf und schüttelten den Druck ab, welcher während seiner Gegenwart auf ihnen gelastet hatte.

Außer diesen Besuchen in der Fabrik war er nie zu sehen, obgleich der Förster versicherte, ihm des Nachts im Walde begegnet zu sein im tiefsten Dickicht, in der Nähe des alten Thurmes, welcher dort seit langen, langen Zeiten lag, aber von Jedermann gemieden wurde, da man wußte, daß mit den Gespenstern, welche dort hausten, nicht zu spaßen sei. Allerdings gab es einige wenige Männer, welche im Stillen über diesen Aberglauben lachten, in Gegenwart Anderer jedoch sich den Anschein gaben, als ob sie denselben theilten. –

Seit einiger Zeit hatte sich die Zahl der Arbeiter vermehrt. Es war eine Abtheilung für Feuergewehre errichtet worden. Es langten, man wußte nicht woher, ganze Wagenladungen alter Gewehre an, welchen eine neuere Construction gegeben wurde. Hatten sie diese erhalten, so verschwanden sie, ohne daß die Arbeiter wußten, wer sie abgeholt habe. Dann wurden auch bedeutende Vorräthe von Hieb- und Stoßwaffen geschmiedet, und diese Abtheilung der Fabrik war es, welcher der alte Capitän seine besondere Aufmerksamkeit widmete, allerdings auch, ohne jemals den Mund zu einem lauten Worte zu öffnen.

Von seinem Sohne, dem Baron, erzählte man sich heimlich, daß er zuweilen nicht recht bei Sinnen sei. Es solle Zeiten geben, in welchen er sich tagelang eingeschlossen halte, und dann sei in seinen Gemächern ein unterdrücktes Wimmern und Stöhnen zu vernehmen. Dann werde der alte Capitän gerufen, und nachdem dieser sich stundenlang bei seinem Sohne aufgehalten habe, lasse dieser sich wieder sehen, bleich und angegriffen, als ob er von einer langen, gefährlichen Krankheit erstanden sei.

Der Baron war ein schöner Mann, doch mit jenem geheimnißvollen, wachsartigen Teint, welcher immer auf eine eigenartige, vielleicht gar krankhafte Stimmung der Psyche schließen läßt; sein großes Auge war wie mit Flor bedeckt, und in seinem Auftreten lag eine ängstliche Scheu, deren Grund sich nicht ersehen ließ.

Ganz anders dagegen war seine zweite Frau, die Baronin. Sie war eine hohe, mehr als üppig ausgestattete Blondine, von der man wußte, daß sie das ganze Schloß regiere und sich unter Umständen sogar an den alten Capitän wage, vor dem sich doch sonst Jedermann fürchtete. Ihr Auftreten war ein anspruchsvolles, zuweilen beinahe rücksichtsloses, obgleich man sich sagte, daß es auch bei ihr Augenblicke gebe, in denen sie sehr leicht zu beeinflussen sei.

Die meiste Sympathie hatte Baronesse Marion sich zu erringen gewußt. Leider aber war sie seit zwei Jahren in England gewesen, und man erfuhr nur ganz zufällig, daß sie nächster Zeit über Deutschland heimkehren werde.

Im Gegentheil zu ihr war ihr Stiefbruder der Plagegeist Aller, welche mit ihm in Berührung kamen. Von seiner Mutter verwöhnt und von seinen bisherigen Erziehern verzärtelt, war er das einzige Wesen, dem der alte Capitän sein Herz geschenkt zu haben schien. Dieser machte ihn fortgesetzt darauf aufmerksam, daß er der Sohn der Sainte-Marie's sei, deren Familie nur auf diesem einen Auge stehe. Der Knabe wurde dadurch stolz, hochmüthig, befehlshaberisch und begann, sich für etwas unendlich Höheres und Besseres zu halten, als Andere. Seine größte Freude war, Untergebenen und Arbeitern zu zeigen, daß sie ihm in allen Stücken zu gehorchen hätten, und wehe dem, der ihm widersprach; er war von Seiten des Knaben und seiner Eltern der unwiederbringlichsten Ungnade verfallen. –

Es war des Vormittags. Wer an der Thür des Badezimmers der Baronin von Sainte-Marie gelauscht hätte, dem wäre ein leises Plätschern aufgefallen, welches im Innern zu hören war. Und wer das Glück gehabt hätte, eintreten zu dürfen, dem wäre gewiß die lascive Ausstattung dieses Raumes aufgefallen.

Dieses Zimmer hatte nämlich kein Fenster. Es bildete einen achteckigen Raum, dessen eine Wand durch die Thür gebildet wurde. Die anderen sieben Seiten wurden von Gemälden eingenommen, welche in der Weise angelegt waren, daß der Baderaum eine von Weinranken überdachte Insel bildete, um welche badende Frauen und Männer in den obscönsten Stellungen zu erblicken waren. Aus der Mitte des Rankendaches hing eine rosae Ampel herab, welche die drastischen Scenen mit einem wollüstigen Lichte übergoß.

Gerade unter dieser Ampel stand eine marmorne Badewanne, welche nicht mit Wasser, sondern mit Milch gefüllt war. Und in diesem weichen, weißen Bade plätscherte die üppige Gestalt der Baronin. Die gnädige Frau behauptete nämlich, daß die Milch das einzige Mittel sei, einen schönen Teint und die Reinheit der Formen bis in das späteste Alter zu erhalten. Und so wurde der bedeutendste Theil vom Ertrag der herrschaftlichen Milcherei für die täglichen Bäder der gestrengen Herrin verwendet, ohne daß der Baron etwas dagegen zu sagen gehabt hätte.

Ob die Ansicht der Baronin eine richtige sei, mag dahingestellt bleiben; gewiß aber ist, daß sie nach dem Bade sich stets in einer besseren Laune als sonst befand. Dies schien auch heute der Fall zu sein. Sie stieg aus der stärkenden Fluth und ließ sich langsam abtropfen. Dabei betrachtete sie die Wandgemälde und verglich die Schönheiten der badenden Frauen mit den Reizen, welche sie selbst besaß. Diese Vergleichung schien nicht unbefriedigend ausgefallen zu sein, denn es spielte ein selbstbewußtes Lächeln um ihre vollen, schwellenden Lippen, und sie flüsterte, stolz mit dem Kopfe nickend:

»Wahrhaftig, wäre ich ein Mann, so würde ich mich unbedingt in mich selbst verlieben. Ich kenne keine Zweite, welche so wie ich geeignet wäre, auch den weitgehendsten Ansprüchen zu genügen. Das thut die Milch. Sie conservirt den weiblichen Körper. Die Milch! Hahaha, dieser Stoff ist mir vertraut. Früher habe ich ihn mit diesen eigenen Händen gemolken, als Dienstmädchen! und jetzt bade ich mich in ihr, als Baronin!«

Sie schlüpfte in das Badehemd und klingelte. Eine Zofe trat ein, um sie zu bedienen. Sie trocknete die gnädige Frau ab, wechselte das Badehemd dann mit feiner Leibwäsche, und geleitete sie sodann nach dem Boudoir, um die eigentliche Toilette zu beginnen.

»Ist Alexander schon wach?« fragte die schöne Frau.

»Bereits seit zwei Stunden,« antwortete die Zofe.

»Ah, wie viel Uhr haben wir?«

»Elf.«

»So hat er sich bereits um neun Uhr erhoben! Das darf ich nicht dulden. Mein guter Knabe hat keine so eiserne Constitution wie ein Eisenschmied. Was thut er jetzt?«

»Er befindet sich bei dem gnädigen Herrn Capitän, der ihm, wie ich glaube, Fechtunterricht ertheilt.«

»Fechtunterricht! Einem sechszehnjährigen Knaben! Ich sehe, daß ich mit meinem Herrn Schwiegerpapa wieder einmal ernstlich sprechen muß. Alexander muß sich physisch noch bedeutend entwickeln, ehe er einen Degen in die Hand nehmen darf. Hast Du den Director bereits gesehen?«

»Nein. Er kommt gewöhnlich erst ein Viertel nach Elf.«

»So passe auf. Ich habe ihn zu sprechen, bevor er zum Capitän geht.«

»Ich werde ihn auf der Treppe erwarten.«

Bei diesen Worten überflog das Gesicht des Mädchens ein impertinentes, vielsagendes Lächeln, welches die Herrin nicht bemerkte, da die Zofe hinter ihr stand. –

Ueber dem Boudoir der Baronin lag das Lieblingszimmer des Capitäns. Es war ein dreifenstriger Raum, mit den einfachsten Möbels ausgestattet. Zwei altmodische Spiegel hingen an den Fensterpfeilern. Stahlstiche der Siege Napoleon's des Ersten schmückten die Wände, und dazwischen hingen Waffen aller Art, erbeutete Trophäen und verschiedene andere Andenken an die Märsche und Schlachten, welche der Capitän unter dem großen Corsen mitgemacht und mit erfochten hatte. Er war Capitän der berühmten Garde gewesen, hatte für den Ruhm Napoleon's und Frankreichs geblutet und lebte nur der Erinnerung jener großen, ereignißreichen Zeiten. Trotz seines hohen Alters schwärmte er noch heute für die Glorie Frankreichs, hing mit ganzer Seele an dem Namen Napoleon, und war bereit, die wenigen Jahre, welche ihm voraussichtlich noch beschieden waren, der Ehre seines Vaterlandes und der Befestigung des Thrones seines Herrschers zum Opfer zu bringen.

Der alte Krieger, den die Last der Jahre nicht zu beugen vermocht hatte, glich einem seit Jahrhunderten in Ruhe liegenden, von Schluchten, Spalten und Rissen tief zerklüfteten Vulkane, zu dessen Spitze man jedoch noch immer mit Mißtrauen emporschaut, da man sich des Gedankens nicht erwehren kann, daß einmal eine Eruption erfolgen könne, bei welcher das so lange Zeit scheinbar schlummernde Verderben desto grimmiger und verheerender hervorbrechen werde.

Und wie sein Körper, so war auch seine Geisteskraft noch ungebrochen. Wie sein Auge, noch vollständig ungetrübt, ebenso in die Ferne zu blicken, wie in der Nähe mit seiner Schärfe Alles zu durchdringen vermochte, so waren sein Scharfsinn und seine gute Beobachtungsgabe von Allen gefürchtet, die mit ihm in Berührung kamen. Es hatte noch Keinen gegeben, der klug genug gewesen war, ihn täuschen zu können. Er war ein harter, strenger, eigenwilliger Kopf. Man wußte, daß er in den Mitteln, seine Zwecke zu erreichen, nicht im Mindesten wählerisch sei und sogar gewissenlos sein könne.

Die einzige Schwachheit, welche man an ihm entdeckt hatte, war seine mehr als nachsichtige Liebe zu seinem Enkel, den er auf das Aergste verwöhnte.

An diesem Morgen war dieser bei ihm, wie die Zofe ihrer Herrin ganz richtig gesagt hatte. Er hatte ihm ein ganz kleines Weilchen Fechtunterricht gegeben. Er war in der Kunst des Fechtens Meister gewesen, und noch heute besaß er genug Muskelkraft und Schärfe des Auges, um sich mit Jedem zu messen, der es wagen wollte, einen Gang mit ihm zu machen.

Nun saßen sie beieinander und sprachen – von dem deutschen Lehrer, welcher nun bald auf Schloß Ortry eintreffen sollte.

»Warum hast Du mir denn einen Deutschen ausgewählt, Großpapa?« fragte Alexander, der bei seinen sechszehn Jahren bereits so entwickelt war, daß man ihn keinen Knaben mehr nennen konnte.

»Aus mehrerlei Gründen, mein Sohn,« antwortete der Alte. »Zunächst zeigten sich Deine bisherigen französischen Lehrer in vieler Beziehung zu selbstständig; diese Deutschen aber sind gewohnt, zu gehorchen; sie sind die besten, die unterthänigsten Dienstleute, weil sie gewohnt sind, keinen Willen zu haben.«

Die Wahrheit war, daß die bisherigen Erzieher Alexander's denn doch in der Vergötterung des Knaben nicht gar zu weit hatten gehen wollen.

»Du meinst also,« sagte dieser, »daß so ein Deutscher ein gutes Spielzeug ist, ein Dienstbote, der sich vor den Franzosen fürchtet?«

»Ganz gewiß. Und ein zweiter Grund ist der, daß diese Deutschen ganz außerordentlich gelehrt sind. Bei Deinem neuen Lehrer wirst Du in einer Woche mehr lernen als früher in einem Monat.«

»Das heißt ja beinahe, daß die Franzosen gegen die Deutschen dumm sind!«

»Nein. Wir sind die Meister im practischen Leben; sie aber träumen gern; sie hocken über ihren Büchern und wissen vom wirklichen Leben nichts. Dieser Doctor André Müller wird vom Fechten, Reiten, Schwimmen, Tanzen, Exercieren, Jagen, Schießen, Conversiren und vielen anderen nothwendigen Dingen gar nichts verstehen, aber er wird Dir von Griechenland, Egypten und China Alles sagen können, obgleich er kaum wissen wird, wie groß Paris ist, und daß wir bei Magenta die Oesterreicher geschlagen haben. Die Hauptsache ist, daß Du bei ihm die deutsche Sprache sehr bald, sehr leicht und sehr vollständig erlernen wirst.«

»Deutsch soll ich lernen?« fragte Alexander mit Nasenrümpfen. »Warum? Ich habe keine Lust, mich mit der Sprache dieser Barbaren und Büchermilben abzuquälen!«

»Das verstehst Du nicht, mein Sohn,« erläuterte der Alte. »Es wird die Zeit kommen, und sie ist vielleicht sehr bald da, daß unsere Adler steigen werden, wie zur Zeit des großen Kaisers. Sie werden über den Rhein hinüberfliegen und Deutschland mit ihren scharfen, siegreichen Krallen ergreifen. Dann werden wir über das Land herrschen, welches einst uns gehörte, uns vom Unglücke aber für einige Zeit wieder entrissen wurde. Es wird wieder eine Aera anbrechen, in welcher der Tapfere mit Fürsten- und Herzogthümern, ja mit Königreichen belohnt wird, wie Murat und Beauharnais, wie Davoust, Ney und andere Helden, und wer dann die Sprache des Landes versteht, dessen Herrscher er geworden ist, der hat doppelte Macht und Gewalt über seine Unterthanen. Du bist ein Sainte-Marie, und Du bist mein Enkel, Du sollst und Du wirst zu den Tapfersten gehören. Du sollst mit dem Adler Frankreichs fliegen, und Deinem Ruhme soll der Lohn werden, welcher mir versagt blieb, weil die englischen Schurken meinen Kaiser in Ketten schmiedeten, auf einem fernen, abgeschlossenen Eilande, wie einen Prometheus, den man nicht zu entfesseln wagt, weil dann die Völker aus Angst vor ihm heulen würden.«

Die Erinnerung an den Ruhm und das Unglück seines Kaisers war in ihm wach geworden. Er hatte sich erhoben und sprach mit lebhaften Gesticulationen. Seine dunklen Augen blitzten, und bei den Worten, welche sich auf St. Helena bezogen, stieg sein gewaltiger Schnurrbart empor, und seine Zähne zeigten sich, das Gebiß eines Panthers, welcher zum Sprunge ausholt.

Da fiel sein Blick zufällig durch das Fenster auf den Weg hinab, welcher von den Eisenwerken nach dem Schlosse führte. Seine Oberlippe fiel herab, seine Brauen zogen sich zusammen, und mit völlig veränderter Stimme fuhr er fort:

»Doch davon werden wir später sprechen, mein Sohn. Jetzt gehe hinab und siehe zu, ob der Groom den Pony eingeschirrt hat, um Dich spazieren zu fahren.«

Das ließ sich Alexander nicht zweimal sagen; er eilte fort. Der Capitän aber trat von Neuem zum Fenster und heftete seine Augen mit finsterem Ausdrucke auf den Mann, der langsam nach dem Schlosse herbeigeschritten kam.

Dieser Mann hatte eine hohe, breite, kraftvolle Figur, und die Züge seines Gesichtes konnten interessant genannt werden. Er hielt den Blick scheinbar zu Boden gerichtet, als sei er in tiefes Nachsinnen versunken; aber wer ihn hätte beobachten können, dem wäre aufgefallen, daß sein Auge unter den gesenkten Lidern heraus forschend nach den Fenstern derjenigen Zimmer schielte, welche die Baronin bewohnte.

»Es wird hohe Zeit, dem Spaße ein Ende zu machen,« brummte der Capitän, indem er das Fenster verließ, um von dem Manne nicht bemerkt zu werden. »Er war außerordentlich brauchbar und hat Alles auf das Trefflichste arrangirt. Er ist auch bisher verschwiegen gewesen; aber seit neuerer Zeit steigt er mir mit seinen Ansprüchen zu hoch. Ich habe ihm bisher diese Baronesse überlassen, welche leider meine Schwiegertochter ist; nun aber soll mir die Verirrung der Beiden einen Grund liefern, mit ihm fertig zu werden. Ich werde bei ihm aussuchen, und das wird mir leicht werden, da ich unsere Möbels kenne. Ein Glück ist es, daß noch kein Mensch das Geheimniß dieses alten Schlosses kennt.«

Er trat an seinen Schrank und öffnete ihn. Er langte zwischen den Kleidern hinein, und sogleich ließ sich ein leises Knarren vernehmen – die hintere Wand des Schrankes wich zurück. Er trat in den Schrank, verriegelte die Thür desselben hinter sich und stieg in die entstandene Oeffnung. Es zeigte sich, daß das Schloß hier, vielleicht auch in anderen Theilen, doppelte Wände hatte, zwischen denen man aus einem Stockwerk in das andere und von einem Zimmer in das andere gelangen konnte, um durch geheime Oeffnungen die Insassen dieser Zimmer zu beobachten und zu belauschen.

Eine schmale, den ganzen, vielleicht zwei Fuß breiten Zwischenraum ausfüllende Treppe führte zwischen der Doppelwand abwärts. Der Alte schien den Weg sehr gut zu kennen. Er stieg trotz des Dunkels, welches hier herrschte, mit großer Sicherheit hinab und blieb an einer Stelle stehen, welche er vorsichtig mit der Hand betastete.

Es gab hier einen lockeren Ziegelstein, welcher sehr leicht aus der Mauer zu ziehen war. Als der Capitän dies gethan hatte, ohne dabei das leiseste Geräusch zu verursachen, erschien eine matt geschliffene Glastafel. Diese war im Boudoir der Baronesse ganz oben unterhalb der Decke angebracht und hatte so genau die Breite und auch ganz die Zeichnung der dort befindlichen Kante, daß man ihre Anwesenheit gar nicht bemerken konnte. Aber das eingeschliffene Muster bildete durchsichtige Stellen, durch welche man sehr leicht das Boudoir zu beobachten vermochte, und durch die dünne Glastafel konnte man auch die dort geführte Unterhaltung vernehmen, falls sie nicht im Flüstertone geführt wurde.

Der Alte brachte seinen Kopf an die Oeffnung und blickte hinab. Die Baronesse saß ihm gerade gegenüber auf einer Ottomane. Sie trug ein dünnes, weißes, von rosaseidenen Schleifen zusammengehaltenes Morgenkleid; doch waren die Schleifen so nachlässig zusammengezogen, daß zwischen den beiden Säumen des Kleides die feine Stickerei des Hemdes hervorblickte. Da dieses Hemd tief ausgeschnitten war, und oben nicht durch ein gewöhnliches Corset, sondern durch ein schmales, dünnes und nachgiebiges orientalisches Mieder unterstützt wurde, so glänzte durch die Spalte der Alabaster der Büste hervor, ein Umstand, der außerhalb aller Berechnung schien, aber doch das Ergebniß einer sehr bewußten Raffinerie war.

Vor ihr stand der Mann, dessen Kommen der Capitän beobachtet hatte. Es war der Fabrikdirector, welcher von der Zofe auf der Treppe erwartet und zu ihrer Herrin geschickt worden war. Er hielt unter dem Arme ein ziemlich umfangreiches Buch, nach welchem die verführerische Frau soeben ihre Hand ausstreckte.

»Aber bitte,« sagte sie, »legen Sie doch diesen häßlichen Band ein Wenig fort, und setzen Sie sich an meine Seite.«

»Verzeihung, theure Adeline,« antwortete er, »ich darf mich nicht verweilen. Ich muß zum Capitän. Vielleicht hat er mein Kommen durch das Fenster bemerkt und schöpft Verdacht, wenn ich zu erscheinen zögere.«

»Der häßliche Alte!« seufzte sie, indem sie einen verzehrenden Blick auf den Director warf.

»Auch mir wird er immer unbequemer. Nicht nur, daß er der Einzige ist, dessen Scharfsinn das stille, heimliche Glück unserer Liebe in Gefahr bringt, er weiß auch gar nicht, Verdienste anzuerkennen. Hielten Sie mich nicht hier fest, so würde ich mein Engagement längst aufgegeben haben.«

»Ah!« dachte der Lauscher. »Es wird also Zeit, nachzuforschen, ob ich mich wirklich auf ihn verlassen konnte.«

»Thun Sie das nicht,« fiel sie schnell ein. »Ich würde mich hier ganz unglücklich fühlen. Aber es ist wahr, Sie dürfen ihn nicht warten lassen. Meine Sehnsucht nach Ihnen kann ja auf andere Weise gestillt werden. Sind Sie heute Abend frei?«

»Ja, aber allerdings erst spät.«

»Wie viel Uhr?«

»Von zehn Uhr an, theure Adeline.«

»So werde ich um diese Zeit das Schloß verlassen und nach der Parkwiese kommen. Können Sie mich dort erwarten?«

»Es wird mir eine Seligkeit sein, Sie dort zu treffen!«

»So gehen Sie jetzt, Sie lieber, lieber Mann!«

Er ergriff ihre Hand, um einen Kuß auf dieselbe zu drücken; sie aber hob den Kopf und bot ihm ihre Lippen dar. Der für die Hand bestimmte Kuß traf den Mund, und dann verließ der Director das Boudoir.

Als er bei dem Capitän eintrat, fand er diesen bei einer Menge von Scripturen an dem Arbeitstische sitzen.

»Sie kommen, den Tagesbericht abzugeben?« fragte der Alte, ohne sich zu erheben.

»Allerdings, Herr Capitän,« lautete die Antwort.

»Ich habe heute nicht viel Zeit. Giebt es Etwas Aufschiebbares?«

»Haus Monsard und Compagnie hat Geld geschickt.«

»Endlich! Wie viel?«

»Zwölftausend Francs. Ebenso Léon Siboult achttausendfünfhundert.«

»Das freut mich. Haben Sie die beiden Summen mit?«

»Ich wollte sie aufzählen.«

»Das hat Zeit bis morgen. Vielleicht ist ein Theil dieser Summe dazu bestimmt, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihre Wirksamkeit anerkenne. Aber sprechen Sie heute mit Niemand davon. Morgen werden wir uns einigen. Adieu!«

Der Director hätte gern einige dankbare Worte ausgesprochen; aber er kannte seinen Gebieter. Hatte dieser einmal »Adieu« gesagt, so konnte ihn jedes weitere Wort nur in Harnisch bringen. Darum begnügte er sich, unter einer tiefen Verneigung abzutreten. Während er die Treppe hinunterstieg, dachte er:

»Wußte ich das, so konnte ich der Baronin noch ein Viertelstündchen widmen. Wer weiß, ob sie sich heute Abend wieder in einer solch' liebevollen Stimmung befindet!« –

Alexander hatte die Weisung seines Großvaters befolgt und war nach dem Stalle gegangen. Dort war der Groom beschäftigt gewesen, den Pony vor den leichten Wagen zu spannen, um den jungen Herrn auszufahren, was täglich um diese Zeit zu geschehen pflegte. Als das Gespann bereit war, wollte der Kutscher auf den Bock steigen, aber Alexander hielt ihn zurück.

»Halt, steige in den Wagen; ich werde selbst fahren!«

»Aber, gnädiger Herr Alexander, das haben Sie ja noch nicht gelernt!«

»So werde ich es heute lernen!«

Der Groom wußte, daß hier ein fernerer Widerspruch vergebens sein werde. Er gehorchte also und setzte sich in den Wagen, während Alexander die Zügel und die Peitsche ergriff, und auf dem Bocke Platz nahm. Das Pferd setzte sich in Bewegung. –

Zu derselben Zeit saß im Wirthshause des Dorfes Oudron ein Mann, der in einen langen Frack gekleidet war, eine große Messingbrille trug und auf dem Rücken – ausgewachsen war. Es war Doctor Müller. Er war in diesem Augenblicke der einzig anwesende Gast, und die Wirthin hatte sich zu ihm gesetzt, um sich ein Wenig von der anstrengenden Küchenarbeit auszuruhen. Sie schien eine sehr redselige Frau zu sein, denn sie hatte seit zehn Minuten dem Gast bereits ihren ganzen Lebenslauf erzählt, und ihn auch mit den Familiengeheimnissen des Dorfes bekannt gemacht. Jetzt nahm sie ihn schärfer auf das Korn und fragte:

»Wie mir scheint, sind Sie fremd hier, Monsieur?«

»Vollständig,« antwortete Müller.

»Wo wollen Sie hin?«

»Nach Ortry.«

»Ah, das ist ja mein Geburtsort! Haben Sie vielleicht Verwandte dort?«

»Nein. Ich komme von sehr weit her. Ich bin ein Deutscher.«

»Unmöglich!« rief sie. »Sie sprechen ja das Französisch so geläufig und regelrecht, daß man meinen sollte, Sie seien auch in Ortry geboren.«

Er unterdrückte das Lächeln, welches auf die Lippen treten wollte. Diese gute Frau schien der Meinung zu sein, daß in Ortry das beste Französisch gesprochen werde, und doch war ihre Sprache so schwerfällig und mit einer ganzen Menge von Germanismen gespickt.

»Ich habe einen guten Franzosen als Lehrer gehabt,« erklärte er.

»Der ist sicher aus Ortry oder aus der hiesigen Gegend gewesen!« meinte sie. »Werden Sie längere Zeit dort bleiben?«

»Voraussichtlich, Madame. Ich begebe mich zum Baron de Sainte-Marie, bei welchem ich als Erzieher seines Sohnes engagirt bin.«

»Mein Gott, Sie Aermster!« rief sie. »Da werden Sie harte Arbeit haben!«

»Warum?«

»Weil Monsieur Alexander bisher alle Monate einen anderen Erzieher gehabt hat. Es konnte Keiner länger aushalten!«

»Sie eröffnen mir da eine schlimme Perspective. Wer trägt denn eigentlich die Schuld, daß die Herren so bald wieder fortgegangen sind?«

»Alle, nur diese Herren selbst nicht. O, die frühere Herrschaft, das war da etwas ganz Anderes! Ich bin da selbst Stubenmädchen gewesen, ehe ich meinen ersten Seligen kennen lernte.«

»Ah! Sie haben mehrere Selige, Madame?« fragte Müller.

»Zwei. Und vom Dritten habe ich mich scheiden lassen. Sie müssen nämlich wissen, daß dies geschehen konnte, weil ich nicht katholisch bin. Also, Monsieur, ich bin auf Schloß Ortry Zimmermädchen gewesen und bedaure, daß dieses Besitzthum in solche Hände gerathen ist. Ich sollte Ihnen dies allerdings nicht sagen, da Sie ja selbst ein Bewohner sein werden; aber ich kann mir nicht helfen. Ich kann diese Barons einmal nicht ausstehen.«

»Warum, Madame?« fragte Müller, dem es sehr gelegen kam, hier etwas Näheres über seinen Bestimmungsort zu erfahren.

»Warum? Mein Gott, da giebt es eine ganze Menge Gründe! Fangen wir einmal von oben an! Da ist zunächst dieser Capitän – –«

»Ein Capitän? Wer ist das?«

»Wer das ist? Ja so, Sie sind dort noch unbekannt! Der Capitän ist der Vater des Barons, ein Veteran der Napoleon'sschlachten im Alter von wohl neunzig Jahren. Er ist ein Satan, ein Teufel, ein Beelzebub. Er hat weißes Haar, aber ein schwarzes Herz. Er spricht niemals ein Wort und übt doch eine Herrschaft aus, als ob er den Mund nicht einen Augenblick halten könne. Er ist es auch, der das große Eisenwerk regiert, und wer es mit ihm verdirbt, um den ist es geschehen. Ferner die Baronin.«

Die Wirthin machte hier eine Pause, um Athem zu schöpfen, dann fuhr sie fort:

»Von der Baronin sagt man im Stillen, daß sie eine Bauernmagd aus dem Argonner Walde sei. Sie hält sich für ungeheuer schön, und soll in Paris etliche hundert Anbeter haben. Sie putzt sich den ganzen Tag, trägt sich wie ein junges Mädchen und knechtet die Dienstboten. Nur für den alten Capitän hegt sie eine Art von Respect, im Uebrigen aber ist sie die Herrin des Hauses.«

»Und der Baron selbst?«

»O, der gilt gar nichts! Er ist ein guter Kerl, der sich Alles gefallen läßt, und zuweilen soll er im Kopfe nicht ganz richtig sein. Dann schließen sie ihn ein, und man sagt, daß er zu solchen Zeiten sogar Schläge erhält, denn man hat ihn ganz erbärmlich klagen und winseln gehört. Diese Anfälle kommen nur im Sommer, eigenthümlich! Im Winter lebt er mit der Baronin in Paris, und da soll er ganz gesund im Kopfe sein. Ferner ist da der junge Herr, der Alexander.«

»Das ist der Sohn, dessen Lehrer ich sein werde?«

»Ja, denn es ist weiter kein Sohn vorhanden. Der ist kaum sechszehn Jahre alt und hält sich doch bereits für einen großen Herrn. Lernen will und mag er partout nichts. Sie können sich die größte Mühe geben, so ist es doch umsonst. Ich weiß gewiß, daß Sie bei mir einkehren werden, nämlich auf der Rückreise nach Ihrer Heimath. Ich kann nicht begreifen, daß Sie engagirt worden sind, da sämmtliche Bewohner des Schlosses Deutschland hassen. Es ist überhaupt für Sie hier eine gefährliche Gegend. Die Deutschen sind hier nicht gern gelitten. Man spricht sogar von einem Kriege mit da drüben und –«

Sie hielt inne, als ob sie zu viel gesagt habe. »Nun, und?« fragte er.

»O, es ist nicht meine Art und Weise, das zu wiederholen, was meine Gäste sprechen. Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht allzulange in dieser Gegend verweilen.«

»Waren das alle Personen, von denen zu sprechen war, Madame?«

»Ich könnte vielleicht noch das gnädige Fräulein erwähnen, aber sie ist längere Zeit nicht anwesend gewesen. Sie ist in England. Man sagt, daß sie der Liebling des Vaters sei, während sie von ihrer Stiefmutter gehaßt werde. Sie ist eine gute Dame, nicht stolz, gar nicht. Sie besucht die Armen und Kranken, und hilft, wo sie nur helfen kann. Ihre Mutter soll ein Engel an Schönheit, Güte und Milde gewesen sein. Sie ist am gebrochenen Herzen gestorben; warum, das weiß man nicht. Man hat sie hart an der Mauer des alten Thurmes begraben, weil sie eine Heidin war.«

»Eine Heidin, wie meinen Sie das?«

»Nun, der Baron hat sie von sehr weit hergebracht, von dort her, wo es Tiger und Löwen giebt. Sie hat keine Christin werden wollen, und darum ist ihr auch die geweihte Erde versagt worden. Nun liegt sie im Walde begraben, und geht des Nachts im alten Thurme um.«

»Ah! Hat man sie vielleicht gesehen?« fragte Müller.

»Gesehen? Ob man sie gesehen hat!« rief die Frau, ganz erstaunt über eine solche Frage. »Gesehen und gehört hat man sie! Sie geht durch den Wald, im weißen Kleide, wie sie auch früher stets gegangen ist, und hundert Irrlichter tanzen um sie her. Dann verschwindet sie im Thurme und erscheint oben auf der Zinne desselben. Und wenn sie da fort ist, dann hört man unter der Erde ein Klirren und Klingen, als ob tausend Geister mit Ketten rasselten. Es wagt es kein Mensch, des Nachts zum Thurme zu gehen.«

»Wenn Niemand hingeht, wer hat dann diese Erscheinungen beobachtet?«

»Der vorige Förster. Als er angestellt wurde, war er ein junger muthiger Mann; er glaubte nicht an Geister und Gespenster, und schlich sich in den Wald, um die Erscheinungen zu untersuchen. Er hat nach den Lichtern geschossen, aber nichts getroffen. Er wurde darauf entlassen, weil er die Ruhe der seligen Baronin entweiht hat.«

Müller schüttelte den Kopf. Diese Erzählung war jedenfalls nicht ganz aus der Luft gegriffen; etwas Wahres war daran, wenn auch der Kern in Dichtung eingehüllt war. Es schien ihm ganz so, als ob er einer höchst interessanten Zukunft entgegengehe.

Die Wirthin kehrte, nachdem sie ihrer Redseligkeit Genüge gethan hatte, nach der Küche zurück, und Müller brach auf, um nach Ortry zu wandern.

Die Sonne schien warm vom Himmel herab, und darum schritt er nur langsam vorwärts. Es war ihm keine Zeit gestellt, und so blieb es sich ja ganz gleich, ob er eine Stunde früher oder später an seinem Bestimmungsorte anlangte.

Er kannte die Richtung, in welcher dieser liegen mußte, und er hielt dieselbe ein, ohne sich nach dem eigentlichen, richtigen Wege zu erkundigen. Es liegt etwas Verführerisches darin, den Schritt ganz nach Gutdünken lenken zu können, und er gab diesem Reize zur Genüge nach, sodaß er schließlich bemerkte, daß sich der Weg, dem er bisher gefolgt war, in einem Wäldchen verlief.

Ohne sich Sorge zu machen, schlenderte er durch dasselbe hindurch, schritt über eine Wiese hinüber und gelangte an einen großen Steinbruch, dessen hohe, steil empor steigende Wände ihm ein unüberwindliches Hinderniß entgegenstellten. Darum kletterte er an der Seite des Bruches empor und wunderte sich, daß der Rand dieses gefährlichen Abgrundes nicht mit einer Barriére versehen war. Da oben lagen Felder, welche hart an die scharfe Kante der Felsen heranreichten. Wie nun, wenn beim Ackern oder Eggen ein Pferd scheu wurde und den Mann sammt dem Geschirr da hinunter in die gähnende Tiefe riß?

Er war sich dieses Schwindel erregenden Gedankens kaum bewußt geworden, so stieß er einen Ruf des Schreckens aus. Ein lauter Schrei hatte ihn veranlaßt, seitwärts hinüber zu blicken, wo Arbeiter auf einem Felde beschäftigt waren. Von dort her kam ein kleiner, leichter Wagen, vor welchen ein Pony gespannt war, in voller Carriere herangesaust. Ein Knabe saß auf dem Bocke; er hatte die Zügel verloren und hielt sich krampfhaft fest, um nicht herabzufallen.

Das Pferd galoppirte gerade auf den Steinbruch zu. Es war verloren; es konnte nicht aufgehalten werden; keine Menschenkraft war stark genug, den Galopp des Thieres zu mindern, bevor es den Abgrund erreichte. Müller versuchte es dennoch. Er sprang am Rande des Felsens entlang, aber er hatte nicht die Schnelligkeit des Pferdes. Noch war es höchstens zehn Schritte vom Abgrunde entfernt, da erreichte er den Wagen, dem er schräg entgegen geflogen war. Konnte denn nicht wenigstens der Knabe gerettet werden? Müller hatte seine Kaltblütigkeit keinen Augenblick verloren. Er stemmte sich mit dem einen Fuße fest, und während der Wagen an ihm vorübersauste, streckte er den Arm nach dem Bocke aus, faßte den Knaben, der mit vor Angst weit offenen Augen in die Leere starrte, und riß ihn herab. Im nächsten Augenblicke flogen Pferd und Wagen in einem weiten Bogen über die Kante des Abgrundes hinaus und in die Tiefe hinab, wobei Müller nun erst bemerkte, daß sich noch eine menschliche Gestalt im Wagen befand, welche sich vor Schreck auf dem Boden zusammengekauert hatte. Von unten herauf erscholl ein dumpfer Krach; dann war Alles vorbei.

Der Knabe lag ohnmächtig am Boden. Seiner feinen Kleidung nach war er jedenfalls das Kind nicht gewöhnlicher Eltern. Während Müller sich um ihn bemühte, kamen die Feldarbeiter herbei, deren Ruf ihn erst aufmerksam gemacht hatte.

»Welch ein Glück, daß Sie ihn herunterrissen!« rief der Eine bereits von Weitem. »Es ist der junge Herr!«

»Welcher junge Herr?« fragte Müller.

»Der Herr Baron.«

Die Leute bückten sich zu Alexander nieder; sie mochten ihn für todt halten.

»Er lebt,« meinte Müller. »Er ist nur ohnmächtig. Welchen Baron meinen Sie?«

»Den Baron von Sainte-Marie. Ah, das wird eine gute Belohnung geben. Greift zu, damit wir ihn auf das Schloß schaffen!«

Sie faßten an und trugen den Knaben fort. Müller ließ sie gehen; er lächelte darüber, daß sie um des Lohnes willen sich gar nicht um sein besseres Recht bekümmerten. Er kehrte um und stieg wieder in den Steinbruch zurück. Als er da unten ankam, bot sich ihm ein schauderhafter Anblick. Der Wagen lag, in kleine Stücke zerschmettert, auf dem todten Pferde, welches eine weiche, formlose Masse bildete, und ein Stück weiterhin lag der Groom, ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hier war nichts zu thun. Müller brauchte sich um eine Anmeldung und weitere Verfolgung des Falles nicht zu bekümmern; er wußte, daß dies von anderer Seite geschehen werde, und schlenderte also Ortry langsam entgegen.

Dort war mittlerweile die Zeit des zweiten Frühstückes angebrochen, und die Glieder der Familie waren im Speisesaale an der Tafel versammelt. Es war bei dieser Gelegenheit recht deutlich zu sehen, daß diese Leute in keinem innigen seelischen Zusammenhange mit einander standen. Die einzelnen Personen kamen ganz nach Belieben herbei und nahmen mit einem stummen Gruße an der Tafel Platz. Die Baronin präsidirte; der Kapitän beachtete sie kaum mit einem Blicke, und der Baron saß wie abwesend dabei und aß mit einem Gesichtsausdrucke, als wisse er überhaupt gar nicht, daß und was er esse. Nur nach längerer Zeit, als der junge Herr sich noch immer nicht eingestellt hatte, frug der Kapitän:

»Wo bleibt Alexander?«

»Der junge, gnädige Herr ist ausgefahren,« antwortete einer der Diener.

Nun folgte wieder dieselbe Stille und Wortlosigkeit wie bisher, bis man an den Schluß des Frühstückes angekommen war. Da vernahm man unten vom Hofe herauf laute, erschrockene Stimmen. Der Capitän trat an das Fenster und sah nur noch einige fremde Leute, welche, Etwas tragend, im Eingange verschwanden.

»Was ist's?« fragte die Baronin, indem sie sich erheben wollte.

»Warten Sie, ich werde nachsehen!« sagte der Alte, dem eine Ahnung kam, daß die Last, welche diese Leute getragen hatten, eine menschliche Person gewesen sei.

Er schritt hinaus und begegnete ihnen auf der Treppe. Als sie ihn erblickten, hielten sie respectvoll an. In Gegenwart dieses Mannes wagte Keiner, unaufgefordert ein Wort zu sprechen. Er trat hinzu und erkannte Alexander. Seinen Liebling todt oder besinnungslos zu sehen, kam ihm unerwartet und mußte ihn tief ergreifen; aber es zuckte dennoch keine Miene seines eisernen Gesichtes, als er in ruhigem Tone fragte:

»Was ist mit ihm?«

»Er ist nicht todt, gnädiger Herr,« sagte einer von den Leuten, »sondern nur ohnmächtig. Der Fremde sagte es, der ihn untersucht hatte.«

»Welcher Fremde?«

»Der ihn vom Wagen riß, als das Pferd durchgegangen war und mit dem Wagen in den Steinbruch stürzte.«

Seine äußeren Augenwinkel legten sich nach den Schläfen hin in tiefe Falten; dies war das einzige Zeichen seines Schreckes. Er drehte sich zu einem der dabei stehenden Reitknechte und befahl diesem:

»Anspannen! Im Galoppe nach Thionville, um Doctor Bertrand zu holen!«

Dann ließ er sich den Fall ausführlich erzählen. Er fragte, wer der Fremde gewesen sei, konnte aber keine Auskunft erhalten. Die Leute hatten den Mann, um nur mit dem jungen Herrn so eilig wie möglich fort zu kommen, gar nicht so genau betrachtet.

»Er wird sich jedenfalls melden,« brummte der Capitän. »Eine Belohnung läßt sich Keiner entgehen. Folgt mir!«

Er ließ Alexander einstweilen nach dem nächsten Raume tragen. Es war der Empfangssalon. Dann kehrte er nach dem Speisesaal zurück und sagte im gleichgiltigen Tone:

»Alexander ist unwohl.«

»Unwohl?« fragte die Baronin schnell. »Was fehlt ihm?«

»Er hat ein kleines Malheur gehabt. Das Pferd ist ihm durchgegangen.«

»O, mein Gott!« rief die Dame, vor Schreck emporspringend.

»Und in den tiefen Steinbruch da unten gestürzt. Jedenfalls ist Pferd und Wagen vollständig zerschmettert,« fuhr er fort.

Sie mußte sich am Tische anhalten, sonst wäre sie vor Schreck umgesunken.

»Und Alexander, mein Kind, mein Sohn?« frug sie todesbleich.

»Er ist gerettet. Leute brachten ihn. Er liegt im Empfangszimmer.«

Sie nahm sich zusammen und wankte nach der Thür.

Der Alte folgte ihr. Auch der Baron verließ seinen Sessel, strich sich über die wächserne Stirn, als ob er sich erst besinnen müsse, wer dieser Alexander eigentlich sei, und ging ihnen dann langsamen Schrittes nach.

Der Knabe lag lang ausgestreckt auf dem Divan. Er hielt die Augen geöffnet. Die Besinnung schien ihm zurückzukehren. Die Feldarbeiter standen noch an der Thür. Der Capitän entließ sie, nachdem er sie beschenkt hatte.

Die Baronin kniete vor dem Divan nieder, nahm den Kopf ihres Sohnes in den Arm und betrachtete ihn schluchzend. Der Alte ergriff ihn bei der Hand, um nach dem Pulse zu fühlen, und Herr de Sainte-Marie stand vor einem Bilde und hielt den Blick so starr und nachhaltig auf dasselbe gerichtet, als ob es sonst keinen Gegenstand geben könne, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nähme. Es war sicher, daß er geistig gestört war.

»Mama, liebe Mama!« flüsterte da endlich die Stimme des Erwachenden.

»Mein Sohn, mein Alexander!« rief sie. »Wie befindest Du Dich?«

»Ich bin sehr matt; aber es war auch gar zu schrecklich!«

»Wir werden Dich nach Deinem Zimmer schaffen.«

»Nein,« bat er. »Ich will nicht fort; ich bin müde; ich muß schlafen!«

Er schloß die Augen wieder. Die Baronin erhob den thränenvollen Blick und sah den Capitän fragend an. Dieser nickte zustimmend, daß der Knabe liegen bleiben solle. Der Baron trat jetzt langsam hinzu, ließ seine Augen irr über den Daliegenden schweifen und sagte dann mit einem matten Lächeln:

»Alexander!«

Dann drehte er sich um und schritt zur Thür hinaus. Die beiden Anderen setzten sich an dem Divan nieder, um die Ankunft des Arztes zu erwarten. Sie liebten den Knaben, dies war aber auch die einzige Harmonie, welche es zwischen ihnen gab. Sie haßte ihn, und er verachtete sie. Sie wußten dies gegenseitig; sie verhehlten es sich nicht. Der in Apathie versunkene Baron, der sein Sohn und ihr Gemahl war, konnte nicht als aussöhnendes Medium gelten, und da die Dienerschaft dies eben so gut wußte wie die Herrschaft selbst, so war es Allen ein Räthsel, aus welchem Grunde der Alte eigentlich zugegeben hatte, daß die Baronin Gemahlin seines Sohnes werde.

Endlich nahten Schritte, und der Arzt trat ein; aber es war nicht Doctor Bertrand, sondern ein Anderer, den der Capitän wohl kannte, aber noch nicht bei sich gesehen hatte.

»Warum kommen Sie?« fragte dieser im rücksichtslosen Tone. »Ich habe nicht nach Ihnen, sondern nach unserem Hausarzte geschickt.«

»Verzeihung, Herr Capitän, gnädige Frau,« entschuldigte sich der Arzt. »Doctor Bertrand ist verreist und hat mich gebeten, ihn nöthigenfalls zu vertreten.«

»Wann kommt er zurück?«

Der Gefragte zuckte die Achsel und antwortete:

»Es fragt sich leider sehr, ob er überhaupt wieder zurückkehrt. Vielleicht ist er todt.«

»Todt? Wieso?«

»Ertrunken, meine ich, gnädiger Herr. Die heutigen Morgenblätter bringen die schreckliche Nachricht, daß der gestrige Moseldampfer unterhalb Thron mit Mann und Maus untergegangen ist. Es hat ein schreckliches Unwetter, einen in dieser Stärke noch gar nicht dagewesenen Orkan gegeben, während dessen der Dampfer mit einem Flosse collidirte. Ich weiß genau, daß Doctor Bertrand auf diesem Dampfer zurückkehren wollte.«

Da stand der Capitän von seinem Stuhle auf, trat auf den Arzt zu und fragte mit einer Stimme, der man doch ein leises Beben anhören konnte:

»Ist dieses Unglück wirklich ein Factum? Ist die Nachricht verbürgt?«

»Ja. Die jenseitige Behörde fordert bereits zu Sammlungen für die Hinterbliebenen der Verunglückten auf.«

»Dann haben Sie uns eine schlimme Nachricht gebracht. Meine Enkelin, Baronesse Marion hat sich auch auf diesem Dampfer befunden. Ich erhielt gestern von Coblenz aus ihren Brief, in welchem sie mir dies mittheilte, um mir ihre Ankunft für den heutigen Tag zu melden.«

Der innere Zusammenhang fehlte den Bewohnern von Schloß Ortry so sehr, daß der Alte den Inhalt des Briefes gar Niemand mitgetheilt hatte. Kam Marion, so war sie einfach da; das war aber auch Alles. Die Baronin hörte also jetzt das erste Wort davon. Sie zuckte zusammen, gab sich aber Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und fragte im Tone der Besorgniß:

»Wie? Unsere liebe Marion befand sich auch auf dem verunglückten Schiffe? Mein Heiland, zwei Unfälle auf einmal! Wer soll dies ertragen!«

Sie schlug die Hände vor dem Gesichte zusammen und gab sich den Anschein, als ob sie weine. Der Capitän wandte sich zu ihr um und sagte:

»Verlieren wir die Contenance nicht, Frau Tochter! Es ist ja noch immer die Möglichkeit vorhanden, daß Einige gerettet worden sind, oder daß ein glücklicher Zufall sie abgehalten hat, dieses Dampfschiff zu besteigen. Untersuchen Sie den Knaben, Doctor!«

Seine Worte hatten, der Gegenwart des Arztes wegen, einen ergriffenen, theilnahmsvollen Ton; in seinem Blicke jedoch lag ein Ausdruck, welcher deutlich sagte, daß er sehr wohl wisse, daß sie sich innig freuen würde, ihre Stieftochter unter den Todten zu wissen.

Der Doctor näherte sich nun dem Divan, um Alexander zu untersuchen, wobei ihm nun der Alte den Hergang mit kurzen Worten erzählte.

»Es hat nichts zu sagen,« erklärte der Arzt dann. »Der junge Herr ist völlig unbeschädigt. Er wird sich bei einiger Ruhe schnell erholen. Vielleicht haben Sie die Güte, nach Thionville nach der Arznei zu senden, welche ich verschreiben werde. Ich wünsche von Herzen, daß die gnädige Baronesse sich ebenso außer aller Gefahr befinden möge wie dieser Patient!«

Er schrieb ein Recept, übergab dasselbe und empfahl sich dann. Er hatte den Salon kaum verlassen, so trat mit leisen Schritten ein Diener ein.

»Was giebt es?« fragte der Capitän.

»Der neue Erzieher ist soeben angekommen, gnädiger Herr, und hat mich gebeten, ihn anzumelden,«

»Ah! Was ist es für ein Mann? Wie präsentirt er sich?«

Der Diener zuckte mit einem leisen, zweideutigen Lächeln die Achsel und schwieg.

»Ich verstehe!« meinte der Alte. »Wenn er mir nicht paßt, jage ich ihn wieder fort. Er mag eintreten, obgleich wir eigentlich nicht in der Lage sind, ihn hier und jetzt zu empfangen. Aber auf einen deutschen Schulmeister braucht man keine Rücksicht zu nehmen. Sage ihm, daß sich ein Patient hier befindet. Der Mann mag leise eintreten.«

Der Diener entfernte sich, indem er Müller eintreten ließ, nachdem er ihm die soeben erlangte Weisung ertheilt hatte.

Müller verbeugte sich tief und respectvoll und wartete, daß man ihn anreden werde. Der Blick der Baronin ruhte mit einem beinahe erschrockenen Ausdruck auf ihm.

»Ah, das ist ja geradezu eine Beleidigung!« hauchte sie.

Der Capitän betrachtete den neuen Lehrer mit mitleidigem Hohne und sagte rücksichtslos:

»Herr, Sie sind ja buckelig!«

»Leider!« antwortete Müller sehr ruhig. »Aber ich hoffe trotzdem, Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Die Gestalt ist es ja nicht, mit welcher man Kinder erzieht.«

Der Alte machte eine verächtliche, zurückweisende Handbewegung und sagte kalt:

»Aber die Gestalt ist es, welche den ersten und letzten Eindruck macht. Wie soll mein Enkel Sie achten und Respect vor Ihnen haben! Glauben Sie, daß wir die Absicht haben, uns mit einem verwachsenen Erzieher zu blamiren? Sie sind entlassen, definitiv entlassen. Begeben Sie sich in das Gesindezimmer. Ich werde Ihnen das Reisegeld auszahlen lassen. Mehr können Sie nicht verlangen, da wir mit Ihnen getäuscht, ja sogar betrogen worden sind.«

»Gnädiger Herr Capitän, ich bitte, zu bedenken, daß –«

»Gehen Sie! Sofort!«

Diese Worte wurden zornig und so laut gesprochen, daß der Knabe erwachte. Sein Blick fiel auf den Deutschen, und er sagte, zu seiner Mutter gewendet:

»Mama, das ist der Mann, der mich gerade vor dem Abgrunde aus dem Wagen riß!«

Er hatte seinen Retter also doch trotz seines angstvoll starren Blickes so deutlich angesehen, daß er ihn jetzt wieder erkannte. Die Baronin machte eine Bewegung der Ueberraschung. Der Capitän trat einen Schritt näher und fragte Müller:

»Ist dies wahr? Sie sind der Retter meines Enkels?«

»Ich hatte allerdings das Glück, den gnädigen Herrn noch im letzten Augenblicke vom Bocke zu reißen. Wagen und Pferd, nebst einem armen Menschen, welcher der Groorn gewesen zu sein scheint, fand ich dann in der Tiefe bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.«

»Ah, an den Groom habe ich noch gar nicht gedacht! Er ist also todt? Das ist seine eigene Schuld. Er ist nicht zu bedauern. Er hätte vorsichtiger fahren sollen. Lebte er noch, so würde ich ihn streng bestrafen. Was aber Sie betrifft, Herr – Herr Müller, hm!«

Er warf bei diesem »hm« einen fragenden Blick auf die Baronin. Diese verstand ihn und sagte:

»Es steht außer allem Zweifel, daß wir Herrn Müller Dank schulden, Herr Capitän. Jedoch –«

Sie zuckte die Achsel; es lag ihr trotz der anerkannten Verpflichtung zur Dankbarkeit doch ein Einwand, ein Bedenken nahe. Da ließ sich die Stimme Alexander's hören:

»Wer ist der Mann, Mama?«

»Es ist Monsieur Müller, welcher Dein Lehrer werden sollte,« antwortete sie.

»Das ist schön,« sagte er. »Ich freue mich auf ihn.«

Seine beiden Verwandten blickten einander an. Es war ja noch nie geschehen, daß er sich auf einen Lehrer oder Erzieher gefreut hatte.

»Aber siehe ihn doch an,« meinte seine Mutter. »Er ist ja häßlich.«

Sie scheute sich doch, das richtige Wort zu wählen, welches der Alte vorhin so ganz ohne Bedenken ausgesprochen hatte. Da antwortete Alexander in jenem hohen, ungeduldigen Tone, welchen kranke oder verzogene Kinder, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen, anzuschlagen pflegen:

»Ich finde ihn sehr hübsch, Mama; ich mag keinen Anderen.«

»Nun, so möchten wir vielleicht einen Versuch wagen?« fragte die Baronin zu dem Capitän gewendet.

Dieser nickte langsam und bedächtig und fragte Müller:

»Haben Sie Ihre Zeugnisse bei sich, Monsieur?«

»Hier, gnädiger Herr.«

Bei diesen Worten zog der Lehrer seine Papiere hervor und überreichte sie ihm. Es waren dieselben, welche ihm der General in Simmern übergeben hatte. Der Alte las eins nach dem anderen aufmerksam durch und sagte kopfschüttelnd:

»Sie haben da allerdings ganz ausgezeichnete Censuren; aber ich finde nur Dogmatik, Didaktik, Methodik, Geschichte, Geographie, Sprachen und so weiter. Man scheint in ihrem Vaterlande keinen großen Werth auf die Ausbildung des äußeren Menschen zu legen. Tanzen Sie?«

»Ich bin noch von keiner Dame abgewiesen worden, gnädiger Herr,« antwortete Müller.

Der Alte lächelte ein wenig hämisch und bemerkte:

»Ich habe da nicht Schulmeisterstöchter oder Schneidersfrauen im Auge, sondern ich meine natürlich wirkliche Damen. Doch, man wird ja sehen. Wie steht es mit dem Turnen und Reiten?«

»Ich glaube, Ihren Ansprüchen genügen zu können!«

»Schießen, Fechten?«

»Ich hatte gute Lehrer und hinreichende Uebung.«

»Hm! Wenn ich Sie nun auf die Probe stelle? Ich fechte leidenschaftlich gern.«

»Ich stelle mich zur Verfügung, gnädiger Herr.«

Alle diese Antworten waren in einem bescheidenen, anspruchslosen Tone gegeben worden. Der Alte richtete seine dunklen Augen mit einem höchst ungläubigen Ausdrucke auf ihn und sagte:

»Nun, ich werde Sie prüfen. Machen Sie Ihren Worten Ehre, so sollen Sie angestellt werden. Jetzt gehen Sie zum Hausmeister, um sich das Zimmer anweisen zu lassen, welches man für Sie bestimmt hat. Ich hoffe, Sie stehen zur Verfügung, sobald ich Ihrer bedarf!«

Somit war die Vorstellung beendet. Müller trat zu dem Kranken, faßte leise die Hand desselben und sagte:

»Haben Sie Dank für Ihre freundliche Fürsprache, gnädiger Herr! Sie haben sich dadurch sehr schnell meine Liebe erworben, und ich werde gern mein Möglichstes thun, auch die Ihrige zu erhalten, sodaß wir Erfolge erringen, welche eines Sainte-Marie würdig sind.«

Er verbeugte sich vor den beiden Anderen und entfernte sich. Der Capitän blickte ihm nach und sagte dann im Tone halber Verwunderung:

»Das war sehr schön gesprochen; das hat noch Keiner gesagt. Er scheint sehr gut zu wissen, was man einem hervorragenden Namen schuldig ist.«

Und die Baronin antwortete:

»Seine Verbeugung war höchst elegant, zwar ein Wenig selbstbewußt, aber dennoch ehrerbietig, und völlig tadellos. Man wird ihn kennen lernen, um zu sehen, ob er, abgesehen von seiner Mißgestalt, zu brauchen ist.«

Müller ließ sich zu dem Hausmeister weisen. Er erkannte in demselben auf den ersten Blick den echten, eingefleischten Franzosen. Er trug schwarzen Frack nebst ebensolcher Hose, weißseidene Weste und ein weißes, hoch emporgehendes Halstuch. Seine breiten, kurzen Füße stacken in so engen Lackstiefeln, daß sein Gang und seine Haltung in Folge des Drückens etwas Unsicheres zeigten.

»Ah, Sie? Sie sind der neue Gouverneur?« fragte er in hochmüthigem Tone. Und mit einem vielsagenden Lächeln fügte er hinzu: »Ist diese Gestalt in Deutschland vielleicht einheimisch?«

»Wohl nicht,« antwortete Müller gleichmüthig; »ich bin glücklicherweise eine Ausnahme, und hoffe, daß Sie gewandt genug sind, mit dem, was Ihnen an meinem Körper zu viel erscheint, nicht allzuoft zu caramboliren. Ich komme, Sie zu bitten, mir mein Zimmer anzuweisen.«

»Das werde ich thun. Im Uebrigen jedoch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht vorhanden bin, Sie zu bedienen. Als Hausmeister bin ich Ihr Vorgesetzter.«

»Das ist mir ganz und gar nicht unangenehm, und ich ersuche Sie, sich bei mir nach Kräften in Respect zu setzen. In meiner Heimath pflegt man nur Diejenigen als Obere anzuerkennen, welche es auch wirklich verstehen, sich Hochachtung zu erwerben. Darf ich bitten, monsieur le concierge?«

Er wandte sich, um voranzuschreiten; der Franzose aber fiel schnell ein:

»Sie sprechen ein sehr schlechtes Französisch, Herr Müller. Concierge bedeutet mehr Thürhüter, als Hausmeister. Sie haben mich Intendant zu nennen!«

»Sehr wohl, Herr Intendant. Also bitte, mein Zimmer.«

Sie schritten an mehreren dienstbaren Geistern vorüber, welche beim Anblicke des Lehrers mit echt französischer Ungenirtheit die Nasen rümpften, worauf jedoch Müller nicht im Geringsten achtete. Er wurde mehrere Treppen emporgeführt, und der Hausmeister öffnete ihm ein Zimmer, welches hoch oben in einem der Thürmchen lag, von denen die Fronte des Schlosses flankirt wurde. Es war mit der größten Einfachheit ausmöblirt.

»So, hier wohnen Sie,« meinte der Hausmeister schadenfroh. »Tisch, zwei Stühle, Feldbett, Waschzeug, Bücherregal, eine Taschenuhr besitzen Sie wohl selbst. Das ist mehr als genug, um sich comfortable zu fühlen.«

»Wo wohnt der junge Herr?« fragte Müller.

»In der Hauptetage neben der gnädigen Frau.«

»Man pflegt sonst doch den Erzieher in die unmittelbare Nähe seines Zöglings zu plazieren, Herr Intendant!«

»Das ist hier nie der Fall gewesen. Der Lehrer rangirt hier erst nach dem Koche, und da ist leicht einzusehen, daß er dementsprechend einlogirt werden muß. Der Koch wohnt gerade unter Ihnen, nicht aber in der unmittelbaren Nähe der Herrschaft.«

»Es ist gut, Herr Intendant!« Mit diesen Worten drehte er sich ab, und der Hausmeister zog sich zurück, sehr zufrieden mit sich, daß er diesem Deutschen gleich im ersten Augenblick klar gemacht habe, welchen Rang er hier einnehme.

Müller warf keinen Blick auf das armselige Ameublement. Er trat an eines der drei Fenster und blickte hinaus. Ein leises Lächeln schwebte um seine Lippen. Er war mit dem ihm gewordenen Empfange nicht unzufrieden. Das Glück hatte ihm beigestanden, und er hoffte, daß es ihm auch treu bleiben werde. Die Arroganz des Dienstpersonales konnte ihn nicht beleidigen, und als Retter Alexander's hatte er sich die Dankbarkeit der Herrschaft gesichert. Diese Dankbarkeit mußte sich bei der Ankunft Marion's steigern. Was aber dann? Er machte sich keine Grillen über diese Frage und blickte wohlgemuth hinaus auf das Bild, welches sich vor seinem Auge ausbreitete.

Fern im Westen erhoben sich die Höhen der Meuse, überragt von den duftumhauchten Bergen des Argonner Waldes. Näher blickten Kirchthürme und lieblich gelagerte Ortschaften zu ihm herüber; da rechts lag Thionville, auf Deutsch Diedenhofen genannt, die Festung, jetzt in den Händen des Erzfeindes; und dort, unterhalb des Schlosses, erhoben sich die schmutzigen Essen und Gebäude des Eisenwerkes, über denen eine dichte Rauchwolke schwebte.

Das andere Fenster ging nach Süden, wo der Park des Schlosses sich nach und nach zu einem dunklen Walde verdichtete. Das dritte Fenster führte nach Norden und zwar auf das halbplatte Dach des Hauptgebäudes. Müller ahnte nicht, daß dieser Umstand ihm später außerordentlich zu statten kommen werde. Die vierte, also östliche Seite seines Zimmers, hatte kein Fenster. Sie bestand aus einer Tapetenwand, an welcher, als einzige Zierde, ein alter, schlechter Spiegel hing.

Indem Müller's Blick diese Wand überflog, war es ihm, als ob er ein leises, eigenthümliches Geräusch bemerkte. Er trat hart an die Mauer heran und horchte. Ja, er hatte richtig gehört. Es war, als ob hinter der Wand jemand sich bewege, und zwar aufwärts, und dabei mit der Hand tastend an den Steinen oder Ziegeln hinstreiche. Sodann war ein leichtes Rascheln zu vernehmen, als ob ein Stein aus der Mauer entfernt werde.

Was war das? Gab es hier vielleicht eine Doppelmauer? Befand sich hinter dem Zimmer Jemand, welcher gekommen war, ihn zu belauschen? In diesem Falle mußte sich in der Mauer eine Oeffnung befinden. Aber Müller durfte jetzt nicht suchen; er mußte vielmehr so thun, als ob er ganz und gar nichts ahne. Das Schloß war ein sehr altes Gebäude; es konnte sehr leicht seine Geheimnisse haben.

Müller trat zu dem Fenster zurück und that so, als ob er in den Anblick der Landschaft ganz und gar versunken sei. Dabei aber lauschte er sehr angestrengt nach der Mauer hin. Als sich nach längerer Weile nichts vernehmen ließ, wurde er des Stehens müde und legte sich auf das Feldbette, um weiter zu horchen.

Da, jetzt hörte er, sehr leise zwar, aber immer noch vernehmlich, jenes letztere Rascheln wieder. Es schien oben in der Nähe der Decke zu sein. Dann strich es wie mit einer vorsichtig tastenden Hand an der Wand herab, bis er, selbst nach langem Horchen, nichts mehr hörte.

Jetzt erhob er sich und öffnete das nach Norden auf das Dach führende Fenster. Er hatte weder einen Stock noch einen anderen Gegenstand, welchen er als Maß zu gebrauchen vermocht.

Als Müller den Abstand zwischen dem Fenster und der Außenecke des Thurmes mit demjenigen der innern Ecke seiner Stube verglich, sagte ihm bereits das bloße Augenmaß, daß die Mauer des Thurmes wenigstens zwei Ellen dick sein müsse. Und als er behutsam an diese Mauer klopfte, hörte er aus dem Tone, daß sie vielleicht nur einen Fuß stark sei.

Es war also klar, daß es hier eine Doppelmauer gab. Wozu? Welchem Zwecke diente der dazwischen liegende Raum? Doch wohl nur dem Lauschen und Beobachten!

Wo aber war das Loch, durch welches man in das Zimmer sehen konnte? Er musterte die ganze Wandfläche; er blickte sogar hinter den Spiegel; er bemerkte nichts. Die betreffende Oeffnung konnte sich nur in der Nähe des Ofenrohres oder in der gemalten Kante der Mauer befinden, das war klar.

Er setzte sich einen Stuhl hin, stieg hinauf und klopfte, doch nicht auffällig. Richtig, an dieser Stelle gab die Kante einen ganz anderen Ton. Sie fühlte sich auch glatter an; sie bestand aus Glas. Er hegte jetzt die feste Ueberzeugung, daß er beobachtet worden sei. Aber von wem? Gab es im Schlosse noch mehrere Doppelwände?

Er erkannte es als ein großes Glück, daß er diese wichtige Entdeckung bereits heute, bereits in der ersten Stunde gemacht habe. Wie nun, wenn er sich in Gegenwart des Lauschers entkleidet, und seinen künstlichen Buckel abgelegt hätte? Sein Geheimniß wäre ja sofort verrathen gewesen! Er hatte eine doppelte Veranlassung, vorsichtig zu sein. Auf der anderen Seite aber war es auch möglich, daß er aus seiner gegenwärtigen Erfahrung Nutzen ziehen könne.

Zunächst mußte er zu erfahren suchen, wer der Lauscher sei, denn nur im Zimmer desselben konnte der Eingang zu den Doppelwänden sein. Oder gab es auch noch andere Eingänge? Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn es erschien ein Diener, welcher ihm meldete, daß er von dem Herrn Capitän und dem gnädigen jungen Herrn unten im Hofe erwartet werde.

Er gehorchte dem Rufe und fand die beiden Genannten seiner harrend. Der Haushofmeister stand mit einigen Dienern dabei, welche Waffen hielten. Alexander schien sich von seinem Schrecke bereits wieder erholt zu haben. Er sah zwar noch blaß, aber ganz und gar nicht krank aus. Er kam dem Erzieher entgegen und sagte:

»Monsieur Müller, ich wollte schlafen, aber es geht nicht. Großpapa sagte, daß Sie die Probe machen sollten, und da muß ich dabei sein.«

Der Capitän deutete nach einer Ecke des Schloßhofes und meinte:

»Sie sehen dort die Turnapparate. Gehen Sie hin, und zeigen Sie uns, was Sie leisten.«

»Sehr wohl, gnädiger Herr!«

Bei diesen einfachen Worten schritt Müller nach der Ecke, stellte sich vor den Bock und sprang, ohne Ansatz zu nehmen, oder die Hand als Stütze zu gebrauchen, über die ganze Länge desselben hinweg. Dann trat er zum Reck, legte die Hand an und machte, ohne sich eines Kleidungsstückes zu entledigen, den Riesenschwung mit nur einem Arme.

»Genügt dies, Herr Capitän?« fragte er.

»Großpapa, das hat noch Keiner gebracht!« sagte Alexander.

»Sehr wahr!« nickte der Alte. »Monsieur Müller, satteln Sie sich den Braunen, den man jetzt vorführt. Sie sollen die Schule reiten.«

Ein Stallknecht brachte das Pferd; ein Anderer trug Sattel und Zaum herbei.

»Ist nicht nöthig!« meinte Müller.

»Monsieur, der Braune ist schlimm!« warnte der Alte. »Er trägt nur mich; jeden Anderen wirft er ab.«

Das Pferd schien längere Zeit nicht aus dem Stalle gekommen zu sein. Es tanzte mit hoch spielenden Beinen und zerrte an dem Halfter, so daß der Knecht es kaum zu halten vermochte. Müller trat, ohne die Warnung des Alten zu beachten, hinzu und musterte das Pferd mit Kennermiene. Er nickte mit anerkennendem Lächeln und sagte:

»Sohn eines arabischen Halbblutes und einer englischen Mutter. Nicht, Herr Capitän?«

»Allerdings,« antwortete der Gefragte. »Aber, sagen Sie, Monsieur Müller, woher haben Sie dieses Kennerauge, welches – – Morbleu! Geht weg!«

Er sprang mit diesen letzten Worten zur Seite, denn Müller saß, man wußte gar nicht, wie er hinauf gekommen war, ganz plötzlich auf dem Pferde, hatte das Halfter ergriffen, und jagte nun mit dem Braunen im Hofe herum. Das Thier gab sich alle Mühe, den Reiter abzuwerfen, aber dieser saß so fest, als sei er angewachsen. Kannte er vielleicht ein geheimes Mittel? Fast schien es so, denn bereits nach kaum einer Minute hatte er das Pferd beruhigt und ritt nun die Schule durch, mit einer Sicherheit und Eleganz, als ob er sich vor tausend Zuschauern in der Arena sehen lasse. Dann, als er in Galopp war, legte er sich plötzlich vornüber, sprengte über den Hof hinüber und sprang mit einem kühnen, unvergleichlichen Satze über die drei Ellen hohe Hofmauer hinweg.

»Mille tonnerres!« schrie der Capitän. »Er muß den Hals brechen. Der Braune ist auf alle Fälle hin!«

Alles rannte nach dem Thore. Sie hatten es aber noch nicht erreicht, so stoben sie erschrocken zur Seite; denn von draußen rief die laute Stimme Müllers:

»Hollah, gebt Platz drin!«

Und in demselben Augenblicke kam er wieder über die Mauer hereingesprungen. Er ritt noch einige Male im Kreise umher, um das Pferd zu beruhigen, und sprang dann ab.

»Alle Teufel, wo haben Sie das Reiten gelernt?« fragte der Alte.

»Mein Lehrer war ein Ulan,« antwortete der Gefragte.

»Reiten alle Ulanen so, Monsieur?«

»Noch besser!«

»Ja, sie sind ein wildes Volk, diese Hulanes. Sie wohnen in der Wüste, heirathen zehn bis zwanzig Frauen und reiten die Pferde zu Tode. Aber jetzt sollen Sie schießen!«

Müller sagte nichts, doch hatte er Mühe, ein Lächeln über die Worte des Alten zu verbergen. Er kannte ja zur Genüge die Thatsache, daß die Franzosen höchst zweifelhafte Geographen sind, und daß sie die Ulanen für eine wilde Völkerschaft halten, welche an der östlichen Grenze von Preußen lebt, und beinahe zu den Menschenfressern gerechnet werden muß. Ehe man sie im Jahre 1870 in Frankreich kennen lernte, dichtete man ihnen die ungereimtesten Dinge an. Es war klar, daß man sie mit den Baschkiren und andern asiatischen Völkerschaften verwechselte.

Der Capitän nahm aus der Hand des Hausmeisters einen Hinterlader und sagte, empor zur Wetterfahne deutend:

»Alexander hat gestern jenen kleinen Ballon steigen lassen, welcher mit der Schnur hängen geblieben ist. Ich werde ihn treffen.«

Er legte an und drückte ab. Der Ballon war getroffen.

»Sehen Sie! Machen Sie es nach!«

Er reichte dem Lehrer das Gewehr und eine Patrone. Dieser betrachtete jenes aufmerksam und sagte:

»Ah, ein Mauser! Ich kenne das Gewehr nicht, aber ich hoffe, wenn nicht mit dem ersten so doch mit dem zweiten Schusse die Schnur zu treffen.«

Die Männer blickten einander mit ungläubigem Lächeln an. Er aber lud und zielte. Der Schuß blitzte auf, und der Ballon schwebte auf das Dach nieder. Die Schnur war zerrissen worden.

»Wahrhaftig, Sie schießen eben so gut, wie Sie reiten und turnen!« rief der Alte. »Jetzt nun eine Fechtprobe. Ich bin überzeugt, daß ein Deutscher es mit keinem Franzosen aufnimmt. Hier, der Hausmeister weiß einen Degen zu führen. Er war Premier sergent[1] bei den Chasseurs d'Afrique. Ich stelle nämlich nur gediente Militärs bei mir an, was leider in Hinsicht auf Sie nicht der Fall ist. Wollen Sie es wagen, einen Gang mit ihm zu versuchen?«

»Wenn Sie befehlen, so gehorche ich, Herr Capitän,« antwortete Müller.

»So legen Sie los!«

Bei diesen Worten spielte ein beinahe unheimliches Zucken um den Mund des Alten. Sein weißer Schnurrbart zog sich empor, und es zeigte sich jenes gefährliche Fletschen der Zähne, welches stets unheilverkündend war. Er wußte, daß der Hausmeister ein sehr guter Fechter sei, und bei seinem rücksichtslosen Charakter wäre es ihm nur ein Amüsement gewesen, dem Deutschen eine Quantität Blutes abzapfen zu sehen.

Der Hausmeister hatte zwei gerade, schwere Chasseursdegen in den Händen. Er reichte dem Lehrer einen hin und sagte lächelnd:

»Monsieur Müller, bestimmen Sie gefälligst, wo ich Sie treffen soll!«

Müller prüfte den Degen und antwortete:

»Diese Degen sind ja scharf und spitz. Wir befinden uns nicht im Felde. Wollen wir nicht stumpfe Waffen wählen, und uns mit Haube und Bandagen versehen?«

»Ah, Sie fürchten sich?« höhnte der Franzose.

»Allerdings habe ich Furcht,« antwortete ruhig der Deutsche.

»Und das gestehen Sie?« fragte der Intendant mit verächtlichem Lächeln.

»Wie Sie hören! Aber Sie scheinen mich falsch zu verstehen. Ich habe nämlich Furcht, Sie zu verletzen; für mich freilich hege ich nicht die Spur von Bangigkeit. Sie haben mir erklärt, daß Sie mein Vorgesetzter sind. Darf ich einen Vorgesetzten verwunden?«

»Warum nicht, wenn Sie es fertig bringen! Also sagen Sie mir getrost die Stelle, an welcher ich Sie treffen soll!«

»Das werde ich unterlassen, denn damit würde ich für mich natürlich das Recht beanspruchen, Sie an der gleichen Stelle zu treffen.«

»Dieses Recht ertheile ich Ihnen. Also wo, Monsieur Müller?«

Der Gefragte zuckte die Achseln und sagte.

»Wenn denn einmal der Ort, an welchem man treffen soll, genannt werden muß, so treffen Sie diese Bestimmung lieber selbst. Ich bin hier fremd und muß vermeiden, mir Vorwürfe machen zu lassen.«

»Gut,« meinte der Intendant mit einem boshaften Blicke.

»Diese Degen sind zwar besser für den Stoß, aber wollen wir sie uns nicht lieber einmal über die Gesichter ziehen?«

»Ganz wie Sie wollen, Monsieur,« meinte Müller. »Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß man dabei sehr leicht die Nase oder das Auge verlieren kann, wobei es außerdem noch jammerschade um Ihre seidene Weste sein würde.«

»Ah, Sie spotten! Sie meinen, daß ich es sein werde, der die Nase verliert! Ich werde Ihnen das Gegentheil beweisen. Herr Capitän, billigen Sie unsere Vereinbarung?«

Ueber das Gesicht des Alten zuckte ein wilder, kampfbegieriger Zug. Er nickte und sagte:

»Ich gestatte sie unter der Bedingung, daß keinerlei Folgen auf mich fallen. Sie stehen Beide in meinen Diensten. Wer von dem Anderen dienstunfähig gemacht wird, hat keinen Sous Entschädigung von mir zu verlangen.«

»Gut! Beginnen wir also!«

Droben stand die Baronin am offenen Fenster. Sie hatte die Proben, welche Müller ablegen mußte, mit angesehen; sie hatte auch jedes Wort, welches gesprochen worden war, deutlich gehört. Eine Andere hätte Widerspruch erhoben; sie aber freute sich auf den Kampf und legte sich weiter zum Fenster heraus, um besser zusehen zu können. Sie war ein Weib ohne Herz und Gemüth.

Der Intendant legte sich aus – die Klingen blitzten – da stieß er einen lauten Schrei aus und fuhr zurück. Der Degen entsank ihm, und seine beiden Hände fuhren nach dem Gesicht, aus welchem ein breiter Blutstrahl niederfloß.

»Alle Teufel, welch ein Hieb!« rief der Capitän.

»Er hat es gewollt,« sagte Müller gleichmüthig, »obgleich es mir leid thut, meinem Vorgesetzten zeigen zu müssen, daß er noch Verschiedenes zu lernen hat, ehe er davon reden kann, daß ich mich vor ihm fürchte.«

Der Intendant war quer über das Gesicht herüber getroffen. Der fürchterliche Hieb war ihm über den unteren Theil der Stirn und durch das Auge gegangen und hatte ihm dann den Nasenknochen tief gespalten. Das Auge war verloren. Der Verwundete brüllte vor Schmerz und Wuth.

Schafft ihn fort, und holt den Arzt!« gebot der Alte. »Wer hätte gedacht, daß er seinen Meister finden werde. Monsieur Müller, Sie sind ein ganzer Fechter. Man hat sich trotz Ihrer – hm, Unbefangenheit vor Ihnen in Acht zu nehmen. Sie haben Ihre Probe excellent bestanden; ich vertraue Ihnen meinen Enkel an.«

»Ich danke Ihnen, gnädiger Herr,« antwortete Müller. »Die Probe war etwas ungewöhnlich, aber da mir mein Gesicht jedenfalls lieber ist, als dasjenige des Herrn Intendanten, so mußte ich mich wehren.«

Er kehrte nach seinem Zimmer zurück, während der Intendant von einigen Dienern nach dem seinigen geschafft wurde.

Alexander hatte Alles mit angesehen und sagte jetzt zu dem Alten:

»Großpapa, dieser Monsieur Müller ist doch ein ganz anderer Mensch als meine früheren Lehrer. Er fürchtet sich nicht, selbst vor mir und Dir nicht, wie es scheint. Das gefällt mir. Ich werde ihn nicht wieder fort lassen.«

Und droben stand die Baronin. Sie hatte die Fenster geschlossen, stand vor dem Spiegel, um ihr schönes Bild zu betrachten, und murmelte:

»Welch ein Mann! Er that das Alles wie spielend. Selbst der Sprung war so leicht und graciös, so daß er von seiner Manneswürde nichts verlor. Ein solcher Sprung ist gefährlich, denn der Springer kann sich sehr leicht lächerlich machen, was schlimmer als eine Verletzung ist. Dieser Deutsche ist gebaut wie ein Adonis. Hätte er doch diesen fatalen Auswuchs nicht! Er wäre mir wahrhaftig lieber noch als der Director, welcher zu wenig Geist und Feuer besitzt.«

In seinem Zimmer angekommen, musterte Müller zunächst seinen Kopf. Glücklicher Weise saß seine Perrücke fest. Hätte er sie verloren, so wäre es sicher bemerkt worden, daß unter der falschen, schwarzen Bedeckung sich ein ächtes, blondes Haar verbarg. Es war überhaupt beinahe ein Wunder zu nennen, daß diese Perrücke nicht bereits während der gefährlichen Schwimmparthie in der Mosel verloren gegangen war. So hängt oft an Kleinigkeiten das Gelingen eines großen Planes.

Später kam ein Diener, um ihm zu sagen, daß der junge Herr mit ihm auszugehen wünsche. Das war dem Erzieher lieb. Er hatte so am Besten Gelegenheit, den Umfang von Alexander's Kenntnissen und Fertigkeiten zu prüfen, und so die nothwendige Unterlage zu einem Lehrplan zu erhalten.

Als er, die Treppe hinabsteigend, den Hauptcorridor erreichte, öffnete sich eine Thür und er erblickte einen Mann, welcher mit gesenkten Augen ihm langsam entgegen geschritten kam. Es war der Baron, der sich vielleicht zu seiner Frau begeben wollte. Müller kannte ihn noch nicht, ahnte aber, als er den geistesabwesenden Ausdruck des bleichen Gesichtes bemerkte, sogleich, wer es sei. Er blieb stehen, um ihn vorüber zu lassen.

Sobald der Baron völlig herangekommen war, bemerkte er, daß Jemand da stehe. Er erhob das Auge langsam und richtete den starren Blick auf Müller. Da ging eine wunderbare, aber gewaltige Veränderung in diesem todten Gesichte vor: die Augen wurden langsam größer und erhielten den Glanz des Bewußtseins; die Brauen zogen sich empor, und der Mund öffnete sich in jener Weise, wie man es bei einem heftigen Erschrecken bemerkt. Er stand einige Augenblicke mit geöffnetem Munde und abwehrend ausgestreckten Armen da; dann drehte er sich plötzlich um und rannte nach der Thür zurück, aus welcher er gekommen war. Dabei stieß er mit kreischender Stimme, der man eine entsetzliche Angst anhörte, die Worte aus:

»Er ist's! Er ist's! Er sucht wieder die Kriegskasse. Flieht um Gotteswillen! Er sucht die Kriegskasse!«

Damit verschwand er hinter der erwähnten Thür. Auch Müller stand bewegungslos da. Die Worte des Irren hatten einen ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht. Er stand noch ohne Regung da, als sich bereits mehrere Thüren öffneten. Die Baronin erschien und ebenso der alte Capitän, welcher heftig an ihn herantrat und ihn mit funkelnden Augen fragte:

»Was ist's? Was giebt's! Wer rief hier so laut?«

Es bedurfte der ganzen, ungewöhnlichen Selbstbeherrschung, welche Müller besaß, um sich zusammen zu nehmen. Sein Gesicht nahm augenblicklich einen ganz verwunderten Ausdruck an; er sah aus, wie Einer, der Etwas nicht begreifen kann. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Ich kam soeben die Treppe herab, da rief ein Herr, den ich nicht kenne, da vorn im Corridore von Krieg und vom Fliehen. Welch ein eigenthümlicher Scherz!«

»Welche Worte hat er gebraucht?« forschte der Alte dringend. »Sagen Sie es genau, ganz und gar genau!«

»Die Worte Krieg und Fliehen.«

»Keine anderen?«

»Nein, wenigstens habe ich keine Anderen vernehmen können.«

Er hütete sich wohl, die Wahrheit zu gestehen. Er stand da ganz unerwartet vor der Lösung des Problems, welches auf das Tiefste in sein Leben, ja in das Glück seiner Familie und Anverwandten eingriff. Es lüftete sich hier auf einmal der Schleier eines Geheimnisses, für dessen Lösung er sehr oft so gern sein Leben hingegeben hätte. Wie viele, viele hundert Mal hatte er, hatte seine liebe, herzige Mutter, hatte sein alter, greiser Großvater und seine holde, schöne Schwester auf den Knieen gelegen, um Gott inbrünstig zu bitten, einen Lichtblick in das Dunkel fallen zu lassen! Vergebens! Und nun nach langen Jahren, nach dem Aufgeben aller Hoffnung, kam so unerwartet der erbetene Strahl, zwar nicht scharf und blendend wie ein Blitz, auch nicht hell und überzeugend wie das Licht des vollen Tages, aber doch vorbereitend und Ahnung erweckend wie das furchtsame, leise versuchende Grauen eines Morgens nach dunkler Wettersnacht. Da galt es, vorsichtig zu sein!

»Es ist mein Sohn, der Baron de Sainte-Marie,« meinte der Veteran jetzt kalt. »Sie müssen wissen, daß er an eigenthümlichen Anfällen leidet; ich weiß nicht, ob ich sie hysterisch oder anders nennen soll. Dann träumt er laut. Man darf ihn nicht beachten. Ich habe strengen Befehl, daß zu solchen Zeiten ein jeder sich sofort zurückzuziehen hat, da die Gegenwart Fremder den Grad der Anfälle auf das Gefährlichste steigert. Auch Sie haben diesen Befehl zu respectiren. Gäben Sie den Worten, welche der Kranke redet, nur die kleinste Beachtung, so würde ich Sie auf der Stelle entlassen, wenn nicht gar noch etwas Anderes geschähe!«

Seine Augen glühten in einem bösen Feuer, und seine Zähne zeigten sich. Er hatte in diesem Augenblicke ganz das Aussehen eines Mannes, dem das Wohl oder Wehe, das Leben der ganzen Menschheit nur eine Bagatelle gilt.

»Was wollten Sie übrigens hier auf dem Corridore?« fragte er.

»Ich stand im Begriff, mich nach dem Hofe zu begeben,« antwortete Müller demüthig.

»Was dort?«

»Der junge Herr erwartet mich dort. Er hat mich zu einem Spaziergange befohlen.«

»So gehen Sie! Aber merken Sie sich, daß kein Mensch, kein Fremder Etwas über die Anfälle meines Sohnes erfahren darf!«

Er drehte sich mit jugendlicher Raschheit auf dem Absatze um und schritt nach der Thüre zu, hinter welcher der Baron verschwunden war. Müller ging in den Schloßhof, wo Alexander ihn bereits erwartete.

Die Baronin hatte diese kurze, eigenthümliche Unterredung mit angehört. Sie folgte mit langsamen Schritten dem Alten. Als sie das Zimmer betrat, in welchem der Baron sich gewöhnlich aufhielt, fand sie dasselbe leer; aber aus dem angrenzenden Cabinet drang eine jammernde Stimme, zwischen deren abgerissenen, angstvollen Rufen man die harte, drohende Stimme des Capitäns erkannte. Sie trat dort ein.

Es war das Schlafzimmer des Barons. Dieser lag auf seinem Bette, hatte den Kopf unter die Kissen versteckt und wimmerte:

»Er ist da! Er ist da! Ich habe ihn gesehen und erkannt!«

»Schweig!« gebot der Alte. »Er war es nicht!«

»Er war es!« behauptete der Irre. »Er sucht die Kriegskasse!«

»Ich befehle Dir, zu schweigen!«

»Nein, nein, ich will nicht schweigen; ich kann nicht schweigen!« rief sein Sohn, indem er das Gesicht noch tiefer in die Kissen vergrub. »Ich mag die Kasse nicht; ich habe bereits eine geraubt. Ich habe die Kasse von Magenta gestohlen; wozu brauche ich die von Waterloo!«

»Schweig, sage ich, sonst muß ich Dich strafen!«

»Schlag zu, Alter! Schlag zu, Bösewicht!« rief der Baron. »Ich gehorche Dir doch nicht! Behalte Deine Kasse! Ich mag sie nicht! Das Gold trieft von Blut!«

Da zog ihm der Capitän die Kissen weg, erhob die geballte Faust und drohte:

»Mensch, noch ein Wort, und ich zeige Dir, wer Dein Meister ist!«

»Du nicht; Du bist es nicht!« rief der Kranke, indem er sich erhob und seinen Vater mit von Abscheu erfüllten Blicken anstarrte. »Du bist der Teufel, der Satan; aber mein Meister bist Du nicht! Mein Meister sitzt hier und hier!« Er schlug sich bei diesen Worten auf die Brust und vor die Stirn. »Er zermalmt mir das Herz und zerreißt mir das Gehirn. Ich mag die Kasse nicht. Ich gebe die eine zurück, und die andere lasse ich liegen. O, mein armer Kopf, mein armes Herz! Wie das brennt, wie das quält! Nur ein Blick meiner Liama kann diese Schmerzen heilen. Wo ist sie? Ich will sie sehen, sehen, sehen!«

»Schweig, sage ich nun zum letzten Male!« donnerte der Alte.

»Ich schweige nicht!« rief der Sohn. »O, Liama, meine süße Liama! Gebt sie hin, die Kasse; gebt sie hin!«

Da fiel die Faust des Capitäns auf ihn nieder, nicht einmal, sondern in vielen, ununterbrochenen Hieben und Schlägen. Aber der Kranke rief fort. Er wehrte sich nicht gegen die herzlose, grausame Züchtigung seines eigenen Vaters, aber er hielt auch nicht inne, nach seiner Liama und der Kasse zu rufen. Die Arme des Capitäns ermüdeten; er wendete sich zu der Baronin, welche ohne das geringste Zeichen von Theilnahme Zeugin der Unmenschlichkeit gewesen war, und sagte:

»Der Anfall ist heftiger, als jeder andere zuvor. es gelingt mir nicht, ihn einzuschüchtern. Versuchen wir das andere Mittel.«

Während der Kranke immer weiter wimmerte, antwortete sie:

»Das ist mir unangenehm, halten Sie es für ein Vergnügen, mich –«

»Sie werden es thun!« unterbrach er sie mit drohender Stimme. »Oder soll die Dienerschaft erfahren, wie es steht und um was es sich handelt?«

Sie zuckte die Achsel und fragte:

»Und wenn ich es doch nicht thue, was dann?«

»So haben Sie aufgehört, Baronin de Sainte-Marie zu sein!«

Sie zuckte zusammen, wagte aber doch die Frage:

»Ich möchte doch wissen, wie Sie das anfangen wollen, Herr Schwiegerpapa?«

»Ja, die Baronin will ich, die Baronin de Sainte-Marie!« rief der Irre, dessen Geisteskraft nur dazu hingereicht hatte, diesen Namen aufzunehmen.

»Schweig', Unvorsichtiger!« rief der Alte, indem er abermals zuschlug. Und zu der Baronin gewendet, fuhr er fort: »Ich weiß sehr genau, wie ich es anzufangen habe; ich bin, bei Gott, der Mann dazu! Wie wollen Sie beweisen, daß Sie die Frau meines Sohnes sind?«

»Ich habe Zeugen!«

»Sie sind todt!«

»So sind Sie deren Mörder. Die Listen der Mairie und des Kirchenbuches werden beweisen, was ich bin.«

»Die Blätter sind verschwunden,« antwortete er höhnisch.

»So sind Sie der Dieb! Uebrigens brauche ich weder Zeugen noch Bücher. Ich würde Alles verrathen.«

»Und für lebenslänglich in das Zuchthaus wandern,« lachte er mit teuflischem Grinsen. »Wer will meinen Sohn bestrafen? Er ist ein Wahnsinniger. Wer will mich anklagen? Ich war nicht dabei. Wollen Sie meinem Befehle gehorchen, oder sich und Ihren Sohn um die Baronie bringen? Ich frage zum letztenmale.«

Der Baron krümmte sich unter den Fäusten des Alten, der sich jetzt alle Mühe gab, ihm den Mund zuzuhalten.

»Sie sind wahrhaftig ein Teufel!« knirschte die Baronin, indem sie sich anschickte, zu gehen.

»Und Sie sind eine Stallmagd, eine elende Bauerndirne. Gehorchen Sie sofort!« rief er ihr mit funkelnden Augen nach.

Sie kehrte mit vor Zorn hoch gerötheten Wangen in das Wohnzimmer des Barons zurück und begab sich in das gegenüberliegende Gemach. Dieses war klein und zeigte nichts als eine Waschtoilette, einen Spiegel und einen Kleiderschrank. Sie öffnete den letzteren und nahm das einzige Gewand heraus, welches er enthielt. Es war die Festkleidung eines Bauernmädchens aus dem Argonner Walde. Sie schien hier für ganz besondere Zwecke aufbewahrt zu werden, jedenfalls auch für denselben Zweck, dem sie jetzt dienen sollte.

Während das Jammern und Wehklagen des Barons herüberdrang, warf sie ihre gegenwärtige Kleidung ab, legte das andere Gewand an und ordnete ihr Haar in anderer Weise. Obgleich dies so schnell ging, daß sie nach kaum fünf Minuten fertig war, hatte sie doch eine außerordentliche Sorgfalt dabei entwickelt. Sie hatte sich die größte Mühe gegeben, alle ihre Reize hervorzuheben und in das beste Licht zu stellen. Sie stand jetzt da als üppig schönes Bauernmädchen, schön und verführerisch, daß sie im Stande war, auch festere Grundsätze zu Schanden zu machen. Sie betrachtete sich noch einige Augenblicke lang höchst wohlgefällig im Spiegel und flüsterte dabei:

»Und dies Alles soll einem Verrückten gehören! O, wenn doch dieser Deutsche nicht – nicht buckelig wäre!«

Sie erröthete selbst über diesen Gang ihrer Gedanken und begab sich dann zu den beiden Männern zurück, welche Vater und Sohn waren, obgleich der Erstere dem Letzteren als Peiniger gegenüberstand.

»Endlich!« rief der Alte, indem er sich erhob. »Versuchen Sie Ihre Macht; ich werde im anderen Zimmer warten.«

Er entfernte sich und sie trat zu dem wimmernden Baron.

»Henri!« sagte sie mit dem sanftesten Tone ihrer Stimme.

Sein Kopf hatte sich wieder unter die Kissen vergraben; dennoch hörte er das Wort und horchte auf.

»Wer rief?« fragte er. »Bist Du es, meine Liama?«

Sie beugte sich zu ihm nieder und flüsterte liebevoll:

»Komm, mein Henri, blicke mich an!«

Er erhob den Kopf, wendete ihn nach ihr und blickte sie an. Es ging wie ein Zug des Erkennens über sein bleiches Gesicht. Er lächelte matt und sagte:

»Ah, das schöne Mädchen vom Brunnen an der Dorfschänke. Ich bin heute durch das Dorf geritten, als Du am Brunnen standest. Hast Du mich gesehen?«

»Ja, ich habe Dich gesehen,« antwortete sie, indem sie sich auf den Rand des Bettes niedersetzte.

»Ich habe mich nach Dir erkundigt,« sagte er, indem er sich noch weiter emporrichtete. »Deine Mutter ist todt, und Dein Vater ist der Hirte. Nicht?«

»Ja,« flüsterte sie.

»Hast Du einen Geliebten, Du schönes, holdes Kind?«

»Nein; ich habe noch niemals einen gehabt.«

»So hat Deine Lippen noch Niemand geküßt?« fragte er, indem er den Arm um sie schlang.

Seine Blicke bekamen immer mehr Selbstbewußtes, und er musterte sie, als ob er angestrengt nach seiner Erinnerung suche.

»Noch Niemand,« antwortete sie.

»So soll es ein Baron sein, der sie zuerst küßt. Komm, beuge Dich zu mir herüber. Ich will Liebe trinken von Deinen Lippen, Liebe, denn sie ist der einzige, süße Nektar der Götter.«

Sie hielt ihm den Mund entgegen. Er schlang auch den anderen Arm um sie. Ihr Busen lag an seinem Herzen, und die Lippen der Beiden preßten sich zu einem langen, langen Kusse zusammen. Aber während dieses Kusses ging eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor. Seine Lippen lösten sich langsam von den ihrigen; seine Züge nahmen einen unruhigen Ausdruck an. Er betrachtete ihr Gesicht, er legte die Hand auf ihre volle Brust, wie um ihre Gestalt, ihr Wesen zu untersuchen; er ergriff die Zöpfe ihres Haares, um sie genau zu betrachten; sein Blick wurde nach und nach finsterer, und endlich sagte er:

»Mädchen, Du belügst mich! Das war kein Kuß von Lippen, die noch nie geküßt haben; der Kuß eines reinen Mädchens ist anders. Wer so küßt wie Du, der hat die Liebe kennen gelernt. Wie heißest Du?«

»Adeline,« antwortete sie, indem ihr Gesicht den Ausdruck der Besorgniß annahm.

»Adeline?« fragte er, sichtlich mit einem Gedanken ringend, den er noch nicht zu beherrschen vermochte. »Adeline? Ach, jetzt habe ich es! Adeline, die Hirtentochter, die heimliche Geliebte des Sohnes des Maire! Dieser Sohn des Maire sollte sie nicht heirathen, obgleich Beide sich bereits so innig verbunden hatten, als ob es auf der Mairie geschehen sei. Sie war so klug, den Baron de Sainte-Marie zu zwingen, sie zu heirathen und den Sohn ihres Geliebten dann als den Seinigen zu betrachten. Das bist Du! Bist Du das?«

»Du irrst!« antwortete sie, indem sie den Arm um seine Schulter schlang, um ihn mit gut gespielter Zärtlichkeit an sich zu drücken.

Da aber schob er sie zornig zurück und antwortete:

»Ich irre mich nicht! Hältst auch Du mich für wahnsinnig? O, ich weiß Alles! Du hast mich betrogen, aber Du betrügst mich nicht wieder. Du hast mich beobachtet, als ich nach der Kriegskasse – o, mein Gott, die Kriegskasse! Und dann mußte ich, um Dein Schweigen zu erkaufen, meine herrliche Liama – o Liama, meine süße, einzige Liama!«

Er stieß die Baronin mit aller Gewalt von sich und wühlte sich wieder in das Bett hinein. Wie oft hatte, wenn er in sein Toben verfallen war, die Strenge seines Vaters ihn eingeschüchtert, oder, wenn dieses nicht geholfen hatte, die Schönheit der Baronin, die dann stets als Mädchen angekleidet war, ihn in Banden geschlagen und beruhigt. Aber heute hatten beide Mittel ihre Kraft verloren. Er begann von Neuem zu wimmern und zu rufen, so daß der Capitän eintrat.

»Nun?« fragte er die rathlos dastehende Schwiegertochter.

»Es hilft nichts, gar nichts,« antwortete sie.

»So haben Sie es nicht klug genug angefangen,« tadelte er. »Liama, meine Liama will ich sehen!« rief der Kranke, indem er aufsprang. »Wo habt Ihr sie?«

Er ballte seine Faust und seine Lippen wurden feuchte. Der Alte wußte, daß dann stets der höchste Grad des Paroxismus eintrat, daß ihm der Schaum vor den Mund trat, und seine Kräfte sich verdoppelten, so daß er kaum zu bändigen war.

»Was thun wir?« fragte er.

»Wo ist sie? Zeigt sie mir, sonst geht Alles zu Grunde und in Trümmern!« gebot der Baron, indem er drohend auf die Beiden zutrat.

»Zeigen Sie sie ihm!« antwortete die Baronin, indem sie angstvoll vor dem Kranken zurückwich.

»Es wird kein anderes Mittel geben, als dieses,« meinte er. Und zu seinem Sohne gewendet, sagte er:

»Wen willst Du sehen?«

»Liama, meine Geliebte, mein Weib!«

»Sie ist ja todt!«

»Todt?« hohnlachte der Kranke. »Denkt Ihr, ich weiß nicht, daß Ihr mich betrügen wollt?«

»Du hast Sie ja selbst mit begraben.«

»Begraben? Ja. Aber sie ist auferstanden. Ich will sie sehen; ich muß sie sehen; ich muß ihr sagen, daß ich die Kriegskasse nicht behalten mag, und daß sie mir vergeben soll, obgleich ich ein – ein Mörder bin. Vorwärts! Ich warte nicht!«

»Nun gut, Du sollst sie sehen,« entschloß sich der Alte. »Komm!«

Er nahm seinen Sohn beim Arme und winkte der Baronin zu, das Zimmer zu verlassen. Diese aber trat näher und erklärte:

»Ich gehe mit!«

Da blickte der Alte sie halb verwundert und halb zornig an und fragte:

»Warum?«

»Ich will das Bild sehen, die Wachspuppe, von welcher Sie zu mir –«

»Pah!« unterbrach er sie barsch. »Das ist nicht für Weiber!«

»O, warum nicht?« antwortete sie mit fester Stimme. »Ich will mich endlich überzeugen, ob Sie ein ehrliches Spiel mit mir treiben. Ich muß endlich einmal wissen, wo sich der Eingang zu Ihrem Geheimnisse befindet. Ich will endlich einmal aufhören, der Spielball Ihrer Intriguen zu sein. Ich gehe nicht von der Stelle; ich muß heute erfahren, woran ich bin!«

»Ah, Madame, kennen Sie die Sage vom verschleierten Bilde zu Sais?« fragte er, indem er sie mit einem höhnischen Blicke überflog.

»Ich kenne es,« antwortete sie.

»Und Sie wissen auch, daß Derjenige, welcher den Vorhang lüftete, sterben mußte?«

»Ich weiß es.«

»Nun wohl, so halten Sie sich von diesem Vorhange fern, denn ich nehme an, daß Sie noch nicht gewillt sind, auf Ihr junges Leben zu verzichten!«

»O, Herr Capitän, wollen Sie damit etwa sagen –«

»Daß Sie sterben müßten, wenn Sie versuchen, mein Geheimniß zu ergründen! Ja, das will ich allerdings sagen.«

»So würden Sie mein Mörder sein!«

»Der würde ich allerdings sein, Madame,« antwortete er, indem er ihr näher trat. Und mit drohendem Tone fuhr er fort: »Entfernen Sie sich also schleunigst aus diesem Zimmer. Es ist mir ganz gleich, ob der Tochter eines Schweinehirten auf meine Veranlassung der Athem ausgeht oder nicht. Verstanden?«

Der Kranke stand dabei, ohne ein Glied zu rühren, oder ein Zeichen zu geben, daß er höre und begreife, was gesprochen wurde. Der Alte hatte ihm versprochen, daß er Liama sehen würde, das war ihm genug.

»Und wenn ich auf meinem Willen beharre?« meinte die Baronin stolz.

»So werde ich Ihnen zeigen, wie viel Ihr Wille hier auf Ortry gilt!«

Er holte, ehe sie es sich versah, aus, und schlug sie mit der Faust auf den Kopf, daß sie besinnungslos zusammenbrach. Dann klingelte er. Ein Diener erschien im Wohnzimmer. Er begab sich dorthin und befahl:

»Die Frau Baronin ist ohnmächtig geworden; ihre Mädchen mögen kommen, um sie nach ihren Gemächern zu tragen!«

Sobald der Bediente sich entfernt hatte, nahm er den Baron beim Arm und zog ihn fort. Als die Mädchen kamen, fanden sie keinen einzigen Menschen in den Zimmern, welche der Baron bewohnte. Die beiden Männer waren spurlos verschwunden, obgleich sie den Corridor nicht betreten hatten.

Dieses geheimnißvolle Kommen und Verschwinden war von der Dienerschaft sehr oft bemerkt worden, ohne daß eine Erklärung dazu gefunden werden konnte. Müller war so glücklich gewesen, diesem Geheimnisse gleich am ersten Tage seines Hierseins auf die Spur zu kommen. Es sollten noch ganz andere Entdeckungen seiner warten.

Er war mit Alexander zunächst nach dem Schloßgarten gegangen, um sich die Gewächshäuser und sonstigen Anlagen zu betrachten; dann hatten sie den Park aufgesucht und sich sehr lebhaft in demselben herumgetummelt. Während dieser Zeit hatte Müller seinem Zögling Alles zu Gefallen gethan; er erkannte in dem Knaben eine jener Naturen, welche sich am Leichtesten leiten lassen, wenn man ihnen den Schein läßt, daß sie es sind, welche regieren. Er behandelte ihn darnach, und so kam es, daß Alexander großen Gefallen an seinem neuen Lehrer fand, der gar nicht that, als ob er ihn unter seine pädagogische Dressur nehmen wolle, sondern sich sogar herbeiließ, Eichkätzchen mit ihm zu jagen.

Als der Knabe sich davon ermüdet fühlte, machte er den Vorschlag, nach dem Parkhäuschen zu gehen, um sich dort auszuruhen. Müller willigte ein. Sie fanden das kleine, einfache Häuschen, welches nur einen einzigen Raum besaß, in welchem einige Holzstühle und ein Tisch standen. Hier saßen sie, und Müller, der seine Augen offen hatte, zumal da er gewahr geworden war, daß sein eigenes Zimmer eine Doppelmauer hatte, bemerkte, daß die eine Wand des Häuschens, trotzdem sie, wie die anderen, nur aus Brettern bestand, eine Dicke von einigen Fuß besaß. Das fiel ihm auf.

Aus diesem Grunde suchten im Laufe der Unterhaltung seine Augen diese Wand ganz unwillkürlich immer wieder und – ah, was war das? Hatte sich wirklich ein Theil der Mauer jetzt ganz leise verschoben?

Er nahm sein Taschentuch hervor und zog die Brille von der Nase, wie um die Erstere abzuputzen; dann wischte er sich die scheinbar blöden Augen langsam aus und hatte so Gelegenheit, ungesehen von einem unsichtbaren Beobachter unter dem Tuche hervor mit dem einen, halb geschlossenen Auge die Stelle der Wand zu mustern, von welcher er bemerkt zu haben glaubte, daß sie bewegt worden sei.

Wirklich, es war ein ganz, ganz schmaler Riß entstanden, und Müller hätte darauf schwören mögen, ganz genau den Punkt bezeichnen zu können, wo ein schwarzes, glänzendes Auge durch die Spalte lausche. Es stand unumstößlich fest, daß sich eine Person zwischen der Doppelwand befand, welche ihn und den Knaben belauschte. Dieser Theil der Wand war jedenfalls nach Art der Zugthüren zu bewegen, welche anstatt in Angeln auf einer Schiene oder in einem Falze auf kleinen Rollen oder Rädern gehen.

Wer aber war der Lauscher? Das war des Capitäns Auge. Doch hatte Müller keine Zeit, über diesen Gegenstand nachzudenken. Er mußte sich hüten, bemerken zu lassen, daß er die Spalte entdeckt habe. Darum drehte er sich unbefangen von dieser Richtung ab und nach Alexander hin, mit welchem er eine lebhafter geführte Unterhaltung begann.

Nach einigen Minuten hatte, wie ihm ein flüchtiger Blick verrieth, die Spalte sich wieder geschlossen, und da gerade jetzt Alexander vor das Häuschen trat, um einen Habicht zu beobachten, welcher in der Höhe seine Kreise zog, so entstand im Innern der Hütte eine augenblickliche, lautlose Stille, während welcher man ein Blatt hätte fallen hören können. Da, horch, entstand unter dem Fußboden ein eigenthümliches Geräusch. Es war, als ob Schlüssel klirrten, als ob dann eine schwere Thür in kreischenden Angeln sich bewege. Das war allerdings nicht mit solcher Deutlichkeit zu hören, daß man es mit Sicherheit behaupten konnte, aber Müller hatte ein scharfes, gutes Gehör, auf welches er sich verlassen konnte. Er beschloß, baldigst diese auffälligen Erscheinungen zu untersuchen. Je eher dies geschehen konnte, desto besser war es, denn dieses Schloß Ortry war ein zu zweifelhafter Aufenthalt, als daß es gerathen sein konnte, die Entdeckung nützlicher Geheimnisse zu verzögern.

Nachdem die Beiden sich ausgeruht hatten, sprach Müller den Wunsch aus, nach dem Eisenwerk zu gehen, um sich dasselbe zu besehen. Alexander stimmte bei, doch wurden Beide vom Director nicht sehr freundlich aufgenommen.

»Sind Sie vom Herrn Capitän geschickt, gnädiger Herr?« fragte er Alexander.

»Nein.«

»Oder haben Sie eine Erlaubnißkarte?« wendete er sich an Müller.

»Auch nein. Bedarf es einer solchen?« fragte dieser.

»Allerdings.«

»Das scheint mir wunderbar. Ich habe oft ganz ähnliche Werke besucht, deren Besitzer und Leiter es sich zur Freude gemacht haben, Fremde zu informiren. Es kann dem Besitzer eines industriellen Etablissements nur lieb sein, zu hören, daß seine Anlagen in einem Rufe stehen, der sogar den Laien herbeizieht.«

»Ich gebe das zu,« meinte der Director abweisend. »Sie werden jedoch eben so bereitwillig zugestehen, daß wir oft verschwiegen sein müssen. Es kann uns nicht gleichgiltig sein, ob unsere Concurrenten erfahren, mit welchen Mitteln und auf welche Weise wir arbeiten, welche Handgriffe wir anwenden, und zu welchem chemischen Verfahren wir uns entschlossen haben.«

»Halten Sie mich für einen Concurrenten?« lächelte Müller.

»Ich halte Sie für das, was Sie sind, nämlich für einen Mann, der von unseren Dingen ganz und gar nichts versteht. Sie sind nicht der Mann, der uns gefährlich werden könnte; aber ich habe nun einmal Weisung, keinen Menschen ohne Erlaubnißkarte einzulassen, und bitte Sie, davon abzustehen.«

»Herzlich gern,« antwortete Müller. »Ich will Sie keineswegs in Gefahr bringen. Adieu!«

Er wandte sich ab, um zu gehen. Er wußte nun, was er hatte wissen wollen, und fühlte sich befriedigt. Nicht aber so Alexander. Er blieb stehen und fragte:

»Bedarf auch ich einer Erlaubnißkarte?«

»Allerdings, sobald Sie nicht in Begleitung des Capitäns erscheinen.«

Da richtete sich der Knabe hoch empor und sagte:

»Wissen Sie, daß Sie mir gar nichts zu befehlen haben? Sie haben mir hier nicht das Mindeste zu verbieten. Wäre ich allein, so würde ich in den Werken herumlaufen, ganz wie es mir gefällt. Aber ich will Herrn Müller nicht verlassen. Das aber muß ich Ihnen sagen, daß Sie ihn mit höflicheren Worten von Ihrer Pflicht benachrichtigen sollten. Er ist ein Mann, der mehr versteht als Sie. Sie sind ein Grobian gewesen!«

Er folgte seinem Lehrer nach, der alle diese Worte gehört hatte.

»Monsieur Müller,« sagte er, »Ich muß Ihnen Etwas mittheilen!«

»Was?«

»Daß ich noch niemals einen Lehrer in Schutz genommen habe!«

»Ah!«

»Daß ich es mit Ihnen thue, mag Ihnen beweisen, wie lieb ich Sie habe. Sie werden bei mir bleiben müssen. Sie sind ganz anders, als die Vorigen, und ich werde mich hüten, Sie wieder fortzulassen. Morgen beginne ich, Deutsch zu lernen.«

Müller war hoch erfreut über diesen unerwartet schnellen Erfolg. Er erkannte, daß der Knabe ganz gute Fonds besaß, welche bisher leider nur vernachlässigt worden waren.

Es war bereits um die Dämmerung, als sie das Schloß erreichten. Dort trafen sie die Gerichtspersonen, welche gekommen waren, den Thatbestand der Verunglückung des Grooms festzustellen. Sie mußten bis zum morgenden Tage hier verweilen, doch wurde dadurch die Lebensordnung der Schloßbewohner in keiner Weise alterirt, denn punkt zehn Uhr gingen diese, wie gewöhnlich, bereits zur Ruhe.

Müller hatte sich einige Lichter versorgt. Im Laufe des Nachmittags waren seine Effecten aus Thionville gekommen. Dabei befand sich eine kleine Blendlaterne. Er hatte sich mit derselben versehen, weil er ja wußte, daß er als Eclaireur nach Ortry ging, und als solcher sehr leicht in die Lage kommen konnte, dieses nützliche Instrument zu gebrauchen. Als er keine Bewegung mehr im Schlosse wahrzunehmen vermochte, zog er sich um, aber im Dunkeln, um nicht durch die Glastafel beobachtet werden zu können.

Er legte einen Bart an, zog über seine dunkele Hose eine Blouse, wie man sie in jenen Gegenden trägt, und tauschte die Stiefel mit leichten Schuhen um, welche den Schritt nicht so leicht hörbar werden ließen. Den Buckel hatte er abgeschnallt.

Es konnte ihm nicht einfallen, sich zur Treppe hinab zu begeben. Er hatte sich während des Tages bereits einen anderen Weg ersehen. Nachdem er die Thür fest verschlossen, und einen geladenen Revolver zu sich gesteckt hatte, öffnete er das nördliche Fenster und schwang sich durch dasselbe hinaus auf das Dach. Da dasselbe ziemlich eben war, konnte er ganz ohne Gefahr dort aufrecht gehen; aber er that das nicht, sondern kroch in liegender Stellung fort, da sich seine hohe Gestalt sonst gegen den Himmel abgezeichnet hätte, und von unten auffällig werden konnte.

So kam er an den Blitzableiter. Er hatte ihn am Tage bemerkt und mit seinem scharfen Auge geprüft. Die Leitung war nach alter Weise aus starken, viereckigen Eisenstäben hergerichtet, und wurde von breiten Haltern unterstützt, welche in Entfernungen von höchstens zehn Fuß von einander standen, so daß der stärkste Mann da ganz gefahrlos auf und nieder klettern konnte. Uebrigens war von der Mauer schon längst der Bewurf abgefallen; ein solcher Kletterer konnte, wenn nicht Jemand ganz in der Nähe stand, gar nicht bemerkt werden.

Müller legte sich mit den Beinen über die Dachrinne hinab, faßte dann den Leiter und rutschte auf den obersten Halter hinunter, von diesem auf den zweiten und so weiter. Als er von Außen die zweite Etage erreichte, kam er zwischen zwei Fenster zu halten, welche erleuchtet waren. Er warf einen vorsichtigen Blick hinein und gewahrte – den Capitän. Was hatte dieser Seltsames vor?

Müller bemerkte nämlich, daß der Alte eine Pistole sehr sorgfältig lud und in die Tasche steckte, dann trat er zu einem Schranke, dessen Thür er öffnete. Der Lauscher glaubte, er werde irgend ein Kleidungsstück aus dem Schranke nehmen; statt dessen aber stieg er ganz hinein und zog die Thür hinter sich zu. Müller wartete ein Weilchen, doch der Alte kam nicht wieder heraus. Was war das?

»Ist in dem Schranke eine geheime Verbindungsthür verborgen?« fragte sich der Lehrer. »Nein, sie wäre ja überflüssig, da gleich daneben eine Thür in das Nebenzimmer führt. Oder befindet sich im Schranke der Eingang zu den Doppelmauern? Das wäre eher zu glauben.« In diesem Falle aber mußte Müller vorsichtig sein, denn es stand zu vermuthen, daß der Capitän soeben einen seiner Beobachtungsgänge angetreten habe. Wie nun, wenn er auch nach dem Parkhäuschen kam?

Müller stieg weiter herab und schlich sich nach dem Garten, als er die Erde erreicht hatte. Von dort aus ging er nach dem Parke.

Es war zwar dunkel, aber beim hellen Scheine der Sterne konnte man doch immerhin bemerkt werden. Darum hielt er sich immer unter dem Schutze der Bäume, welche die Rasenstellen des Parkes begrenzten. Eben wollte er über eine kleine Lichtung hinüberhuschen, als er den Schritt anhielt.

»Pst!« erklang es leise neben ihm. »Ich hörte Sie kommen.«

Wer war das? Es hatte wie eine weibliche Stimme geklungen. Er sollte keinen Augenblick im Zweifel bleiben, denn eine warme, weiche Hand erfaßte die seine, und zu gleicher Zeit legte sich ein voller, zärtlicher Arm um ihn.

»Ich dachte, Sie erwarteten mich bereits,« flüsterte es weiter. »Ich konnte nicht eher kommen, denn mein Schwiegervater ging erst jetzt von uns fort, und dann mußte ich ja erst Alexander zur Ruhe bringen, welcher nicht müde wurde, von seinem neuen Erzieher zu erzählen. Da wir uns hier treffen, brauchen wir nicht viel weiter zu gehen. Komm, unter jenen Eschen steht eine Bank!«

Sie zog ihn leise fort, ohne den Arm von ihm zu nehmen. Was sollte er thun? Für wen hielt sie ihn? Es war die Baronin; das hatten ihm ihre Worte bereits verrathen. Er war als Kundschafter hier. Es gab vielleicht Gelegenheit, etwas Wichtiges zu erfahren. Er beschloß, die ihm angetragene Rolle aufzunehmen und so weit wie möglich zu spielen. Die Baronin erwartete einen heimlichen Liebhaber; das war sicher; er fühlte keine Gewissensbisse, das untreue Weib zu täuschen.

Sie erreichten die Bank. Er setzte sich, und die Dame nahm auf seinem Schooße Platz. Diese Vertraulichkeit war der sicherste Beweis, daß Derjenige, dessen Stellvertreter Müller so unerwartet geworden war, bereits längere Zeit mit ihr in heimlichem Verkehre stand. Sie legte sich fest, innig und warm an ihn, und aus den vollen, üppigen Formen, welche er fühlte, bemerkte er, daß er sich vorhin nicht getäuscht hatte, als er an ihrer Stimme und aus ihren Worten sie als die Baronin erkannte.

Aber für wen galt denn er? Dies zu erfahren, war die Hauptsache. Sie selbst kam ihm zur Hilfe, denn sie sagte:

»Alexander erzählte mir, daß er heute mit Monsieur Müller bei Ihnen gewesen sei. Sie haben sich aber geweigert, ihn einzulassen.«

Ah, also der Director war der heimliche Geliebte dieses Weibes! Müller fühlte sich erleichtert. Er hatte fast ganz die Gestalt des Directors; sein falscher Bart glich dem des Letzteren zufälliger Weise fast ganz; auch hatte er ja mit diesem Manne gesprochen und seine Stimme zur Genüge gehört, um sie leidlich nachahmen zu können.

»Ich durfte ja nicht,« antwortete er leise.

»Allerdings! Dieser alte Capitän ist sehr streng; aber dennoch wünsche ich, daß Sie Rücksicht auf Alexander nehmen, der ja Ihr zukünftiger Herr ist, und daß Sie Monsieur Müller freundlicher begegnen.«

Sie sprach im Flüstertone, und so wurde es Müller leicht, seine Stimme zu verstellen, da dies im Flüstertone am wenigsten schwierig ist.

»Diesen Deutschen? Ah!« sagte er.

»Ich weiß, daß Sie die Deutschen hassen, ebenso wie ich; Ihre ganze jetzige Thätigkeit ist ja darauf gerichtet, sie zu verderben; aber ich möchte mit ihm eine Ausnahme machen. Alexander liebt ihn.«

»Das wäre ja wunderbar!«

»Ja, er hat noch keinen seiner Lehrer geliebt; aber Monsieur Müller hat ihm das Leben gerettet, und dann auch sein Herz zu gewinnen vermocht. Uebrigens ist er nicht mit anderen Schulmeistern zu vergleichen.«

»Warum nicht, meine Theure?«

»Ah, endlich einmal ein zärtliches Wort: meine Theure! Wissen Sie, daß Sie heute Abend ungemein zurückhaltend sind?«

Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn mit der Gluth eines leidenschaftlichen, treulosen Weibes. Er wagte es kaum, diesen Kuß zu erwidern.

»Auch Ihre Küsse sind kalt. Ich werde Sie zu strafen wissen, und zwar sofort!«

»Womit?« fragte er auf diese Drohung.

»Damit, daß ich Ihnen sage, daß dieser Deutsche Ihnen bei mir gefährlich werden kann.«

» Fi donc! Dieser buckelige Kerl!«

»Wenn Sie ihn reiten, fechten und schießen gesehen hätten, so würden Sie ganz und gar nicht an diesen kleinen Fehler denken, an dem er doch unschuldig ist. Ich möchte wirklich wissen, ob er ebenso feurig küßt, wie er den Degen führt.«

Es war klar, daß dieses Weib ihren vermeintlichen Liebhaber eifersüchtig machen, und dadurch anregen wollte, seine Zärtlichkeit zu verdoppeln. Müller legte also die Arme fest um sie, drückte sie mit nachgeahmter Innigkeit fest an sich, und vermochte es nun auch nicht zu verhindern, daß sie ihren Mund mit aller Kraft auf den seinigen legte, welches ihn fast in Verlegenheit brachte. Nicht nur ihre Lippen, sondern auch ihre Zunge war bei diesem Kusse thätig. Da aber lösten sich plötzlich ihre Arme von ihm; sie fuhr zurück und sagte:

»Was ist das? Sie haben ja ganz andere Zähne!«

»In wiefern?« fragte er.

»Ich habe ja noch heute Morgen Ihre Zahnlücke gefühlt!« Er bemerkte, daß sein Incognito sich in großer Gefahr befinde, und antwortete:

»Hm, leicht erklärlich! Der Dentist brachte mir heute den bestellten Zahn.«

»Ah, Sie lügen! Es fehlte Ihnen keiner; die beiden vorderen standen etwas zu weit auseinander. Zeigen Sie Ihre rechte Hand!«

O weh, jetzt war die Schäferstunde vorüber, denn es fiel erst jetzt Müller ein, daß er heute während seines Gespräches mit dem Director bemerkt hatte, daß diesem, jedenfalls in Folge eines kleinen Unfalles, an der rechten Hand ein Fingerglied fehlte.

Sie hatte, ehe er es verhindern konnte, seine Hand ergriffen, welche sie befühlte. Kaum hatte sie es bemerkt, daß sie vollständig sei, so sprang sie empor, um zu entfliehen. Eben so schnell jedoch besann sie sich. Sie drehte sich wieder um und fragte:

»Kennen Sie mich?«

Sollte er sie schonen? Nein; sie war es nicht werth!

»Ja,« antwortete er.

»Nun, wer bin ich?«

»Die Baronin de Sainte-Marie.«

»Gut, so bitte ich um gleiche Karten! Wer sind Sie?«

Er erhob sich und trat einen Schritt zurück.

»Das werden Sie jetzt nicht erfahren, Madame!«

»Jetzt nicht, aber später vielleicht?«

»Möglich!«

»So sagen Sie mir wenigstens was Sie sind!«

»Ich bin Officier,« antwortete er.

»Woher? In welcher Truppe?«

»Das muß ich leider verschweigen.«

»So lügen Sie! Ein Officier ist gewöhnlich ein Ehrenmann, und ein solcher wird die Täuschung, in welcher sich eine Dame befindet, nicht in der Weise benutzen, wie Sie es gethan haben!«

»Unter Umständen kann er vielleicht dazu gezwungen sein, theuere Baronin.«

»Welche Umstände wären dies? Was wollen Sie des Nachts in Ortry? Ich kenne keinen Officier, welcher das Recht oder die Erlaubniß hätte, zu dieser Stunde hier zu verkehren.«

Was sollte er antworten? Da kam ihm die beste Ausrede, die er geben konnte:

»Denken Sie an Paris!«

»Ah, Sie haben mich in Paris gekannt?«

»Halten Sie dies für unwahrscheinlich? Kann Sie jemand vergessen, der Sie dort gesehen und bewundert hat?«

»Und Sie wollen sich mir wirklich nicht entdecken?«

»Heute noch nicht, meine Gnädige.«

»So geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mich nicht verrathen, und den Inhalt unserer Conversation keinem Menschen mittheilen wollen!«

»Ich verspreche Ihnen gern, auf diese schöne Stunde nur Ihnen allein gegenüber zurückzukommen. Ist Ihnen dies genug«

»Ja, aber Ihr Gesicht muß ich dennoch sehen!«

Sie trat rasch zu ihm heran, warf die schönen, üppigen Arme um seinen Nacken und versuchte, seinen Kopf tiefer zu ziehen. Es gelang ihr nicht.

»Dann bitte, wenigstens noch einen Kuß!« bat sie in verführerischem Tone.

Es war klar, daß sie dabei ihr Gesicht abermals in die Nähe des seinigen bringen wollte, um ihn genauer anzusehen, als sie es vorher gethan hatte.

»Den sollen Sie gern haben!« lachte er leise.

Er bog sich zu ihr herab und küßte sie; zu gleicher Zeit jedoch legte sich seine Hand ihr auf beide Augen, so daß sie nicht das Geringste erkennen konnte. Im nächsten Augenblicke hatte er sich von ihren Armen losgemacht, und sie hörte an dem schnellen Rauschen seiner Schritte, daß er sich entfernte.

Sie stand da, mehr berauscht als erschreckt. Er war Officier und hatte ihr sein Ehrenwort gegeben; ihr Ruf stand in keinerlei Gefahr. Aber wer war er denn? War er wirklich von Paris hierhergekommen, nur um aus Liebe zu ihr des Nachts das Schloß zu umschleichen? Stand er jetzt vielleicht in Thionville in Garnison? Ah, dann kam er jedenfalls wieder! Er hatte ja gehört, daß sie einem Andern erlaubte, sie heimlich zu treffen; er durfte alle Hoffnung haben, diese Erlaubniß auch zu erhalten.

Ein schöner, voller, kräftiger Mann war es gewesen; das hatte sie gefühlt. Noch umwob sie der feine, eigenthümliche Duft, der von ihm ausgegangen war; von seinen Kleidern, seinem Barte oder seinen Haaren; sie wußte es selbst nicht, denn sie hatte nicht darauf geachtet, und erst jetzt dachte sie an dieses Parfüm, nachdem er fortgegangen war.

Was aber nun? Durfte sie den Director warten lassen? Nein. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben und mußte es halten. Darum schlich sie sich leise dem Orte zu, an welchem das Stelldichein stattfinden sollte.

Müller hatte sich schnell entfernt. Er schritt dem Parkhäuschen zu, aber jetzt mit völlig unhörbaren Schritten. Er war klug geworden; seine Schritte waren vorher doch noch so unvorsichtig gewesen, daß die Baronin ihn bemerkt hatte.

Er kam am Häuschen an und stand bereits im Begriffe, einzutreten, als er von Innen ein Geräusch vernahm, als ob man Bretter leise zur Seite schiebe. Er trat zurück und versteckte sich hinter einen Busch. Ein dünner Lichtschein drang durch die Spalten der Wand, aber nur einen Augenblick lang; dann wurde es wieder dunkel.

Jetzt öffnete sich leise die Thür. Ein Mann trat hervor. Da Müller tief am Boden kauerte, so zeichnete sich ihm die Gestalt dieses Mannes gegen das Sternenlicht so genügend ab, daß er in ihm den alten Capitän erkannte.

Was wollte dieser hier? Stand das Häuschen mit dem Schranke im Zimmer des Alten in heimlicher Verbindung? Müller hatte keine Zeit, diese Fragen auszudenken. Der Capitän schritt quer über die Parklichtung hinüber. Müller eilte in einem Bogen am Rande der Lichtung hin, um ihm zuvorzukommen. Es gelang ihm. Er stellte sich hinter eine starke Eiche, an welcher der Capitän vorüberging und unter die Bäume trat. Müller konnte ihn nicht mehr sehen, aber er beschloß dennoch, der Richtung zu folgen, welche der Alte eingeschlagen hatte. Er kauerte sich nieder und schob sich auf Händen und Füßen weiter. An einem jeweiligen Rauschen hörte er, daß der Capitän hart vor ihm sei. Es schien, daß auch er ganz langsam vorwärts krieche.

Nicht lange, so war es dem Deutschen, als ob er leise Stimmen flüstern höre. Er verdoppelte seine Vorsicht. Sein Auge hatte sich jetzt einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, und so gewahrte er den Alten hart hinter einer Bank, welche unter den ersten Bäumen, von denen die Lichtung eingefaßt wurde, stand, auf der Erde liegen. Müller näherte sich und legte sich seitwärts der Bank an einen Baumstamm nieder. Er lag jetzt der Bank näher als der Capitän und konnte die Unterhaltung der beiden Personen, welche darauf saßen, jedenfalls auch besser hören als dieser.

Sie bestand aus einem glühenden Liebesdialog. Der Director, den die Baronin hier nun wirklich gefunden hatte, war nicht so zurückhaltend wie der Deutsche vorher, und so konnte dieser sich sehr leicht denken, mit welchem Grimm der Alte dieses Zwiegespräch belauschen möge.

Da, da erhob sich der Letztere und trat mit einem raschen, weiten Schritte vor die Beiden hin.

»Guten Abend, Frau Tochter! Guten Abend, Herr Director!« sagte er.

Der Director fuhr empor, starrte den Alten an und sprang dann eiligst davon. Er kannte ihn genau und mochte daher seine Nähe unter den obwaltenden Umständen für gefährlich halten. Die Baronin aber konnte vor Schreck weder laufen noch stehen. Sie versuchte zwar, sich zu erheben, sank aber mit einem matten Laute wieder nieder.

»Das sind nun wieder einmal die richtigen Dorfmädchenstreiche!« höhnte der Alte.

Sie nahm sich gewaltig zusammen und antwortete:

»Was thun Sie hier? Woher kommen Sie? Welche Worte erlauben Sie sich?«

»Ah, die Frau Tochter hat wohl nur den schönen Frühlingsabend genießen wollen?« fragte er mit dem häßlichsten Lachen, welches man nur hören kann.

»Was anders?«

»Und sitzt hier in den Armen meines Directors!«

»Lügen Sie nicht!« fuhr sie auf.

»O, ich habe es gesehen! Meine Augen sind alt aber gut!«

»Aber wissen Sie auch, wie es gekommen ist?«

»Ah, ich bin ganz begierig, Ihre Erklärung zu hören!«

»Sie sollen sie hören, um zu erfahren, wie sehr Sie mich beleidigen! Ich kam hierher, um den Abend zu genießen. Da erhob sich gerade vor mir eine dunkle Gestalt von der Bank. Ich erschrak natürlich und wurde ohnmächtig. Der Director – denn dieser war es – fing mich auf. Als ich erwachte, standen Sie vor mir. Das ist Alles!«

Sie hatte versucht, ihren Worten den Ton gekränkten Stolzes zu geben; aber bei diesem Manne verfing dies nicht. Er verschlang die Arme über die Brust und sagte:

»Warum sind Sie nicht zum zweiten Male in Ohnmacht gefallen, als die zweite Gestalt vor Ihnen stand? Entweder steht Ihnen nur eine einmalige Ohnmacht zur Verfügung, oder die erste existirt nur in Ihrem lügenhaften Kopfe. Wie kann überhaupt von einer Ohnmacht die Rede sein bei einem Bauernmädchen, welche mit Nerven begabt ist, die nur mit Wagenstricken zu vergleichen sind!«

»Herr, beleidigen Sie mich nicht weiter!«

»Pah! Scherzen Sie nicht mit mir! Ich habe mich eine volle Viertelstunde lang hier befunden, und jedes Wort gehört, welches gesprochen wurde. Ich habe jeden Seufzer gezählt, welchen Ihnen die überfließende Liebe entführte, und jeden Kuß, den Sie gaben und bekamen. Ich habe in meiner Jugend auch geküßt, aber dabei möglichst jedes überflüssige Geräusch vermieden. Warum klatschen Sie wie ein Postkutscher, Madame?«

Sie war bei dieser mehr als drastischen Ironie des Alten jetzt wirklich einer Ohnmacht nahe, trotz der starken Nerven, mit denen sie begabt sein sollte.

»Sie werden unverschämt!« schluchzte sie.

»Ah, pah! Ihnen gegenüber muß man es sein!« höhnte er. »Und wenn Sie weiter leugnen wollen, so will ich Ihnen sagen, daß der Director heute früh bei Ihnen war, ehe er mich aufsuchte –«

»Was geht Sie das an?« unterbrach sie ihn.

»Daß Sie sich da über die gegenwärtige Zusammenkunft verabredeten –«

»Lügner!«

»Und daß Sie ihm beim Abschiede Ihre schönen Lippen boten, als er sich nur begnügen wollte, Ihre Hand zu küssen.«

»O, wer errettet mich von diesem Teufel!« rief sie.

»Sagen Sie das Wort nicht noch einmal, sonst schlage ich Sie zum zweiten Male nieder, wie ich Sie bereits einmal heute niedergeschlagen habe!«

Er erhob wirklich den Arm, als ob er zuschlagen wolle, und schon machte Müller sich bereit, aufzuspringen, um eine solche Rohheit zu verhindern, da ermannte sich die Baronin. Sie schnellte von ihrem Sitze empor und eilte davon.

»Sie mag gehen, immer gehen,« brummte der Alte, »mir entgeht sie doch nicht!«

Er wendete sich um und schritt davon, dem Häuschen wieder zu. Müller folgte ihm auf dem Fuße, denn jetzt bot sich vielleicht die beste Gelegenheit, zu sehen, wie der geheime Aus- und Eingang geöffnet werde.

Als er bei der Parkhütte ankam, war der Capitän bereits eingetreten. Müller schlich sich näher. Er stand vor dem einen Fenster, welches gerade in Höhe seines Kopfes angebracht war. Da flammte drinnen ein Lichtschein auf. Der Alte stand im Begriff, eine Laterne anzuzünden. Er fühlte sich so sicher, daß er sich gar nicht die Mühe gab, vorher die Läden zu schließen, damit das Licht nicht von Außen bemerkt werden könne. Dann faßte er nach einem Nagel, welcher scheinbar zu irgend einem anderen Zweck in die Wand geschlagen war, und schob nach der linken Seite zu. Einige Bretter wichen zurück. Sie bildeten, unter einander fest verbunden, eine Thür, welche auf Rollen ging, ganz so, wie Müller vermuthet hatte.

Der Capitän trat in die entstandene Oeffnung, und schob die Thür von Innen wieder vor. Sie schloß so genau wie vorher. Man mußte das gesehen haben, was Müller beobachtet hatte, sonst wäre man sicher nicht auf den Gedanken gekommen, daß diese Stelle der Wand eine Thür bilde.

Der Deutsche schlich sich augenblicklich durch die Thür in das Häuschen hinein, und legte sich dort mit dem Ohre auf den Boden nieder, um zu lauschen. Er hörte unter sich dumpfe Schritte, welche nach und nach verhallten.

Sollte er folgen? Gewiß! Vielleicht fand sich niemals wieder eine so gute Gelegenheit, den Capitän zu beobachten.

Er zog also seine Laterne auch hervor und brannte das Licht in derselben an. Dann schob er die Thür ganz in derselben Weise zurück, wie es der Alte gethan hatte. Als er hineingetreten war, sah er eine schmale Treppe, welche in gerader Richtung in die Tiefe führte. An der Innenseite der Thür gab es einen zweiten Nagel, welcher als Handhabe diente, sie wieder zu verschließen. Müller that dies und stieg dann die Treppe hinab, während er in der einen Hand die Laterne, und in der anderen den Revolver hielt. Es waren über zwanzig Stufen, welche er zu steigen hatte. Dann kam er in einen größeren, viereckigen Raum, in welchem allerlei Hacken, Schaufeln und andere Geräthe lagen, deren Zweck ihm erst in späterer Zeit einleuchtete.

Dieser Raum hatte zwei Ausgänge, einen nach dem Schlosse zu, welcher gar keine Thür zeigte, und einen nach dem Walde zu, welcher durch ein starkes, mit Eisenblech beschlagenes Thor verschlossen war. Der unterirdische Weg nach dem Schlosse hin bestand aus einem Stollen, welcher eine Höhe von sieben Fuß und eine Breite von fünf Fuß hatte. Er war aus Backsteinen gewölbt und schien sehr trocken zu sein. Müller beschloß, ihm zu folgen.

Da der Capitän gar nicht weit vor ihm sein konnte, so steckte er die Laterne in die Tasche, und schritt im Dunkeln weiter. Nur zuweilen zog er sie ein klein Wenig heraus, um einen schnellen Lichtblitz auf seinen Weg fallen zu lassen, und sich dadurch zu vergewissern, daß er keiner Gefahr entgegengehe.

So kam er, da er sich mit beiden Händen an den Seitenwänden stützen konnte, sehr schnell vorwärts, und sah schließlich einen Lichtschein vor sich auftauchen. Da vorn ging der Capitän. Müller trat so leise wie möglich auf, um nicht gehört zu werden, konnte aber die Schritte des Alten, dem er sich immer mehr näherte, ganz deutlich vernehmen.

Auf diese Weise hatte er eine weite, weite Strecke zurückgelegt, als er fühlte, daß die Wände jetzt aus harten Steinen bestanden. Er befand sich jedenfalls unter dem Schlosse. Und nun blieb auch der Alte längere Zeit an einem Punkte halten, von welchem aus sein Licht nach oben verschwand.

Bis ungefähr dorthin folgte Müller im Dunkeln. Dann zog er seine Laterne hervor. Er bemerkte beim Scheine derselben, daß er sich in einem eigenthümlich angelegten Gemäuer befand, von welchem aus schmale Treppen nach mehreren Seiten emporführten. Er erkannte sofort, daß hier alle geheimen Gänge des alten Schlosses zusammenstießen; es mußte da eine große Anzahl Doppelmauern geben.

Noch hörte er die Schritte des Alten über sich. Er folgte ihm mehrere Stockwerke hoch auf einer nur zwei Fuß breiten Treppe, bis er plötzlich einen sehr hellen Lichtfleck vor sich sah und zwei Stimmen hörte, welche mit einander sprachen. Er steckte seine Laterne ein und schlich näher. Je näher er kam, desto deutlicher erkannte er die Stimmen; es waren diejenigen des Capitäns und des Directors.

Die helle, viereckige Lichtstelle fiel durch eine Oeffnung in der Seitenmauer. Müller wagte es, sich bis an den Rand dieser Oeffnung heranzuschleichen, und konnte nun die ganze Scene überblicken.

Er befand sich hinter einer Wand des Zimmers, welches der Director bewohnte. Dieses Zimmer war mit Eichenholz getäfelt, und ein Fach der Täfelung bildete eine geheime Thür, welche jetzt geöffnet war. Der Director stand mit sichtlich erschrockenem Gesicht vor dem Alten, der durch die Mauer erschienen war wie ein Geist. Der Director konnte sich dies nicht erklären.

»Ueberwinden Sie Ihren Schreck! Sie sehen ja, daß ich kein Gespenst bin.«

Diese Worte des Capitäns waren die ersten, welche Müller deutlich hörte.

»Aber, gnädiger Herr, wie kommen Sie zu mir?« stammelte der Director.

»Durch diese geheime Thür. Sie sehen es ja!« antwortete der Alte. »Ich habe es vorgezogen, auf diesem ungewöhnlichen Wege zu erscheinen, weil auf diese Weise von Niemand bemerkt wird, daß wir so spät noch eine Unterredung haben. Sie ahnen, über welchen Gegenstand?«

»Ich möchte doch lieber vorher nach demselben fragen, gnädiger Herr!«

»Schön! Aber setzen Sie sich, Herr Director; Sie zittern ja am ganzen Körper! Was ists mit Ihnen?«

Seine Worte klangen gar nicht zornig oder höhnisch, wie man hätte erwarten können; sie waren sogar in einem theilnehmenden Tone ausgesprochen.

»O, es ist ja nur der Schreck, der mich überfiel, als diese Wand sich theilte, und Sie hereintraten. So etwas erwartet man doch nicht.«

»Ich kann allerdings begreifen, daß Sie erschrocken sind. Welcher Schreck war denn übrigens größer, der jetzige, oder der unten im Garten?«

»Gnädiger Herr –« stammelte der Director, blieb aber in der Rede stecken.

»Na, Sie waren ja im Garten! Nicht?«

»Allerdings,« gestand der Gefragte.

»Bei meiner Schwiegertochter?«

»Ja.«

Der Director wurde von Secunde zu Secunde bleicher. Der Alte schien dies nicht zu beachten. Er fuhr im freundlichsten Tone fort:

»Der heutige Tag ist ein eigenthümlicher. Ich habe da mehr sprechen müssen, als sonst in einem Monat und Sie wissen ja, daß ich das nicht liebe. Aber es giebt Dinge, welche man nicht unbesprochen liegen lassen kann. Warum liefen Sie denn eigentlich im Garten davon, Herr Director?«

»Weil – weil – ich dachte –« stammelte der Gefragte in höchster Verlegenheit.

»Weil Sie dachten, ich könne diese Scene einer falschen Deutung unterwerfen, meinen Sie? Nun, die Frau Baronin hat mich aufgeklärt. Sie hat den Abend genießen wollen, und Sie sind aus ganz demselben Grunde nach dem Garten gegangen. Meine Frau Tochter ist über Ihr Erscheinen so erschrocken gewesen, daß sie in Ohnmacht fiel, und Sie haben sich ihrer ritterlich angenommen. Das hat sie mir erzählt, als Sie fort waren.«

Dem Director fiel bei diesen Worten ein schwerer Stein vom Herzen. Der Alte fuhr fort:

»Ich will gestehen, daß ich Ihnen für einen Augenblick lang im Herzen Unrecht gethan habe; aber daran war Ihre plötzliche, unmotivirte Flucht schuld. Warum rissen Sie aus? Das mußte doch Verdacht erwecken! Ich bitte Ihnen hiermit meinen Verdacht ab und werde ihn sogleich gut machen. Haben Sie Papier bei der Hand?«

»Genug,« antwortete der Director aufathmend.

»So nehmen Sie einen halben Bogen und fertigen Sie mir das Blanquet einer Quittung aus. Ich habe Ihnen heute eine Gratification versprochen. Wo ist das Geld, welches Sie wieder mit fortnehmen mußten?«

»Hier, in meinem Schreibtische.«

»Zählen Sie es auf!«

Müller sah, daß der Director das Geld aus dem verschlossenen Fache nahm, und da es mit lauter Stimme aufgezählt wurde, so hörte er es deutlich, wie viel es war. Es waren die beiden Summen, von denen der Director heute gesprochen hatte. Dieser Letztere bemerkte am Schlusse:

»Diese beiden Firmen sind stets so vorsichtig, die Nummern ihrer Noten einzutragen und die Letzteren außerdem zu zeichnen. Sie sehen auf jeder einzelnen die betreffenden Buchstaben, gnädiger Herr.«

»Das mag für gewisse Fälle gut sein,« meinte der Veteran trocken. »Doch nun das Blanquet, Herr Director!«

»Warum Blanquet, gnädiger Herr? Wollen Sie nicht die Gewogenheit haben, das Document gleich fertigen zu lassen?«

»Ich habe mich noch nicht entschlossen, welche Summe ich Ihnen aussetzen werde. Ich will erst morgen nachsehen, was und wie in den letzten Tagen gearbeitet worden ist. Setzen Sie einfach das Datum, nämlich das heutige, unten in die linke und Ihren Namen in die rechte Ecke.«

»Ganz wie Sie befehlen, Herr Capitän!«

Er schrieb Namen und Datum in die beiden Ecken und reichte dann das Blatt dem Alten hin. Dieser betrachtete die Unterschrift genau und sagte sodann in einem ganz und gar veränderten Tone:

»So, das genügt, freilich nicht, Sie zu belohnen, sondern Sie zu bestrafen!«

Der Director blickte ihn überrascht an und fragte:

»Bestrafen? Verstehe ich recht, gnädiger Herr?«

»Sie haben ganz und gar richtig gehört. Sie sollen bestraft werden, sagte ich.«

»Wofür?«

»Erstens dafür, daß Sie es wagen, Ihre Hand nach der Baronin auszustrecken.«

»Ah, Sie haben doch soeben selbst gesagt, daß die Frau Baronin so gnädig gewesen sei, Sie über die Situation aufzuklären.«

»Hm, sie hat es freilich versucht, aber ich bin nicht der Mann, der sich von einem Weibe betrügen läßt. Ich weiß Alles, Alles, mein Herr!« lachte der Alte höhnisch.

Der Director erbleichte, als er die Mittheilung des Capitäns vernahm, versuchte aber dennoch, sich zu vertheidigen.

»Da muß ein großer, beklagenswerther Irrthum vorwalten, Herr Capitän.«

»O, nicht im Geringsten! Ich habe hinter der Bank gestanden und Ihre ganze Unterhaltung mit angehört. Uebrigens sehen Sie jetzt, daß ich geheime Gänge und Beobachtungspunkte habe. So gelang es mir, alle Zusammenkünfte, welche Sie mit dieser Baronin in deren Boudoir hatten, zu belauschen.«

Der Director sank auf den Stuhl zurück und schloß vor Schreck die Augen.

»Noch heute Früh,« fuhr der Alte in strengstem Tone fort, »hörte ich, daß Sie sich für den Abend in den Park bestellten. Ebenso verstand ich jedes Wort, was Sie über mich sprachen. Ich brachte da zum Beispiel in Erfahrung, daß Sie nur durch die Liebe zur Baronin in Ihrer gegenwärtigen Stellung festgehalten werden. Sagen Sie da gefälligst selbst, ob dies Belohnung oder Strafe verdient?«

»Gnädiger Herr,« rief da der Mann entsetzt, »ich habe Ihnen treu gedient; ich bin es gewesen, der Ihr Etablissement zu dem gemacht hat, was es ist!«

»Treu gedient? Hahaha! Hier kommt das Zweite, wofür ich Sie bestrafen muß!«

»Was ist es?« fragte der Director voller Angst. Er kannte den Alten; er wußte, daß bei ihm von Nachsicht keine Rede sei. Er begann, Alles zu befürchten.

»Da ich hörte, daß Sie nur durch die Baronin festgehalten werden, so hatte ich das Recht, Ihnen zu mißtrauen. Ich beschloß also, Ihre Effecten zu durchsuchen.«

»Ah! Sie hatten kein Recht dazu!«

Jetzt gewann der Director seinen Muth wieder. Sie standen sich Mann und Mann gegenüber; da war Einer so viel werth wie der Andere. Er beschloß, sich zu wehren.

»Schweigen Sie!« gebot der Alte. »Sie sehen, daß ich heimlich in Ihre Wohnung treten kann. Sie wissen ferner, daß Sie kein Eigenthum hier besitzen, daß alle diese Möbels mir gehören. Ich habe zu ihnen, selbst zu den geheimen Fächern, Doppelschlüssel. Während Sie im Parke Ihre Courtisane erwarteten, trat ich durch diese Thür in Ihre Wohnung ein, und durchsuchte die geheimen Fächer Ihres Schreibtisches. Wissen Sie, was ich gefunden habe?«

Der Director erkannte, daß ein Leugnen gar nichts helfen könne. Am Besten war hier die Frechheit am Platze; darum trat er auf den Alten zu und sagte drohend:

»Sie haben es wirklich gewagt, in meine Wohnung einzudringen?«

»Allerdings!« lachte der Veteran. »Haben Sie Etwas dagegen, Monsieur?«

»Das wird sich finden! Nun, was haben Sie denn entdeckt, Herr Capitän?«

»O, Verschiedenes! Aber ich will Ihnen nur das Eine vorlesen!«

Er zog einen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las:

»Herrn Fabrikdirector Metroy in Ortry.

»Auf hohen Befehl ist Ihnen mitzutheilen, daß man nicht gesonnen sein kann, von Ihrer Offerte Gebrauch zu machen. Wenn es in Frankreich wirklich geheime Waffenplätze giebt, welche angelegt werden, um Franctireurs und andere Rotten auszurüsten, so kann dies eine Regierung nicht wankend machen, welche mit Ihrem Kaiser im besten Einvernehmen steht.

»Wir sehen übrigens auch davon ab, Ihren Behörden von Ihrem Anerbieten irgend welche Mittheilung zu machen, werden jedoch Ihr Schreiben für spätere Fälle bei uns in sorgsame Verwahrung nehmen.«

Die Augen des Capitäns funkelten, als er diesen Brief, dessen Unterschrift er nicht mit vorgelesen hatte, wieder in die Tasche steckte. Er knirschte:

»Sie haben also unser glorreiches Unternehmen für schnödes Geld verrathen wollen!«

»Nur aus dem Grunde, weil Sie knausern, und mich nicht bezahlen wollen,« antwortete der Director.

»Sie gestehen es also ein?«

»Warum nicht?« fragte der Mann, indem er gleichmüthig die Achseln zuckte.

»Ah, wissen Sie, daß ich der Arrangeur des ganzen Werkes bin? Daß Alle mir Treue geschworen haben, und daß ich jede Untreue bestrafen werde?«

»Pah, mich können Sie nicht bestrafen!« lachte der Director.

»Warum nicht?«

»Weil Ihr ganzes Lager sich in meiner Hand befindet. Sie haben mich vorhin erschreckt, weil ich mich wirklich schuldig fühlte, aber dieser Schreck hat nicht lange gedauert. Sie glauben, mein Meister zu sein, aber ich bin der Ihrige. Ich habe mich vorgesehen. Was verstehen Sie von Chemie, von Galvanismus, von Electricität! Dieses Zimmer steht mit den Eisenwerken und dem Lagerraume in electrischer Verbindung. Es bedarf nur eines einzigen Griffes, eines leisen Druckes, so fliegt Alles in die Luft, Ihre Fabriken und Ihre sämmtlichen Vorräthe. Dann mögen Sie Ihre Franctireurs gegen Deutschland bewaffnen, wenn Sie können!«

»Alle Teufel!« rief der Alte, welcher doch gewaltig erschrak.

»Sie sehen jetzt, wie die Sachen stehen,« fuhr der Director in stolzem Tone fort, denn er war überzeugt, daß jetzt er es sei, der die Trümpfe in der Hand hielt. »lch mag mit Ihnen nichts mehr zu thun haben, da aber das Werk zum großen Theil auch das meinige ist, so möchte ich es nicht gern zerstören. Als ich mein Geheimniß dem Feinde zum Verkaufe anbot, war es mir darum zu thun, meine Mühen anständig belohnt zu erhalten. Zahlen Sie mir das, was ich von Denen da drüben gefordert habe, so will ich zufrieden sein, und Sie mit dem Versprechen verlassen, von jeder Feindseligkeit abzusehen. Ich habe Ihnen meine Kenntnisse und Erfahrungen geliehen; ich habe Tag und Nacht gearbeitet; ich darf auch meine Gratification verlangen.«

Die Augen des Alten zogen sich zusammen, und sein Schnurrbart stieg empor, um die Zähne sehen zu lassen, aber er beherrschte sich und fragte im möglichst ruhigen Tone:

»Welchen Preis haben Sie von den Deutschen verlangt?«

»Pah, wenig genug! Nur hunderttausend Francs. Sie werden ihre Knauserei mit vielen tausend Leben bezahlen müssen, falls Sie sich entschließen, diese Summe zu bezahlen.«

»Ich hoffe das; ich hoffe es! Es kommt die Zeit, in der wir einfordern werden, was diese Blücher's, Gneisenau's und York's von uns liehen! Also meine Eisenwerke stehen wirklich mit diesem Zimmer in electrischer Verbindung?«

»Ja. Ein Druck von mir, und der electrische Funke entzündet unsere ganzen Pulver- und Dynamitvorräthe.«

»Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mir die Wahrheit sagen?«

»Ich gebe es. Sobald ich die Summe in den Händen habe, werde ich Ihnen die Leitung zeigen, damit sie zerstört werden kann.«

»O nein, Sie sind gegenwärtig ein verzweifelter Mensch. Wie nun, wenn ich Ihnen die Hunderttausend zahle, und Sie sprengen dennoch Alles in die Luft?«

»Mein Ehrenwort muß Ihnen Bürgschaft sein, daß ich es nicht thue.«

»Hm! Wenn man es nur glauben dürfte!« Er nahm eine sehr nachdenkliche Miene an, aber seine Augen glänzten in einem unheimlichen Lichte. Dann fügte er hinzu: »Es ist eine Summe, die gegenwärtig fast über meine Kräfte geht; doch, um das Unternehmen zu retten – hm! Die allgemeine Kasse müßte mit beitragen.«

Dabei gingen seine Blicke unbemerkt suchend im Zimmer herum. Wenn sich wirklich ein geheimer Apparat hier im Zimmer befand, so konnte er sich nur im Kleidersecretär oder überhaupt in der Nähe der hinteren Wand des Zimmers befinden; denn eine Leitung an der vorderen, offenen Front des Schlosses frei hinunter zu legen, das wäre ja unvorsichtig gewesen, da sie dort sofort entdeckt werden mußte. Es galt also, den Director in der Nähe des Fensters zu halten. Dort stand der Schreibtisch, dessen sämmtliche Kästen und Fächer vom Capitän heute durchsucht worden waren; dort war nichts zu fürchten.

Der Alte setzte sich an den Schreibtisch, nahm das Blanquet aus der Tasche, in welche er es vorhin gesteckt hatte, und sagte unter heftigem Zucken seiner Schnurrbartspitzen:

»Wie die Arbeit, so der Lohn. Sie sollen Ihren Willen haben!«

»Sie wollen mir die Hunderttausend geben?« fragte der Director erfreut.

Der Alte nickte mit dem Kopfe und antwortete:

»Ich werde Ihnen zahlen, was Sie verdienen. Lesen Sie nachher selbst. Ihre Quittung steht ja bereits darunter.«

Er griff nach der Feder, um das Blanquet auszufüllen. Als er damit fertig war, erkundigte er sich noch:

»Haben Sie unser Geheimniß sonst noch Jemandem angeboten?«

»Nein.«

»Haben Sie bei dieser einzigen Offerte eine Andeutung gemacht, aus welcher man errathen könnte, wo unsere Vorräthe zu finden sein dürften?«

»Halten Sie mich für einen Dummkopf? Meinen Zeilen nach muß man das Lager in der Nähe von Straßburg vermuthen.«

Müller hörte jedes Wort. Er wußte am Besten, daß diese Ansicht des Directors eine völlig falsche sei. Der Alte schien befriedigt; er trat vom Schreibtische fort, auf welchem er das ausgefüllte Blanquet liegen ließ, deutete auf dasselbe und sagte:

»So sind wir einig. Gehen Sie her und lesen Siel«

Er schritt langsam nach dem hinteren Raume des Zimmers, um denselben zu bewachen, da er dort die electrische Leitung vermuthen mußte. Der Director war ebenso erstaunt wie erfreut, den Alten so leicht besiegt und zur Zahlung einer solchen immerhin bedeutenden Summe gezwungen zu haben. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm das Document in die Hand. Dies that er natürlich in der sicheren Meinung, daß es eine Quittung auf Hunderttausend Francs enthalte; zu seinem Erstaunen jedoch las er folgende Zeilen:

»Ich bescheinige hiermit voller Reue und der Wahrheit gemäß, daß ich die heute an meinen Principal auszuzahlenden beiden Summen drückender Schulden halber unterschlagen und zu meinem Nutzen verwendet habe. Möge Gott mir verzeihen, daß ich mit diesem Verbrechen aus dem Leben gehe!«

Darunter stand das Datum und sein Name, welches Beides er bereits vorhin unterzeichnet hatte. Er war einen Augenblick völlig starr vor Erstaunen, dann fragte er:

»Was soll dies heißen, Herr Capitän?«

»Daß ich dennoch Ihr Meister bin, Sie aber nicht der meinige,« lachte der Gefragte höhnisch, »obgleich Sie vorhin das Gegentheil behaupteten. Sie werden keinen Sou erhalten; Sie werden Ihren Verrath und die Verführung der Baronin büßen ganz so, wie ich es mir heute Morgen vorgenommen hatte!«

»Und Sie meinen, ich sollte mich vor Wuth darüber ersaufen oder vergiften?«

»Das wird sich finden!«

»Da irren Sie sich! Sie sind ein Lügner, ein Schurke! Ich werde Ihnen beweisen, daß ich Sie in Hinsicht auf die electrische Leitung nicht getäuscht habe. Ich frage Sie zum letzten Male: Wollen Sie die Hunderttausend bezahlen oder nicht?«

»Keinen einzigen Franken, keinen Sou!«

»So passen Sie auf, wie es krachen wird!«

Er sprang nach dem hinteren Theil des Zimmers, wo der Capitän stand.

»Ja, passen Sie auf, wie es krachen wird!« antwortete dieser. »Aber nicht meine Eisenwerke werden in die Luft gehen, sondern Ihr dummer Kopf!«

Er hatte im Nu die Pistole hervorgezogen und drückte ab. Der Director stürzte mit zerschmettertem Schädel zu Boden. Der Mörder bückte sich zu ihm nieder, um sich zu überzeugen, daß er todt sei, und trat dann nochmals an den Schreibtisch, um das Document so zu legen, daß es sofort in die Augen fallen mußte. Das Geld hatte er bereits eingesteckt. Dann eilte er durch die verborgene Thür hinaus und brachte das Täfelwerk wieder in Ordnung.

Traf er dort den Deutschen an, welcher da gestanden und Alles gehört und gesehen hatte? Nein. Müller hatte natürlich keine Ahnung gehabt, daß diese Unterredung einen solchen Verlauf nehmen werde. Besonders der letzte Theil hatte sich mit einer so rapiden Schnelligkeit entwickelt, daß der Mord zehnfach schneller ausgeführt wurde, als er gelesen werden kann. Sollte der Deutsche beispringen, da nun doch nichts mehr zu ändern war? Nein; das wäre die allergrößte Unklugheit gewesen. Er mußte vor allen Dingen an seine Aufgabe denken; es galt zunächst, unbemerkt fortzukommen. Kaum war der Schuß gefallen, so riß Müller seine Laterne hervor und stieg in fliegender Eile die engen Treppen hinab, denn er sagte sich, daß auch der Capitän das Zimmer verlassen werde, da der Schuß ja alle Bewohner aus dem Schlafe wecken mußte.

Er kam glücklich da unten an, wo die geheimen Treppen alle zusammenführten, und eilte in großen Sprüngen den unterirdischen Gang entlang nach dem Parkhäuschen zu. Nachdem er dort den geheimen Eingang in Ordnung gebracht hatte, verlöschte er die Laterne, ohne welche eine so schnelle unterirdische Flucht eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und eilte dann dem Schlosse zu.

Dort angekommen, sah er, daß bereits viele Fenster erleuchtet waren, doch befand sich zu seiner Freude noch Niemand im Hofe. Er schwang sich am Blitzableiter empor. An den Fenstern der zweiten Etage angekommen, warf er einen Blick in das Zimmer des Capitäns. Dieser trat unter die Thür, mit ungekämmtem Haar und Bart, im Schlafrock, Nachthosen und Pantoffeln, das Nachtlicht in der Hand, und examinirte einen Diener. Wer ihn so sah, der schwor darauf, daß er direct aus dem Bette komme. Es wollte dem Deutschen vor diesem Alten grauen.

Er langte glücklich und unbemerkt auf dem Dache und dann auch in seinem Zimmer an, wo er sich schleunigst seiner Verkleidung entledigte und sich so anzog, daß er für einen aufgestörten Schläfer gehalten werden mußte, der in der Eile nur die allernöthigsten Kleidungsstücke angelegt hatte.

Er ging dann, um sich die Aufregung der Leute zu betrachten. Das Zimmer des Directors war voller Menschen, eben so der Platz vor demselben. Der Capitän hatte bereits nach den Herren von der Justiz geschickt, welche sich heute im Schlosse befanden. Diese kamen und fanden das letzte Schreiben des Todten.

Der Capitän wurde gefragt; er erklärte, daß er gar nicht wisse, daß Geld angekommen sei, man solle die Bücher nachschlagen. Der Thatbestand wurde sofort gerichtlich aufgenommen und die Leiche aus dem Schlosse geschafft. Dann suchte man die unterbrochene Ruhe wieder auf.

Auch die Baronin war vom Schusse erwacht und nach der Unglücksstätte geeilt. Doch mochte sie die Leiche nicht sehen. Der Tod dieses Mannes erschütterte sie, doch nur für einen Augenblick; im nächsten dachte sie bereits an den geheimnißvollen Officier, an dessen Herzen sie gelegen hatte. Als sie sich wieder nach ihrem Zimmer begeben wollte, traf sie auf der Treppe den Capitän. Da kein Mensch zugegen war, konnte er es nicht unterlassen, Ihr zuzurufen:

»Ein schöner Geliebter! Nicht, Madame?«

Sie wich von ihm zurück, streckte abwehrend beide Hände aus und sagte:

»Mörder! Aber es wird an den Tag kommen!«

Ein halblautes Hohnlachen war die Antwort des hart gesottenen Alten, der mit so kalter Berechnung ein Menschenleben vernichtet hatte. –

Was Müller betrifft, so konnte er lange Zeit keinen Schlaf finden. Dieser erste Tag auf Ortry war einer der ereignißreichsten seines Lebens gewesen. Erst die Unterredung mit der Wirthin, dann die Rettung Alexander's, sein Empfang, seine Probe, die Entdeckung des verborgenen Lauscherpostens in seinem Zimmer und des geheimen Einganges im Parkhäuschen, das Liebesabenteuer mit der Baronin und endlich die Mordscene in der Wohnung des Directors. Das war mehr als genug an einem Tage.

Am Meisten beschäftigte ihn die letzte Scene. Sollte er den Mörder anzeigen? Moralisch hatte er jedenfalls die Verpflichtung dazu; aber waren die Gründe der Klugheit nicht noch zwingender als diejenigen des moralischen Gewissens? Sollte er seine heutigen Errungenschaften alle opfern und das Gelingen seiner wichtigen Sendung zur Unmöglichkeit machen, um einen Todten zu rächen, dessen Leben nicht zurückgerufen werden konnte? Konnte er Marion's Großvater als Mörder an den Pranger stellen? Würde man seiner Aussage Glauben schenken? Er war ein verhaßter Deutscher und der Angeklagte ein Officier der berühmten Garde, ein Ritter der Ehrenlegion! Konnte er Beweise bringen? Man konnte sich zwar von dem Vorhandensein der geheimen Thür überzeugen, aber was weiter? Der sicherste Beweis wären die gezeichneten Banknoten gewesen; aber wo hatte der Alte sie versteckt? Er hatte sie dieser Zeichnung wegen ganz sicher da verborgen, wo man sie nicht finden konnte. Uebrigens war der Ermordete das Alles werth? Er war ein Feind Deutschlands gewesen und sodann ein Verräther seines eigenen Vaterlandes geworden.

Was war das doch für eine Familie, diese Sainte-Marie's! War Marion, die Heißgeliebte, wirklich edler als die Anderen?

Diese Gedanken gingen ihm wirr im Kopfe herum, bis er endlich einschlief; aber noch im Schlafe peinigten sie ihn, und als er erwachte, fühlte er sich mehr ermattet als gestärkt von der nächtlichen Ruhe.

Bereits am frühen Morgen war auch der Capitän wach. Er ließ mehrere seiner besten Leute aus der Fabrik kommen, um sie nach dem Torpedo suchen zu lassen, aber all' ihr Scharfsinn war vergebens. Es wurde dem alten, furchtlosen Manne doch ängstlich zu Muthe. Wenn irgend Jemand ganz nichtsahnend die verhängnißvolle Leitung berührte, so war das fürchterlichste Unglück unvermeidlich. Da kam ihm ein Gedanke:

»Dieser Monsieur Müller hatte so feine Censuren in allen Wissenschaften. Ob nicht er entdecken könnte, was die Anderen nicht zu finden vermögen?«

So dachte er, und ließ nach dem Deutschen schicken. Müller kam. Der Alte empfing ihn mit einer Freundlichkeit, welche bei ihm ganz ungewöhnlich war, und fragte:

»Monsieur, haben Sie auch Electrotechnik studirt?«

»Ein Wenig, gnädiger Herr,« antwortete der Gefragte, welcher sogleich ahnte, aus welchem Grunde diese Frage an ihn gestellt wurde.

»Wissen Sie, daß man Pulverminen vermittelst der Electricität entzünden kann?«

»Sehr wohl, Herr Capitän!«

»Ist eine solche Mine leicht zu zerstören, oder die Leitung leicht zu finden und zu vernichten?«

»Das kommt ganz auf die Umstände an. Ich habe als Techniker bereits öfters Glück gehabt,« antwortete er, und sagte damit die Wahrheit, da er früher bei dem Geniecorps gestanden hatte.

»Ah, Monsieur, da muß ich Ihnen Mittheilung machen! Sie haben diesen Director gekannt, welcher sich erschossen hat?«

»Nur höchst flüchtig gesehen.«

»Nun, dieser Mann hatte den schrecklichen Plan, meine Eisenwerke in die Luft zu sprengen. In seinem Zimmer soll sich die Leitung befinden. Sie ist jedoch nicht zu entdecken. Wollen Sie einmal Ihren Scharfsinn versuchen?«

»Ich stehe Ihnen sehr gern zu Diensten, gnädiger Herr.«

»So kommen Sie!«

Sie begaben sich mit einander nach der Wohnung des Verstorbenen. Es schauerte Müller, als er da eintrat. Die Blutflecke hatten zwar weggewaschen werden sollen, waren aber noch nicht gewichen. Dort befand sich die geheime Thür, und hier stand der Schreibtisch, auf welchem das schauerliche Ende des Todten unterschrieben worden war.

»Giebt es eine Leitung hier, so ist sie nicht vorn, sondern hinten zu suchen,« sagte Müller.

Der Alte nickte mit sehr zufriedener Miene und sagte:

»Ganz auch meine Meinung, Monsieur. Suchen Sie!«

Müller ließ den forschenden Blick umherschweifen, und trat dann schnell zu der altmodischen Lyoner Wanduhr, welche vom Fußboden an bis gerade zur Decke reichte. Sie hatte ein schwarzes, wurmzerfressenes Gehäuse.

»Sehen Sie etwas?« fragte der Alte.

»Ich glaube, etwas gefunden zu haben, will mich aber vorher überzeugen.«

Er schob den Tisch an die Uhr, setzte einen Stuhl auf denselben, und stieg dann auf den letzteren, so daß er zwischen der Decke des Zimmers und dem oberen Boden des Gehäuses hindurch zu blicken vermochte; dann zeigte er nach der Decke empor und fragte:

»Wer wohnt dort oben?«

»Der Hausmeister.«

»Ah, mein Vorgesetzter!« lächelte Müller. »Befindet er sich noch da?«

»Ja, er war ein guter Unterofficier und ein treuer Hausmeister. Sie haben ihm das Gesicht zerhauen; ich werde ihn wieder curiren lassen, obgleich ich mir gerade das Gegentheil ausbedungen habe.«

»Hätte ich gestern gewußt, was ich heute sehe, so hätte ich ihm nicht nur das Gesicht zerhauen, sondern den Kopf abgeschlagen. Er ist der Mitschuldige des Directors.«

»Donnerwetter, ist's möglich!« rief der Alte ganz erschrocken.

Müller öffnete die Thür der Uhr, blickte in das Gehäuse und antwortete:

»Gnädiger Herr, Ihre Eisenwerke, so schwer sie sind, haben wirklich an einem einzigen Haar gehangen, und das Leben Ihrer Arbeiter dazu. Bitte, treten Sie näher!«

Und als der Capitän herbeigetreten war, zeigte er mit dem Finger an die eine Seite des Gehäuses und fuhr fort:

»Sehen Sie das einzelne Pferdehaar, welches hier außen herunter hängt? Es ist bei der Schwärze der Uhr kaum von ihr zu unterscheiden.«

Der Alte streckte die Hand aus, um nach dem Haare zu greifen.

»Um Gotteswillen nicht anfassen!« rief Müller, indem er ihm die Hand fortstieß. »Ziehen Sie nur im Geringsten daran, so fliegt Ihre ganze Fabrik in die Luft!«

»Ah, wahrhaftig, ein Haar,« sagte der Veteran. »Es führt oben in den Kasten.«

»Und da ist es mit einem außerordentlich dünnen Kupferdraht verbunden, der erst oben durch das Gehäuse geht und dann durch die Zimmerdecke. Der Intendant hat mit dem Director im Einvernehmen gestanden. Lassen Sie uns zu ihm gehen!«

Der Alte folgte dieser Aufforderung mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Als sie die Treppe erstiegen hatten und oben eintraten, lag der Hausmeister in seinem Bette. Kein Mensch war bei ihm.

»Was soll das! Was will dieser Mensch bei mir?« rief er, als er mit seinem einen Auge den Deutschen erkannte.

»Das sollst Du Hallunke sogleich erfahren!« antwortete der Veteran. »Suchen Sie, Monsieur Müller!«

Müller kniete in der Ecke nieder, welche gerade über der Uhr des unteren Zimmers lag, suchte dann am Boden fort, öffnete das Fenster und blickte hinaus.

»Haben Sie es?« fragte der Capitän, brennend vor Ungeduld.

»Ja. Blicken Sie nur her, um sich selbst zu überzeugen! Hier in dieser Ecke tritt der Leitungsdraht in dieses Zimmer ein und geht unter der Dielenleiste längs der Wand bis an die Mauer der hinteren Schloßfronte. Hier ist ein dünnes Loch durch die Mauer gearbeitet, um den Draht hindurch zu lassen, der dann am Simse hin entlang der Fronte läuft. Ihn da anzulegen, hat viel Arbeit gekostet, zumal diese in aller Heimlichkeit vorgenommen werden mußte.«

Da konnte sich der grimmige Alte nicht länger halten. Er stürzte auf den Hausmeister zu, faßte ihn bei der Brust und donnerte ihn an:

»Hund, Kerl, wer hat Dir das gerathen?«

Das kam dem Manne so unerwartet, daß er unwillkürlich mit der Antwort herausplatzte:

»Der Director, gnädiger Herr!«

»Was hat er Dir geboten?«

»Fünftausend Franken.«

»Und Hunderttausend wollte er haben! Also für fünftausend Franken wolltest Du mich ruiniren und alle meine Leute morden! Heraus aus dem Bette! In das Gefängniß, wo Du hingehörst, Du Hallunke, Du – Du – Du Vorgesetzter Du!«

Der Alte wußte zwar nicht, was Müller mit diesem Worte gemeint hatte; aber er ahnte, daß eine negative Bedeutung mit demselben verbunden sei, und da er vor Wuth nichts anderes fand, so wendete er es an, um seinen ganzen Zorn auszudrücken.

Der Mann flehte jämmerlich, aber es half ihm nichts. Der Veteran klingelte einige Leute herbei, welche ihn ankleiden, fesseln und fortschaffen mußten. Erst nachdem dies geschehen war, wandte er sich wieder an Müller:

»Monsieur, Sie sind braver und klüger als das ganze Volk, welches ich bisher um mich hatte. Sie sind gerade nur zu unserer Rettung nach Ortry gekommen. Aber was nun?«

»Begeben wir uns nach unten, gnädiger Herr,« antwortete Müller, »damit wir sehen, wo der Draht in die Erde geht.«

Das thaten sie, und Müller fand, daß die Leitung unter einer Dachrinne herabgezogen war und hinter dem Rinnsteine in den Boden drang.

»Hier schneiden wir den Draht durch,« sagte er; »dann ist die hauptsächlichste Gefahr vorüber. Unter der Erde muß der Draht noch eine Umhüllung haben; er ist also stärker, so daß man ihm leicht folgen kann. In der Fabrik werden wir dann sehen, in welche gefährlichen Stoffe er geleitet wurde.«

Da antwortete der Capitän mit großer Schnelligkeit:

»So lange darf ich Sie nicht abhalten, Monsieur. Nun wir den Draht gefunden haben, ist das Uebrige leicht; dazu habe ich Arbeiter mehr als genug. Sie aber haben sich zunächst Alexander zu widmen.«

Müller verstand den Alten. Dieser wollte ihn, den Deutschen, nicht in das Getriebe seiner Pläne blicken, am Allerwenigsten aber ihm den aufgestapelten Munitionsvorrath sehen lassen. Er that, als ob er dies nicht ahne und kehrte in sein Zimmer zurück, zufrieden, den Beifall des Schloßherrn gefunden zu haben.

Dort suchte ihn Alexander auf, um ihn zu einem abermaligen Spaziergang aufzufordern. Müller willigte sehr gern ein, und unterwegs fand er, daß der Knabe sich immer fester an ihn schloß.

»Wissen Sie, Monsieur,« sagte Alexander, »daß man gezwungen ist, Sie lieb zu haben?«

»Warum?«

»Weil man Unglück hat, wenn man Sie haßt. Die Beiden, von denen Sie beleidigt wurden, sind bereits bestraft. Der Eine hat sich erschossen, und der Andere sitzt mit einer bösen Gesichtswunde im Gefängnisse. Ich werde die Leute warnen, Ihr Feind zu sein. Besonders werde ich dies Marion sagen.«

»Marion? Wer ist das?« fragte Müller, sich verstellend.

»Marion ist meine Schwester, meine halbe Schwester; aber sie ist doch so gut, als ob sie meine richtige Schwester wäre. Ich habe ihr sehr vielen Kummer bereitet; meist darum ging sie fort, denn ich verklagte sie immer bei Mama und dem Großpapa. Aber als ich gestern schlafen ging, da habe ich sehr lebhaft an sie gedacht, und da ist mir der Gedanke gekommen, daß ich recht schlimm gegen sie gewesen bin. Ich verspreche Ihnen, dies nie wieder zu thun, Monsieur!«

»Warum haben Sie denn gerade gestern diesen Gedanken gehabt?«

»Weil ich mit Ihnen spazieren gewesen bin. Sie predigen nicht; Sie geben keine guten Lehren, aber man fühlt bei Ihnen das, was Sie zu sagen unterlassen.«

Müller antwortete nicht, doch bückte er sich nieder und küßte den Knaben auf die Stirn. Er fühlte sich innerlich beglückt, diese Seele, welche bereits auf falsche Wege geführt worden war, bereits nach einem einzigen Tage gewonnen zu haben.

Sie drangen heute viel tiefer in den Forst ein, als gestern, tiefer und immer tiefer, bis sie auf ein Wirrsal von Felsen stießen, aus denen ein alter Thurm hervorragte.

»Was ist das für eine Ruine?« fragte Müller.

»Das ist Alt-Ortry gewesen,« antwortete Alexander. »Jetzt ist nur dieser eine Thurm noch übrig.«

»Wollen wir ihn nicht besteigen?«

»Ich möchte nicht.«

»Warum nicht?«

Der Knabe blickte ihm treuherzig in das Gesicht und antwortete:

»Weil ich auch hier nicht gut gewesen bin. Großpapa hat mir verboten, diese Ruine zu betreten, und doch habe ich es oft gethan. Nun aber möchte ich dies unterlassen. Aber wenn wir auch nicht hineingehen, das Grab können wir uns doch ansehen.«

Er wand sich zwischen den Felsen hindurch, und Müller folgte, bis sie vor einem Hügel standen, der, ungepflegt, mit allerlei Waldblumen bewachsen war. Daneben erhob sich ein mächtiger Felsblock, auf welchem die einfachen Worte: »Hier ruht Liama« kaum noch zu lesen waren.

»Diese Liama war die Mutter Marion's,« bemerkte Alexander. »Habe ich Ihnen übrigens bereits gesagt, daß Marion heute nach Hause kommt?«

»Noch nicht.«

»Ja, sie kommt. Wir hielten sie für todt, mit einem Dampfschiffe untergegangen; aber am frühen Morgen kam eine Depesche, daß sie am Mittag hier sein wird. Sie bringt eine Freundin mit.«

Der Knabe erzählte das in einem freundlichen, keineswegs aber herzlichen Tone. Die Bande dieser Familie waren ja sehr locker geschlungen.

»Wie wird man die gnädige Baronesse empfangen?« fragte Müller.

»Empfangen?« wiederholte Alexander verwundert. »Nun, die Diener werden ihr aus dem Wagen helfen, und dann geht sie nach ihrem Zimmer.«

»Ohne daß man sich freut, daß sie kommt, und ihr dieses sagt?«

Alexander sah ihn groß an und fragte dann:

»Ja, freut sie sich denn auf uns?«

»Gewiß sehr. Man müßte ihr nur zeigen, daß man sie liebt, daß sie willkommen ist.«

»Das möchte ich ihr sehr gern zeigen; aber wie soll ich es anfangen?«

Es that Müller sehr weh, daß das Herz dieses begabten Knaben so ganz unbepflanzt geblieben war. Er legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte:

»Ich wüßte wohl etwas sehr Schönes. Hat die Baronesse ihre Mutter lieb gehabt?«

»O, sehr. Sie ist sehr oft nach diesem Grabe gegangen.«

»So wollen wir von diesen Blumen pflücken, und sie in ihr Zimmer setzen, damit sie, sobald sie kommt, einen Gruß von der Mutter erhält.«

Die Augen des Knaben glänzten.

»Ja, das wollen wir thun. Aber Niemand darf es wissen, sonst zanken die Anderen.«

Und nun saßen die Beiden am Grabe der Heidin, und sammelten Blumen für Diejenige, der Beider Herzen entgegenschlugen, das Herz des Einen in erwachender Bruderliebe, das des Anderen aber im heißen, vollbewußten Verlangen nach der höchsten Seligkeit des Erdenlebens.

Es war fast Mittag geworden, als sie nach Hause kamen. Auf dem Felde zwischen dem Schlosse und dem Etablissement erblickten sie zahlreiche Arbeiter, welche beschäftigt waren, die Leitung aus dem Boden zu nehmen. Sie gingen zunächst nach Müller's Stübchen, um die Blumen zu zwei Bouquets zu ordnen. Dann schrieb Alexander auf ein Papier die Worte: »Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander.« Und hernach trug er selbst die Bouquets nebst der Widmung nach dem Zimmer der Erwarteten, neben welchem man ein anderes für die Freundin bestimmt hatte.

Der Deutsche hatte sich sein Frühstück auf seine Stube kommen lassen. Er war noch mit demselben beschäftigt, als ein Wagen zum Thore hereinrollte. Rasch trat er an das Fenster und blickte hinab. Ja, da stieg sie aus, die Herrliche. Sein Herz schlug ihm in der Brust, daß er es hören konnte. In welche Umgebung kam sie? Würde sie bleiben, oder dem kalten Leben wieder entfliehen?

Eben als Nanon ausstieg, kam der Capitän herbei. Er reichte der Enkelin einfach die Hand und machte ihrer Freundin eine Verbeugung.

»Das Frühstück ist servirt,« sagte er. »Kommen die Damen nach dem Speisesalon?«

»In einer Viertelstunde, lieber Großpapa,« antwortete Marion. »Wir müssen doch erst den Reisestaub abfegen.«

»Gut, so warten wir!«

Damit ging er davon.

Das war der ganze Empfang nach einer mehrjährgen Abwesenheit. Eine tiefe Bitterkeit wollte in Marion's Herzen emporsteigen, aber sie zwang dieselbe tapfer hinab. Auch Nanon hatte ein anderes Willkommen erwartet, doch hatte sie die Freundin viel zu lieb, als daß sie es sich hätte merken lassen mögen.

Eine Dienerin führte Beide in das Schloß. Sie begaben sich zunächst nach Marion's Stube. Dort war Alles noch so, wie diese es vor Jahren verlassen hatte. Aber da, da standen zwei Bouquets mit einfachen Waldblumen, und zwischen den beiden Vasen lag ein Zettel.

»Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander,« las die Baronesse, und sofort füllten ihre Augen sich mit Thränen. »Von meiner lieben, lieben Mama!« rief sie. »Und Alexander hat sie gepflückt, der garstige Alexander, wegen dessen ich aus Ortry geflohen bin. O, wie lieb will ich ihn dafür haben!«

Sie barg das thränenreiche Antlitz in die einfachen Blumen, und Nanon trat in das Nebenzimmer, um sie mit ihren Gefühlen allein zu lassen. Beide hatten nicht bemerkt, daß sie den Eingang offen gelassen hatten. Dort stand Alexander und hörte die Worte der Stiefschwester. Wie schön war sie! Fast kannte er sie nicht mehr. Er fühlte eine Art geschwisterlicher Ehrfurcht in seinem Herzen aufsteigen; dennoch aber schlich er leise näher und legte die Arme um sie.

»Marion!«

Sie drehte sich zu ihm herum und erkannte ihn.

»Alexander!«

Sie breitete die Arme aus, und dann lagen die Geschwister einander am Herzen. Dieser Augenblick hatte für Alexander's Gemüthsleben eine unendliche Bedeutung. Indem Müller ihm den Rath gegeben hatte, diese Blumen zu pflücken, hatte er mehr für ihn gethan, als wenn er ihm tausend Reden gehalten hätte. Marion küßte den Bruder und sagte:

»Wie freudig hast Du mich überrascht, mein guter Alexander!«

»Ein Gruß von Deiner Mama, sagte Monsieur Müller,« erklärte er.

»Monsieur Müller! Wer ist das?« fragte sie.

»Mein neuer Gouverneur, ein Deutscher.«

»Ein Deutscher? O, das glaube ich! Die Deutschen haben ein Herz; sie wissen, daß die Liebe das herrlichste Gut der Erde ist.«

»Ohne ihn hätte ich nicht an diese Blumen gedacht. Diese Freude haben wir ihm zu danken, liebe Marion. Er ist auch schuld, daß ich Dich von jetzt an recht lieb haben werde. Doch, komm zum Frühstück; Mama wird sonst bös!«

Ein Schatten flog über Marion's schönes Gesicht.

»Ich könnte auch bös sein darüber, daß sie mir nicht einmal Willkommen sagt. Aber da sie unsere Mama ist, will ich nicht klagen.«

Die beiden Freundinnen nahmen sich also nicht Zeit, ihre Koffer bringen zu lassen, um neue Kleider anzulegen; sie begaben sich nach dem Speisesaale.

Dort befand sich der Capitän mit der Baronin allein. Sie erhoben sich. Das Auge der Baronin fiel auf ihre Stieftochter, und sofort wurde ihr Gesicht blaß. Vor zwei Jahren war Marion fast noch Knospe gewesen, jetzt aber hatte sie sich zur vollen Rose entwickelt. Die Baronin erkannte, daß sie sich mit ihr nicht messen, nicht vergleichen könne. Der bereits früher gefühlte Haß bohrte sich in diesem Augenblicke unausrottbar tiefer ein. Dennoch aber trat sie ihr entgegen, um sie zu umarmen; aber diese Umarmung hatte ganz den Charakter eines Frohndienstes, den man so schnell wie möglich zu überwinden sucht.

Auch Nanon wurde von der Herrin des Hauses bewillkommnet; dann begann man, wortlos zuzulangen, bis der Capitän denn doch die Peinlichkeit dieser Stille fühlte und seinem schweigsamen Charakter Gewalt anthat, indem er fragte:

»Hast Du gehört, Marion, daß ein Moseldampfer untergegangen ist?«

»Ja,« antwortete sie, indem sie ihn groß und ernst anblickte.

»Ich glaube, Dir geschrieben zu haben, daß ich dieses Schiff benutzen würde. Ich erwartete eine Frage von Dir.«

»Warum? Ich sehe ja, daß Du mit einem anderen Schiffe gekommen bist. Was soll da die Frage nützen?«

»Woher weißt Du das, Großpapa?«

»Ich sehe es daraus, daß Du überhaupt angekommen bist. Wärest Du unglücklicherweise mit jenem Dampfer gefahren, so lebtest Du nicht mehr.«

»Wir sind Beide mit ihm gefahren. Wir wurden von zwei muthigen Männern gerettet.«

Das erregte denn doch das Interesse des Alten und der Baronin.

»Wirklich?« frug der Erstere rasch. »Erzähle, Marion!«

»Ja, erzähle!« bat auch die Letztere. Und mit gut gespielter Theilnahme fügte sie hinzu: »Mein Gott, wenn Du ertrunken wärest! Welch' ein Schreck, welch' ein Herzeleid!«

Alexander sprang auf. Er war wahrer als seine Mutter; er schlang seine Arme um Marion's Hals und rief:

»Hätte ich das gewußt, so wäre ich gekommen, um mit Dir vom Schiffe bis an das Ufer zu schwimmen!«

Sie liebkosete ihn und erzählte den Unfall in kurzen, aber ergreifenden Worten. Als sie geendet hatte, rief Alexander:

»Das waren zwei so muthige Männer wie mein Monsieur Müller, welcher mich vom Abgrunde hinweggerissen hat. Ich möchte sie wohl kennen lernen. Wie heißen sie?«

»Der Eine, welcher Nanon rettete, ist der Kräutersucher des Doctor Bertrand aus Thionville. Den Anderen, welcher mich an's Ufer brachte, kennen wir nicht. Er ging fort, ohne uns seinen Namen wissen zu lassen.«

Doctor Bertrand kannte zwar diesen Namen, aber er hatte vorgezogen, ihn nicht zu nennen. Er hatte jedenfalls im Sinne gehabt, den Damen eine Ueberraschung zu bereiten, wenn sie ihren Retter so unerwartet auf Ortry finden würden.

Während des weiteren Verlaufes des Frühstücks wurden die letzten Erlebnisse auf Schloß Ortry erwähnt, und dabei wurde Müller öfters genannt, ohne daß Marion ahnte, daß er und ihr Retter ein und dieselbe Person sei. Man saß noch bei Tafel, als sich unten im Hofe Pferdegetrappel hören ließ. Der Capitän trat an das Fenster und rief, sobald er einen Blick hingeworfen hatte:

»Besuch! Endlich kommt er; endlich ist er da!«

»Wer?« fragte die Baronin.

»Oberst Graf Rallion.«

»Ah, dem muß man entgegen gehen!«

Sie erhob sich in ungewöhnlicher Eile von ihrem Platze und verließ an der Seite des Alten den Speisesaal. Die beiden anderen Damen mußten der Höflichkeit wegen folgen, doch thaten sie es langsam. Auch Alexander schien sich nicht zu überstürzen.

»Er konnte bleiben, wo er war,« sagte er. »Ich liebe diesen Rallion nicht!«

Marion warf einen beinahe zufriedenen Blick auf ihn. Hatte er ihr vielleicht aus dem Herzen gesprochen?

Als sie den Schloßhof erreichten, wurde der Graf soeben vom Capitän und der Baronin mit ausgesuchtester Höflichkeit begrüßt. Er trat sodann zu den beiden Freundinnen, küßte ihnen die Hand und sagte:

»Verzeihung, daß ich gleich den ersten Tag Ihrer Anwesenheit auf Ortry benutze, mich nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen! Es giebt liebe Pflichten, deren Erfüllung man keine Secunde lang aufschieben möchte.«

Marion verneigte sich stumm, er wendete sich aber sogleich zu den Anderen und improvisirte eine Menge Artigkeiten, während deren man die Treppe emporstieg. In diesem Augenblicke kam Müller herab. Er blieb in unterthäniger Haltung stehen, um die Herrschaften vorüber zu lassen. Marion sah ihn und erstaunte freudig. Auch Rallion erblickte ihn. Seine Ueberraschung war so überwältigend, daß er ausrief:

» Morbleu, das ist ja gar der deutsche Billardtölpel! Was thut er hier?«

Alle erschraken und blickten auf den Beleidigten, was er thun werde. Dieser jedoch sah den Grafen gar nicht an; er machte den beiden jungen Damen eine Verbeugung und schritt vorüber.

Das Gesicht Marion's war wie mit Blut übergossen. Schämte sie sich der Rohheit des Grafen oder der Feigheit Müller's? Wer hätte dies wohl sagen können! Der Capitän zuckte verwundert die Achsel. Er konnte gar nicht begreifen, daß ein so ausgezeichneter Schütze und Fechter, wie Müller war, eine solche Blamage sich gefallen ließ. Als man den Saal erreichte, fragte der Oberst:

»Aber, lieber Capitän, was thut denn dieser Deutsche bei Ihnen?«

»Er ist der Gouverneur Alexander's,« antwortete der Gefragte.

» Fi donc! Da wird unser Alexander sehr viel lernen! Dieser Mann versteht weiter nichts, als Billards zu zerstoßen.«

Alexander biß sich auf die Lippen, um sich zum Schweigen zu zwingen, aber es gelang ihm nicht. Er blickte den Sprecher herausfordernd an und antwortete:

»Wissen Sie, daß dies sehr unhöflich von Ihnen ist? Wenn Herr Müller nur wollte, so würde er Ihnen beweisen, daß er mehr versteht, als Sie zu glauben scheinen. Er ist mein Lehrer, und ich erkläre, daß er außerdem mein Freund ist. Ich werde nicht dulden, daß man ihn beleidigt.«

Der Oberst blickte den jungen Menschen mit dem höchsten Erstaunen an. Bald aber spielte ein sarcastisches Lächeln um seine Lippen, und er antwortete:

»Ihr Freund? Ah, ich beneide ihn um einen so mächtigen Schutz, lieber Alexander!«

»Er bedarf zwar dieses Schutzes nicht,« sagte der Angeredete, »denn er ist selbst Mann genug, und steht als Mitbewohner unseres Hauses natürlich unter dem Schirm desselben, was jeder gebildete Mann respectiren wird; trotzdem aber werde ich keineswegs dulden, daß in einem unfreundlichen Tone von ihm gesprochen wird. Er hat mir das Leben gerettet; ich muß ihm dankbar sein!«

Marion warf einen Blick auf den Bruder, in welchem sich Erstaunen mit wohlwollender Anerkennung paarte. Im Gesichte seiner Mutter zeigte sich der deutlichste Stolz ausgesprochen, und sogar der Capitän zog seine Schnurrbartspitzen in einer Weise durch die Finger, in welcher sich eine Art Beifall zu erkennen gab. Der Oberst bemerkte dies; er schien sich darüber zu ärgern, denn er meinte unter einem höhnischen Lächeln:

»Das Leben gerettet? Hm, das ist etwas Anderes! Dieser Mensch scheint vom Zufalle bestimmt zu sein, aller Welt das Leben zu retten. Man möchte ihn beneiden!«

Da sagte Marion in einem Tone, welchem ein leichter Nachdruck anzuhören war:

»Ich möchte da keineswegs von Zufall sprechen. Er besitzt Muth und Entschlossenheit, zwei Eigenschaften, welche Anderen allerdings oft entgehen. Kein Wunder, daß diese Anderen dann allerdings zur Lebensrettung nicht bestimmt erscheinen.« Und nach diesen Worten, welche doch eine leichte Röthe der Scham in das Gesicht des Obersten brachten, fuhr sie, zum Capitän gewendet, fort: »Dieser Monsieur Müller ist es nämlich, welcher mit mir durch den Fluß geschwommen ist.«

»Wirklich?« frug der Alte erstaunt.

Das war jedoch auch das einzige Wort, welches er sagte. Seine Enkelin hatte sich in Todesgefahr befunden und war gerettet worden; ihr Retter war der neue Lehrer. Das wußte man nun. Was war da ein großes Aufhebens nothwendig? Der Capitän hatte seit gestern so viel sprechen müssen, daß es ihm heute nicht einfallen konnte, über diese Angelegenheit viele Worte zu verlieren. Die Baronin jedoch fühlte gar wohl die Verpflichtung, als Dame des Hauses wenigstens eine Bemerkung zu machen. Sie sagte im Tone des Erstaunens:

»Er ist auch das gewesen? Welch' ein Zufall. Man ist ihm wirklich zu Dank verpflichtet!«

Alexander ergriff die Hand der Schwester und rief aus:

»Auch Du verdankst ihm Dein Leben, meine liebe Marion? O, nun muß ich ihn noch einmal so lieb haben. Ich werde ihm nachgehen, um ihm dies mitzutheilen.«

Er sprang vom Stuhle auf und verließ den Saal, ohne sich von den Anderen halten zu lassen.

Es gelang ihm freilich nicht mehr, Müller zu Gesicht zu bekommen, denn dieser hatte das Schloß bereits verlassen, und schritt durch den Park dem Walde zu. Es trieb ihn hinaus in denselben aus verschiedenen Gründen. Er war jetzt noch Herr seiner Zeit; der Unterricht hatte noch nicht begonnen, und durch die Ankunft des Obersten waren die Schloßbewohner jedenfalls so in Anspruch genommen, daß seine Abwesenheit jedenfalls nicht mißfällig bemerkt werden konnte.

Er hatte Marion wieder gesehen, zwar nur auf einen Augenblick, aber dieser Augenblick hatte doch sein Herz erregt, so daß er die Einsamkeit suchte, um den süßen Gedanken an die Geliebte nachhängen zu können. Die Beleidigung, welche ihm von dem Obersten widerfahren war, hatte ihn wenig berührt. Er wußte, daß die Zeit kommen werde, in welcher er mit diesem Manne zusammen gerathen müsse, und er hielt sich für stark genug, diesen Zusammenprall siegreich auszuhalten.

So strich er langsam durch den Wald, nur mit seinen Gedanken beschäftigt, und wenig auf seine Umgebung achtend. Das Bild der Geliebten begleitete ihn. Er träumte mit offenen Augen. Er sah ihre herrliche Gestalt; er blickte in ihre köstlichen Augen; er hörte den seltenen Wohlklang ihrer Stimme, und es war ihm, als fühlte er ihren schwellenden Busen gerade so an seinem Herzen, wie in den Augenblicken, in denen er sie von der Mosel nach dem Meierhofe getragen hatte. Es verging Viertelstunde auf Viertelstunde; er achtete nicht darauf, denn für einen Menschen, dem unter den göttlichen Regungen einer gewaltigen, selbstlosen Liebe das Herz im Busen klopft, giebt es keine Zeit; er fühlt den Odem, den Hauch der Ewigkeit in der Brust.

Da hörte er plötzlich eine sehr bekannte Stimme neben sich:

»Ah, Herr Doctor! Grüß Sie Gott!«

Er blickte auf. Vor ihm auf dem schmalen Waldpfade stand sein Diener Fritz, der ihn unter einem freundlichen Lächeln mit seinen guten, treuen Augen betrachtete.

»Ah, Fritz, Du?« rief er. »Wie kommst Du in den Wald von Thionville her? So weit!«

»Der Herr Doctor haben wohl vergessen, daß ich jetzt Kräutersammler bin!« antwortete der Gefragte. »Wir sind heute in Thionville angekommen, und da war Doctor Bertrand so vernünftig, mich sofort auf die Suche zu schicken.«

»Du triffst mich zufällig?«

»Ja; gerade so, wie Sie mich,« lachte Fritz. »Sie kommen daher, die Augen am Boden, wie Einer, welcher Kräuter sammelt; und ich kam herbei, die Augen am Boden, wie Einer, dem eine gewisse Marion nicht aus dem Sinne will. Auf die Weise kann man sich ja nur zufällig treffen.«

Der treue Diener wußte ganz genau, daß er sich seinem Herrn gegenüber schon eine Bemerkung erlauben durfte. Und wirklich that Müller nicht im Geringsten so, als ob er diese Worte mißfällig aufnehmen möchte. Vielmehr überflog er die Gestalt Fritzens mit einem lustigen Blicke und sagte:

»Also wirklich bereits Kräutermann! Hast Du Talent dazu?«

»Famos, Herr Doctor!« Er nahm den Sack, welchen er auf der Achsel trug, herab, öffnete ihn und ließ Müller hineinsehen. »Da gucken Sie! Dieser Sack ist bereits zur Hälfte voll. Moos, Tannenzapfen, Farrenkraut, Eichenlaub, Gras und Kohlrübenblätter. Das macht den Sack rasch voll. Was aber der Apotheker damit anfangen wird, das ist mir ganz gleich. Doctor Bertrand meinte, ich sei vollständig Herr meiner Zeit, doch wenn es paßte, so sollte ich ihm Ehrenpreis und Pfeffermünze mitbringen; Véronique und Menthe poivrée nennen sie es hier in Frankreich; da ich aber weder Pfefferpreis noch Ehrenmünze kenne, so habe ich einstweilen Tannenzapfen und Kohlrübenblätter genommen. Es wird Niemand das Zeug trinken, und darum stirbt auch Niemand daran.«

Er band den Sack zu und warf ihn wieder über die Achsel. Müller meinte:

»Da hast Du einen sehr nachsichtigen Principal. Es kann ein Glück für uns sein, daß wir diesen Doctor Bertrand getroffen haben, obgleich es nicht mein Wunsch ist, meine Absichten von irgend Jemandem durchschauen zu lassen.«

»O, Bertrand ist sicher; er verdient Vertrauen,« behauptete Fritz. »Ich kenne ihn erst diese kurze Zeit, aber ich weiß bereits, daß er diese Franzosen haßt. Er muß irgend einen besonderen Grund haben, ihnen nicht gewogen zu sein. Er erräth freilich den Grund, der uns hierher geführt hat, aber ich möchte meinen Kopf zum Pfande geben, daß er uns förderlich, niemals aber hinderlich sein wird. Uebrigens ist es gut, daß ich Sie treffe. Ich habe ja meine Instructionen erst von Ihnen zu erwarten.«

»Ich kann sie Dir jetzt nur im Allgemeinen, nicht aber speciell geben.« Er trat in die angrenzenden Sträucher, um sich zu überzeugen, daß kein Lauscher vorhanden sei, kam dann zu Fritz zurück und fuhr fort: »Frankreichs Herrscher plant im Stillen einen Krieg mit uns; er betreibt seine Anstalten sehr geheim, denn er beabsichtigt, uns zu überrumpeln, so, daß seine Heeresmassen innerhalb einer Woche in Berlin sein können. Er glaubt, daß der Preußenhaß die Südstaaten abhalten werde, uns zu unterstützen, und wagt es, gerade hier an der Grenze riesige Vorbereitungen zu treffen, die es ihm ermöglichen, mit ungeahnter Wucht sich auf uns zu werfen. Diese Vorbereitungen müssen wir belauschen; wir müssen sie kennen lernen, um unsere Gegenzüge thun zu können. Einer der Concentrationspunkte dieser für uns so gefährlichen, geheimnißvollen Thätigkeit ist Ortry. Ich befinde mich hier, um zu beobachten, und Du sollst mich unterstützen. Das ist Alles, was ich Dir zu sagen habe.«

»Und das ist genug,« nickte Fritz, während über sein intelligentes Gesicht ein Zug heller Freude ging. »Ich bin ein Findelkind, ein einfacher Barbier- und Friseurgehilfe, aber ich will doch einmal sehen, ob ich nicht Augen habe, diesen klugen Großsprechern hinter die Karten zu gucken. Zeit genug habe ich ja dazu! Und ein Glück ist es, daß man mich nicht für einen Deutschen halten wird.«

»Wieso?«

»Nun, Doctor Bertrand hat mich als einen Schweizer aus Genf angemeldet. Sie wissen ja, daß ich zwei Jahre lang dort in Condition war, und mir so viel Französisch angeeignet habe, um für einen Genfer gelten zu können. Wie aber soll ich Ihnen mittheilen, was ich erfahre? Wo werde ich Sie treffen?«

»Du kannst mir schreiben, natürlich unter der Adresse des Doctor Andreas Müller. Wichtiges aber machen wir nur mündlich ab. Ich bewohne das oberste Zimmer des südwestlichen Eckthurmes des Schlosses. Von dort aus kann ich die große Linde, welche an der Straße von Thionville steht, deutlich erkennen. Lege Dich unter dieselbe, wenn Du mir Etwas zu sagen hast. Man wird denken, Du wollest Dich ausruhen, und ich sehe Dich genau durch mein Fernrohr. Du blickst durch das Deinige nach meinem Fenster, und sobald ich Dir mit einem weißen Tuche das Zeichen gegeben habe, daß ich Dich sehe, gehst Du hierher, wo wir uns jetzt befinden; wir treffen uns hier. Das kann natürlich nur am Tage sein.«

»Aber Abends?« fragte Fritz.

»Kannst Du mich in meiner Wohnung aufsuchen.«

»Man wird mich sehen.«

»Nein. Du wartest, bis Alles schläft, und versicherst Dich genau, daß Du nicht bemerkt werden kannst. Dann steigst Du an dem Blitzableiter der Mittelfront empor, kriechst über das Dach und klopfst leise an mein Fenster. Der Blitzableiter ist sehr fest, er hat auch mich bereits getragen.«

»Das ist bequem, und ich werde mir gleich morgen die Gelegenheit einmal ansehen.«

»Schließlich muß ich Dich auf den alten Thurm aufmerksam machen, welcher hier im Walde liegt –«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Ich werde Dir ihn jetzt zeigen. Man sagt nämlich, daß es dort umgehe; ich aber glaube, daß diese Geister von Fleisch und Blut sind. Ich kann des Nachts nur schwer das Schloß verlassen, und möchte doch gerade zu dieser Zeit den Thurm beobachten –«

»Gut, Herr Doctor, das werde ich also übernehmen,« meinte Fritz.

»Aber die Geister!« lächelte Müller.

»O, ich habe einen Revolver, mit dem man Geister bannen kann! Uebrigens thut es ein guter Prügel oder Knüppel wohl auch.«

»Jedenfalls. Doch wünsche ich nicht, daß Du Dich in Gefahr begiebst. Unsere Beobachtungen müssen sehr geheim geschehen; es wäre mir also lieb, wenn die Geister Dich gar nicht bemerkten.«

»Ganz wie Sie befehlen, Herr Doctor. Uebrigens ist es möglich, daß wir uns doch einmal in Gegenwart Anderer treffen, und wohl gar sprechen müssen. Wie habe ich mich da zu verhalten?«

»Wir kennen uns nicht, und reden nur französisch mit einander. Höchstens erinnern wir uns, einander während des Schiffbruches gesehen zu haben. Jetzt aber komm', ich muß Dir den Thurm zeigen!«

Sie gingen weiter, gerade durch den Wald, und gelangten an das Felsengewirr, in dessen Mitte die Ruine des Thurmes sich erhob. Diese war von keinem bedeutenden Durchmesser und erhob sich zu einer Höhe von ungefähr vierzig Ellen. Was über diese Höhe hinausgereicht hatte, war eingestürzt. Die Thür war schmal und nicht hoch. Das runde Gemäuer zeigte unten einige schmale, schießschartenähnliche Fensteröffnungen. Oben aber ragten noch einige hohe, mächtige Pfeiler in die Luft, zum sicheren Beweise, daß sich dort Gemächer mit großen Aussichtsfenstern befunden hatten. Diese Pfeiler standen ganz ohne Stütze auf der Ruinenkante, nur durch ihre eigene Schwere gehalten.

Die beiden Männer traten ein und bemerkten, daß eine Treppe zur Höhe führte. Dieselbe war sehr schwer zu ersteigen, denn die Stufen lagen voller Geröll, welches von oben herabgestürzt war. Dennoch arbeiteten sie sich empor. Oben angekommen, fanden sie nicht das Mindeste, welches ihnen die gehabte Mühe hätte belohnen können, und es zeigte sich auch nicht die leiseste Spur, daß dieser Ort in letzter Zeit von einem menschlichen Fuße betreten worden sei.

Sie stiegen wieder herab und untersuchten den unteren Theil des Thurmes. Auch hier lag Schutt in solcher Menge, daß es eine ungeheure Arbeit gewesen wäre, ihn wegzuräumen, um zu sehen, ob vielleicht eine weitere Treppe nach einem Keller führe.

»Die Gespenster haben sich keinen sehr bequemen Ort zur Wohnung erwählt,« meinte Fritz. »Wenn ich einmal nach meinem Tode spuken muß, so thue ich es sicher nicht ohne wenigstens ein Sopha und eine lange Pfeife. Ich bedaure sie!«

»So bedaure Dich mit ihnen!« antwortete Müller.

»Warum?«

»Weil dieser Thurm für einige Zeit Dein Wachtlokal sein wird. Auf Wohnlichkeit und Eleganz wirst Du verzichten müssen.«

»Ich nehme an, es geschieht im Dienste, und da darf man nicht wählerisch sein. Uebrigens werde ich mich sehr hüten, mich im Thurme selbst einzuquartieren. Hier giebt es nichts.

Wenn es wirklich nicht geheuer ist, so kommen die Geister von Außen herein, und darum werde ich mir da draußen ein Plätzchen suchen, von welchem aus ich den Eingang gut bewachen kann. Uebrigens sind es die ersten Gespenster, welche ich zu sehen bekomme. Ich kann sagen, daß ich mich herzlich auf sie freue.«

Müller wußte, daß diese Worte keine Unwahrheit enthielten. Fritz war ein muthiger, unerschrockener Kerl, der weder an Gespenster, noch an den Teufel glaubte. Was er sagte, war wirklich ganz aufrichtig gemeint. Darum antwortete sein Herr:

»Das sollst Du erfahren, sobald ich es selber weiß. Jetzt aber eile; es fallen bereits die Tropfen, und der Sturm hat sich bereits erhoben!«

Sie schieden. In nicht allzu großer Ferne lagen die Häuser eines Dorfes, nach welchem Fritz seine eiligen Schritte lenkte. Müller aber schlug die Richtung ein, aus welcher sie gekommen waren, da der Thurm in fast gerader Linie nach dem Schlosse lag und ihm also wirklich den gelegentlichsten Schutz vor dem Gewitter bot.

Der Sturm begann die Bäume zu erfassen. Die Wipfel rauschten und prasselten unter seinem gewaltigen Drucke. Ein helles, scharfes Heulen pfiff schneidend durch die Luft; es lagerte sich ringsum eine dichte Dunkelheit, die nur von dem Leuchten des Blitzes erhellt wurde. Ein fürchterlicher Donnerschlag machte die Erde erzittern, und dann war es, als habe dieser Schlag alle Wolken geöffnet.

Glücklicher Weise war Müller bereits in der Nähe des Thurmes angekommen. Er eilte zwischen den Felsen hindurch, trat ein und – wäre beinahe erschrocken zurückgewichen, denn vor ihm stand, von einem soeben niederfahrenden Blitze hell erleuchtet – Baronesse Marion.

»Entschuldigung, gnädiges Fräulein!« sagte er. »Ich wußte nicht, daß sich Jemand hier befindet.«

Sie konnten einander nicht erkennen. Das Dunkel des Wetters war hier im Thurme doppelt finster. Marion antwortete:

»Und auch ich glaubte, allein zu sein. Uebrigens haben Sie sich nicht zu entschuldigen. Der Wald steht einem Jeden offen.«

»Auch dieses Gebäude, Mademoiselle?«

»Gewiß. Warum sollen Sie nicht Schutz hier suchen dürfen, gerade so wie ich? Sind Sie naß geworden?«

»Nicht so, daß es werth sei, es zu erwähnen.«

»Auch ich bin trocken geblieben; der Thurm war ja ganz in der Nähe.«

Er ahnte, daß sie an dem Grab gewesen sei. Wie lieb mußte sie ihre Mutter haben! Die erste Stunde nach der Rückkehr galt der Ruhestätte der Todten.

»Sie waren allein im Walde?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie. »Aber der Regen wird wohl anhaltend sein; es scheint gerathen, es uns so bequem wie möglich zu machen.«

Sein Auge hatte sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und so bemerkte er, daß sie das Tuch, welches sie um ihre Schultern trug, abnahm und auf die Treppenstufe legte, um sich darauf zu setzen. Er blieb in ihrer Nähe stehen, indem er sich an die Mauer lehnte.

Draußen blitzte, donnerte und regnete es fort. Die beiden Menschen im Inneren des alten, verrufenen Thurmes beobachteten ein tiefes Schweigen, bis Marion endlich sagte:

»Es scheint, daß wir bestimmt sind, uns nur immer bei Sturm und Wetter zu begegnen. Das jetzige Gewitter ist allerdings nicht ganz so fürchterlich wie jenes, welches uns auf der Mosel traf.«

Was sollte er antworten? Er schwieg. Auch sie zögerte, fortzufahren, und erst nach einer längeren Pause sagte sie:

»Warum verschwanden Sie so schnell von dem Meierhofe?«

»Da ich Sie unter sicherem Schutze wußte, hatte ich keinen Grund, zu bleiben,« antwortete er.

Seine Worte hatten einen eigenthümlichen Klang, aus welchem deutlich die Absicht einer Beziehung zu hören war, die sie nicht sogleich zu errathen vermochte. Sie gab sich weiter keine Mühe, nachzudenken, sondern fuhr fort:

»Ich fand also nicht Gelegenheit, Ihnen Dank zu sagen. Erlauben Sie, daß ich dies jetzt nachhole, Herr Doctor!«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, diese schöne Hand, welche von einer solchen Weiße war, daß er sie trotz des herrschenden Dunkels ganz deutlich sehen konnte. Er legte seine Hand um ihre weichen, warmen Finger; er fühlte einen kräftigen Druck; sie zog die Hand nicht sogleich wieder zurück, sondern duldete seinen leisen Gegendruck; es war, als ob ein himmlisches Fluidum aus ihrer Hand in die seinige überströme und durch seinen ganzen Körper gehe; es war ihm, als ob die dumpfe Luft des Thurmes ganz plötzlich mit erquickendem Balsam geschwängert sei, er fühlte deutlich, daß sein Arm und seine Hand vor Wonne zitterte. Seine Finger legten sich, trotz aller Anstrengung, sich zu beherrschen, nochmals innig um die ihrigen – aber da zog sie schnell ihre Hand zurück. Zürnte sie ihm? Nein; denn im Tone ihrer Stimme lag nicht der leiseste Vorwurf, als sie jetzt sagte.

»Ich erkundigte mich natürlich nach Ihnen, konnte aber leider nicht erfahren, wer Sie sind. Zwar schien es mir, als seien Sie dem Doctor Bertrand nicht ganz unbekannt, doch war derselbe sehr wortkarg. Um so mehr war ich heute verwundert, Sie als Gouverneur meines Bruders auf Schloß Ortry zu sehen. Kannten Sie mich bereits auf dem Schiffe?«

»Ja,« antwortete er, da es ihm unmöglich war, hier eine Unwahrheit zu sagen.

»Warum ließen Sie mich nicht wissen, daß wir uns wiedersehen würden?«

»Es gab keine Gelegenheit dazu,« versuchte er, sich zu entschuldigen.

»Das mag sein,« antwortete sie mit heller Stimme. »Um so mehr freut es mich, Sie bei uns zu wissen. Ich kann natürlich noch nicht fragen, ob es Ihnen bei uns gefällt, denn Sie sind zu kurze Zeit hier; aber ich bitte Sie dringend, Kleinigkeiten zu überwinden, um der Liebe willen, welche Sie sich bei Alexander bereits erworben haben. Er hat mir mit wirklicher Begeisterung von der Probe erzählt, welcher Sie von Seiten meines Großpapa's unterworfen wurden, und dieser Letztere selbst gestand mir ein, daß Sie ein ausgezeichneter Fechter, Schütze und Reiter seien. Darum wundert es mich doppelt, daß – daß –«

Sie hielt inne, und darum sagte Müller nach einem Weilchen:

»Bitte, fahren Sie fort, gnädiges Fräulein!«

Sie folgte seiner Aufforderung, indem sie erklärte:

»Es wundert mich, daß Ihnen eine Fertigkeit fremd ist, welche fast jeder Mann besitzt.«

»Welche?«

»Diejenige des Billardspieles. Oberst Rallion erzählte nach Tische eine Begebenheit, welche dies zu beweisen scheint. Uebrigens,« fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sagen Sie mir doch einmal aufrichtig, warum Sie die Beleidigung dieses Herrn so ruhig hinnahmen!«

Wäre es lichter gewesen, so hätte sie sehen können, daß ein eigenthümliches Wetterleuchten über sein Gesicht ging. Er antwortete:

»Darf ich nicht bitten, mir die Antwort zu erlassen?«

»Warum?« sagte sie rasch. »Fürchten Sie sich vor ihm?«

Er schwieg. Sie sah, daß er langsam unter die Thür des Thurmes trat, obgleich der Sturm die schweren Regentropfen hereintrieb. Sie erkannte, daß er eine mächtige, innerliche Empfindung unterdrücken müsse, ehe er ihr antwortete. So blieb er lange stehen. Der Donner rollte fort; der Orcan heulte; Müller wurde vollständig durchnäßt und schien es doch nicht zu bemerken. Da wurde ihr fast ängstlich zu Muthe; sie erhob sich, berührte seinen Arm und fragte:

»Warum antworten Sie mir nicht?«

Jetzt endlich drehte er sich um; sie fühlte, daß er ihre Hand von sich schüttelte; dann sagte er:

»Weil in Ihren Worten eine größere Beleidigung lag, als in denen des Obersten. Aber pah, ich bin ja nur ein simpler Hauslehrer, welcher sein Salair bezieht!«

»Sie irren, Herr Doctor. Ich wollte Sie nicht beleidigen,« erklärte sie hastig und mit tiefer Stimme. »Sie sind mein Retter und auch der Retter meines Bruders; wie sollte ich Sie kränken wollen! Uebrigens stehen wir uns vollständig gleichwerthig gegenüber. Nur der Zufall ließ mich von Adel sein; Sie aber haben Ihre Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen Ihrem Fleiße zu verdanken. Der Bruder soll von Ihnen lernen; sagen Sie selbst, ob dies Ihren Werth für uns vermindern oder vergrößern muß!«

Sie hatte im dringlichsten Tone gesprochen; Müller mußte fühlen, daß ihr sehr daran lag, von ihm nicht falsch beurtheilt zu werden. Das erfüllte ihn mit Seligkeit. Sie fügte hinzu:

»Ich hatte keinen Grund zu meiner Frage, als den, Ihnen anzudeuten, daß ich mich gefreut hätte, Sie auch dem Obersten gegenüber als Mann zu sehen, als welchen ich Sie kennen lernte. Als ich mich in Gefahr befand, war er nur auf seine eigene Rettung bedacht. Als er den kleinlichen Muth hatte, Sie zu beleidigen, gingen Sie schweigsam fort. Sagen Sie selbst, ob mir dies nicht auffallen muß!«

Sie suchte sich zu entschuldigen. Sie sagte ihm mit deutlichen Worten, daß es ihr lieber gewesen, den Obersten gehörig zurückgewiesen zu sehen. Wie wohl that dies dem Herzen Müller's! Wie entzückt war er darüber! Er hätte seine Arme um sie legen mögen, um ihr dafür zu danken, wie man der Geliebten dankt für das Glück, welches ihre Worte in das Herz des Mannes pflanzen. Er erklärte ihr:

»Ich hätte ihm nur mit der Waffe, nicht aber mit Worten antworten können!«

»Nun, warum thaten Sie das nicht?«

»Weil es für meinen Gegner keine Kleinigkeit ist, sich mit mir zu schlagen.«

Er sagte diese Worte in aller Ruhe und Bescheidenheit, sie aber fühlte und glaubte, daß sie kein fades Eigenlob enthielten. Dennoch sagte sie:

»Das ist zwar gut für Sie, darf Sie aber nicht veranlassen, sich ungestraft beleidigen und blamiren zu lassen!«

Da trat er näher an sie heran, und fragte in einem Tone, der tief eindringlich klang:

»So wünschen Sie, daß ich Ihnen den Bräutigam tödte?«

Sie wich hastig einen Schritt zurück und erkundigte sich:

»So haben Sie nur meinetwegen von einer Bestrafung des Obersten abgesehen?«

»Allerdings!«

»Das war ganz und gar nicht nöthig. Wer hat Ihnen gesagt, daß er mein Bräutigam ist?«

»Er selbst hat sich dessen öffentlich gerühmt.«

»Ah, so erkläre ich Ihnen, daß mir dieser Mann völlig unsympathisch ist, und daß Sie ihn in Rücksicht auf mich ganz und gar nicht zu schonen brauchen. Großpapa wünscht unsere Verbindung; ich aber werde meine Hand niemals einem Manne reichen, den ich weder lieben, noch achten kann!«

Marion hielt inne und Müller erkannte, daß sie die Wahrheit gesprochen.

Nur wenige Secunden dauerte das Schweigen zwischen Müller und Marion, dann nahm Ersterer das unterbrochene Gespräch wieder auf.

»Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Mademoiselle!« sagte er, indem sein ganzes Innere frohlockte. »Als Mann von Ehre hatte ich den Obersten zu fordern, aber er ist der Gast des Hauses, dessen Diener ich gegenwärtig bin.«

»Das thut nichts,« sagte sie in sehr bestimmtem Tone. »Kennen Sie den Großpapa?«

»Das ist noch nicht gut möglich!«

»Nun, so will ich Ihnen sagen, daß er selbst ein leidenschaftlicher Fechter und Schütze ist. Seine höchste Passion ist, einem Kampfe zuzusehen. Hätten Sie den Obersten gefordert, so hätte Großpapa Ihnen dies nicht im Mindesten übel genommen. Ich bin im Gegentheil überzeugt, daß er Ihnen von Herzen gern secundirt – o, mein Gott!«

Dieser Ruf, mit welchem sie ihre Rede unterbrach, galt einem Blitze, welcher mit mehr als Tageshelle die Scene erleuchtete, und einem Donnerschlage, unter dessen Erschütterung das alte Gemäuer des Thurmes einzustürzen drohte. Im Scheine des Blitzes hatte man das ganze vor dem Thurme liegende Felsengewirr zu überblicken vermocht, und da hatten die Beiden eine hohe, weiße Gestalt gesehen, welche zwischen den Felstrümmern daher und gerade auf den Thurm zugeschritten kam. Selbst als das blendende Licht des Blitzes verzuckt war, sah man das lange, weiße Gewand immer näher kommen, nicht eilig, wie um dem Regen zu entrinnen, sondern langsam, langsam, als sei diese Gestalt ein überirdisches Wesen, dem die elementaren Gewalten der Erde nichts anzuhaben vermögen.

Marion hatte, seit sie von der Treppenstufe aufgestanden war, diesen Platz noch nicht wieder eingenommen. Sie trat hart an Müller heran und sagte:

»Liama, der Geist meiner Mutter!«

Und je näher die Gestalt kam, desto ängstlicher schmiegte sich das Mädchen in die Ecke hinter der Thurmtreppe und an den Deutschen, welcher dem vermeintlichen Geiste mit eigenthümlichen Gefühlen entgegenblickte.

Die Gestalt kam aus der Gegend her, in welcher das Grab lag. Müller hegte keinen Gespensterglauben, doch konnte er ein gewisses Grauen nicht ganz unterdrücken, als das hohe, fremdartige Wesen unter Blitz und Donner zwischen den Felsen dahergeschwebt kam. Marion hatte sich während des Schiffbruches so unerschrocken gezeigt; jetzt aber schmiegte sie sich fester und fester an Müller an, so fest, daß er unwillkürlich den Arm um sie legte, was sie gar nicht zu bemerken schien. Und als die Gestalt jetzt den Eingang erreicht hatte, hob das Mädchen sogar den Arm und legte denselben so fest um Müller, daß dieser das furchtsame Beben der heimlich Geliebten deutlich fühlte.

Unter der Thür wendete sich die Erscheinung um, so daß sie nach dem Walde zu stand, erhob die beiden Arme und rief mit einer tiefen, klangvollen Stimme:

»Allah, ia Allah! Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichtes. Dir wollen wir dienen, und zu Dir wollen wir flehen, auf daß Du uns führest den rechten Weg, den Weg Derer, die Deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg Derer, über welche Du zürnest, und nicht den Weg der Irrenden!«

Sie ließ die Arme sinken, trat etwas weiter zurück, und betete weiter:

»Allah ist's, der den Blitz erzeuget, und die Welten mit Regen schwängert. Der Donner verkündet sein Lob, und die Engel preisen ihn mit Entsetzen. Er sendet seine Blitze und zerschmettert, wen er will. Allah, ia Allah, akbar Allah!«

Jetzt trat sie zur Treppe und stieg dieselbe hinauf, ohne die Beiden zu bemerken, welche seitwärts hinter den Stufen standen. Und als ob ihre Worte Wunderkräfte besäßen, zuckte ein letzter Blitz auf, ein fürchterlicher Donnerschlag erscholl, und dann ward es still. Der Regen goß noch eine Minute lang hernieder, ward dann dünner und hörte rasch gänzlich auf. Die Helligkeit des Tages trat wieder ein, aber die fremdartige Erscheinung war im oberen Theil des Thurmes verschwunden.

Müller stand mit Marion noch auf derselben Stelle, eng verschlungen mit ihr. Es war ihm, als müsse er sie so festhalten für alle Ewigkeit. Er blickte ihr in das bleiche Angesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht.

»Marion!« flüsterte er leise, sich zu ihr niederbeugend.

Dieses Wort erweckte sie; es war ein unvorsichtiges Wort gewesen. Wie durfte der Hauslehrer wagen, sie, die Baronesse, so beim Namen zu nennen! Er fühlte dies, doch es war zu spät, er konnte es nicht zurücknehmen. Sie öffnete die Augen; ihr Blick traf den seinigen; es war, als ob die Flamme des seinigen den ihrigen entzünde und belebe. Eine tiefe Röthe verbreitete sich über ihr vorher leichenblasses Gesicht, und sie ließ den Arm sinken, der sich an ihm festgehalten hatte. Sie trat zur Seite, so daß er gezwungen war, auch seinen Arm von ihr zu nehmen, und fragte leise:

»Wo ist sie?«

»Dort oben,« antwortete Müller, zur Treppe deutend.

»Sie wird zurückkehren. Lassen Sie uns gehen!« bat sie.

Er schüttelte den Kopf und antwortete flüsternd zurück:

»Nein, bleiben wir. Warten wir das Ereigniß ruhig ab! Oder glauben Sie wirklich, daß es ein Geist gewesen sei?«

»Ja,« antwortete sie im Tone der innigsten Ueberzeugung. »Der Geist meiner Mutter.«

»Und wenn Sie irren?«

»Ich irre nicht!« sagte sie im bestimmten Tone.

»Haben Sie diese Erscheinung bereits einmal gesehen?«

»Noch nie; aber in der ganzen Umgegend erzählt man sich von ihr. Es ist kein Trug.«

Sie schauerte bei diesen Worten sichtbar zusammen. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Geister erscheinen nicht des Tages. Geister werden nicht naß; ich sah, daß der weiße Haik, den sie nach arabischer Sitte trug, vom Regen triefte. Und Geister beten nicht mit lauter Stimme die Worte des Koran.«

»Aus dem Koran waren diese Worte?«

»Ja. Unter der Thür betete sie die erste Sure des Koran, welche »die Eröffnung« genannt wird, und das zweite Gebet war aus der dreizehnten Sure, welche »Rrad, der Donner« heißt.«

»Sie war eine Muselmännin,« gestand Marion. »Ich zittere vor Furcht, ich bebe vor Entsetzen, den Geist der Mutter gesehen zu haben. Lassen Sie uns fliehen!«

»Und wenn es nun kein Geist war, wenn es nun ein Körper gewesen wäre?«

»Herr, lästern Sie nicht! Lassen Sie uns gehen!«

»Bitte, bleiben Sie nur einen einzigen Augenblick hier! Ich werde ihr folgen. Ich muß sehen, wo sie hingekommen ist.«

»Um Gottes willen, nein! Ich habe so sehr Angst. Verlassen Sie mich nicht! Gehen Sie nicht fort von mir! Ich muß heim; ich muß zu Gott beten, damit er der Mutter die ewige Ruhe schenke. Kommen Sie!«

Sie zog ihn fort, hinaus in den nassen Wald, und er mußte ihr folgen. Als sie zwischen den Felsen dahineilten, warf sie unwillkürlich einen Blick zurück, und deutete erschrocken nach der Zinne der Ruine. Dort oben stand die weiße Gestalt mit hoch erhobenen Händen, nach Osten gewendet, wo Mekka liegt, mit dem Steine der heiligen Kaaba. Man hörte die Worte ihres lauten Gebetes herabschallen, dem Gewitter nach, welches nach Morgen zog. Hinter ihr leuchtete im Westen die untergehende Sonne, und über ihr spannte ein Regenbogen seine herrlichen Farben auf. Müller hatte das Gespenst des Thurmes gesehen, aber das Geheimniß nicht berühren dürfen.

Die Liebe des Ulanen

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