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3. Ein Zauberer

Die Stadt Metz, eine Festung ersten Ranges, war zur Zeit Napoleon's des Dritten der Sitz einer der einundzwanzig Militärdivisionen des Landes, und gehörte mit den Divisionen von Straßburg, Besançon und Chalons sur Marne zum Militärcommando des Ostens, welches sein Hauptquartier in Nancy hatte.

Metz war eine echt deutsche Stadt, denn als Lothar der Jüngere seine Länder theilte, kam es nebst Austrasien in den Besitz Ludwigs des Deutschen, also an das deutsche Reich. Nur fortgesetzten französischen Umtrieben und Hinterlistigkeiten gelang es, die Schutzherrschaft über Metz zu erlangen, und im westphälischen Frieden die volle Souveränität über diese wichtige Stadt zu erhalten.

Der Besitz von Metz ist eine Cardinalfrage aller Zeiten zwischen Deutschland und Frankreich gewesen, und ehe das letzte, große, entscheidende Wort durch die Stimme der Kanonen gesprochen wurde, war diese Festung nicht nur der Hauptstützpunkt, sondern auch der Ausgangspunkt unzähliger Feindseligkeiten, welche Deutschland von seinem nimmersatten Nachbar zu erleiden hatte.

Eines der größten und schönsten Hotels der Stadt, das Hotel de l'Europe, lag im schönsten Theile der Stadt, ganz in der Nähe der Eisenbahn, und wurde besonders von vornehmen Herrschaften frequentirt, welche hier Alles vereint fanden, was im Stande ist, den oft hoch geschraubten Ansprüchen dieser Art von Leuten zu genügen.

Im Frühjahre 1870 erfreute sich dieses Hotel eines besonders zahlreichen hohen Besuches. Metz zeigte zu dieser Zeit eine ganz besondere Lebhaftigkeit des militärischen Lebens, obgleich man recht gut wußte, daß nicht viel darüber gesprochen werden solle. Hohe Offiziere kamen und gingen; man wußte nicht woher, wohin und weshalb. Und obgleich sie meist in Civil gekleidet waren, so besaß doch der Besitzer, sowie die Bedienung des Hotels de l'Europe, wo diese Herren gewöhnlich abstiegen, Scharfblick genug, um zu wissen, daß man es mit einflußreichen Militärs zu thun habe, deren Anwesenheit vermuthen lasse, daß irgend etwas kriegerisch Wichtiges im Werke sei.

Seit einigen Tagen bewohnte ein älterer Herr einige der besten Zimmer des Hotels. Er hatte mehrere Diener bei sich, und auf seinen Koffern waren die Bahnsignaturen noch nicht entfernt worden, so daß der Hausknecht deutlich die Worte Paris und Nancy hatte lesen können. Der Herr kam also aus der Hauptstadt über das Hauptquartier des Ostens nach Metz, ein Umstand, welcher wohl geeignet war, Vermuthungen Raum zu geben. Er nannte sich sehr einfach Monsieur Maçon, aber einer der Kellner, welcher in einem der feinsten Cafe's des Louvre servirt hatte, behauptete, diesen Herrn sehr gut zu kennen; es sei nicht ein einfacher Bürger, sondern Graf Rallion, der erklärte Günstling des Kaisers.

Dieser Kellner schien nicht Unrecht zu haben, denn bei näherer Beobachtung stellte sich heraus, daß Herr Maçon dem Divisionscommandeur, dem Festungscommandanten und anderen hochgestellten Herren häufige Besuche machte und von ihnen in einer Weise behandelt wurde, welche auf eine ausgezeichnete Distinction schließen ließ.

Gestern Abend hatte er der Dienerschaft befohlen, sich für heute zur Abreise bereit zu halten, da er mit dem Zuge, welcher elf Uhr fünfzig Minuten von Metz abgeht, nach Thionville zu fahren gedenke und dort also zwölf Uhr sechsundvierzig eintreffen werde.

Bereits neun Uhr kam ein junger Herr, welcher wie ein Officier in Civil aussah, und fragte, ob Herr Maçon zu sprechen sei. Als er nach seinem Namen gefragt wurde, gab er eine Karte ab, auf welcher in zierlicher Schrift zu lesen war: »Bernard Lemarch, Escadronchef.« Dieser Lemarch war also Cavalleriecapitän, Rittmeister. Er wurde angemeldet und auch sogleich vorgelassen. Herr Maçon empfing ihn zuvorkommend, ließ ihn sich niedersetzen, bot ihm sogar eine Cigarette an, und nun entwickelte sich eigenthümlicher Weise eine ganz ähnliche Scene wie in Simmern zwischen dem General und dem Rittmeister Königsau.

»Ich habe im Zimmer Ihres Obersten eine Kreidelandschaft gesehen, welche von Ihrer Hand sein soll, Capitän?« fragte Maçon.

»Es ist eine kleine Studienarbeit von mir, mein Herr,« antwortete der Gefragte.

»Eine Studienarbeit, welche aber doch eine gute Uebung verräth. Ich glaube, Sie könnten recht gut die Rolle eines Landschaftsmalers durchführen.«

»Es würde mir dies nicht schwer fallen.«

»Das ist mir lieb zu hören. Kennen Sie mich, Capitän?«

Der Officier lächelte und antwortete:

»Heute habe ich das Vergnügen, mit Monsieur Maçon zu sprechen.«

»Und wie würden Sie mir unter anderen Umständen antworten?«

»Unter anderen Umständen würde ich die Ehre haben, mich bei dem Grafen Rallion in Audienz zu befinden,« antwortete der Capitän mit einer Verbeugung.

»Gut; ich sehe, daß Sie mich kennen. Ich habe von Ihnen gehört. Man ist mit Ihnen zufrieden, und ich stehe daher im Begriffe, Ihnen Gelegenheit zu geben, sich auszuzeichnen.«

Das Gesicht des Officiers erhellte sich vor Freude, und er antwortete schnell:

»Ich werde diese Gelegenheit benutzen, Ihnen zu beweisen, daß es mein eifrigstes Streben ist, mich nützlich zu machen.«

»Wohl! Ich vernehme, daß Sie der deutschen Sprache mächtig sind?«

»Vollständig. Ich bin bei Straßburg geboren.«

»Würden Sie es fertig bringen, in Berlin für einen Deutschen zu gelten?«

»Ich hoffe es; nur müßte ich mich als einen solchen zu legitimiren vermögen.«

»Man wird Sie mit dem Nothwendigen versehen. Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe!«

Der Graf steckte sich eine neue Cigarette an, gab seinem hagern, gelben Gesichte einen wichtigen, diplomatisch schlauen Ausdruck und fuhr fort:

»Man fühlt sich in die Nothwendigkeit versetzt, an einen Krieg mit Deutschland zu denken. Man gedenkt, damit nicht mit der Thür in das Haus zu fallen, sondern sich vorher erst gehörig zu orientiren. Der letzte deutsch-österreichische Kampf hat zur Evidenz bewiesen, daß die preußische Heeresleitung eine sehr weitsehende und vorsichtige ist. Es steht zu vermuthen, daß Preußen so scharfsinnig ist, unsere Absicht zu errathen und in Folge dessen seine Vorbereitungen zu treffen. Darüber müssen wir natürlich Gewißheit haben. Wir müssen zweierlei wissen: erstens ob wir errathen werden, und zweitens, welche Gegenminen man uns legt. Verstehen Sie mich?«

»Vollkommen, mein Herr!«

»Eine solche Aufgabe können wir unserer officiellen, diplomatischen Vertretung natürlich nicht in die Hand geben. Wir bedürfen einer privaten Kraft, welche geeignet ist, diese Forschungen anzustellen. Dazu gehört allerdings ein Mann, welcher neben den sehr nothwendigen militärischen Kenntnissen, Schlauheit, Scharfsinn und sogar auch Muth genug besitzt, den Feind zu überlisten. Dieser Mann soll mit den nöthigen Legitimationen und Empfehlungen nach Berlin gesandt werden; er wird Anweisungen bekommen, wie er sich zu verhalten hat; man wird ihm Summen zur Verfügung stellen, zunächst für seine persönlichen Ausgaben, da er anständig aufzutreten hat, und sodann auch für Andere, unvorhergesehene Zwecke. Es könnte sich ja wohl eine kleine Bestechung oder etwas Derartiges als nothwendig herausstellen. Dieser Mann müßte eben so klug wie tactvoll, eben so kühn wie vorsichtig sein. Seine Aufgabe ist voraussichtlicher Weise keine leichte, doch wird auch die Belohnung eine dem entsprechende sein. Sie wurden mir empfohlen, Capitän. Welche Antwort habe ich zu erwarten?«

Das war sehr deutlich gesprochen. Der Rittmeister, welcher von seinem Obersten jedenfalls bereits vorbereitet worden war, gab eine ebenso deutliche Antwort:

»Ich werde diese Gelegenheit, meinem Vaterlande zu dienen, mit Freuden ergreifen, und gebe die Versicherung, daß ich nichts versäumen und unterlassen werde, um meinen Zweck zu erreichen.«

»Das habe ich erwartet. Ich mache allerdings die vielleicht etwas zu aufrichtige Bemerkung, daß die Zeit drängt und Sie sich also nicht viel Muse lassen dürfen. Vor allen Dingen aber frage ich Sie, ob Sie Berlin bereits kennen?«

»Ich war noch nicht dort.«

»Das ist günstig, denn Sie werden dann nicht in Gefahr kommen, erkannt zu werden. Ich reise elf Uhr von hier nach Thionville. Können Sie bis dahin Ihre Vorbereitungen zur Abreise getroffen haben?«

»Ein Soldat muß stets marschbereit sein!«

»Wohl! Sie werden mich begleiten. Ich habe in der Nähe eine geheime Inspection vorzunehmen, nach deren Erfolg sich Ihre Instructionen richten werden. Dies wird in höchstens zwei Tagen abgethan sein, und dann können Sie nach Berlin gehen. Ihre größte Aufmerksamkeit wird dort auf den Generalstab zu richten sein. Und da will ich Ihnen bereits jetzt eine Adresse nennen, welche Ihnen von Vortheil sein wird.«

Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche, blätterte nach und fuhr dann fort:

»Es giebt nämlich dort einen Officier, einen höchst gewandten und trotz seiner Jugend sehr brauchbaren Strategen, welcher sogar in seiner Privatwohnung mit wichtigen Arbeiten beschäftigt wird. Wenn es Ihnen gelänge, seine Freundschaft zu erwerben, so wäre es Ihnen vielleicht möglich, hier und da einen geheimen Blick in diese Arbeiten werfen zu können. Eine gewandt geführte Unterhaltung könnte Ihnen Vieles errathen lassen, was er nicht direct sagen wird. Einige Flaschen Wein zur rechten Zeit und am rechten Ort haben oft einen außerordentlichen Erfolg. Vielleicht hat dieser Mann Verwandte, deren Vertrauen, oder eine hübsche Schwester, deren Liebe Sie erwerben können. Kurz und gut, ich will Ihnen mit diesen Andeutungen nur sagen, daß der Kluge es verstehen muß, sich Alles dienstbar zu machen, und ich hoffe, daß Sie nicht auf den Kopf gefallen sind!«

»Ich wiederhole, daß ich mein Möglichstes thun werde,« antwortete der Rittmeister. »Darf ich um den Namen des betreffenden Officiers bitten?«

»Es ist der Rittmeister Richard von Königsau. Wo er seine Privatwohnung hat, kann ich nicht sagen; es wird Ihnen nicht schwer werden, sie unauffällig zu erfragen. Aber Eins weiß ich, was Ihnen vielleicht von Nutzen sein wird: Er hat einen alten Großvater, einen Veteranen aus den sogenannten Befreiungskriegen, welcher zuerst unter dem Verräther Lützow und sodann unter Blücher gekämpft hat und in der Schlacht bei Belle Alliance verwundet worden ist. Dieser Alte spricht noch heut mit Begeisterung von seinen Feldzügen, und Sie werden wissen, daß das Wohlwollen solcher Leute sehr leicht dadurch zu erlangen ist, daß man sie glauben läßt, von ihrer Begeisterung angesteckt zu sein. Das ist Alles, was ich Ihnen für jetzt sagen kann. Nähere Instructionen werden Sie noch erhalten. Besitzen Sie einen Anzug, wie ihn Maler zu tragen pflegen?«

»Er wird in wenigen Minuten beschafft sein.«

»Und eine Staffelei?«

Der Rittmeister konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er antwortete:

»Eine Staffelei von hier mit nach Berlin zu nehmen, wäre ebenso beschwerlich als überflüssig. Will ich bereits unterwegs als Maler gelten, so genügt eine künstlermäßige Kleidung und eine Mappe. Eine Staffelei werde ich mir in Berlin kaufen.«

»Das müssen Sie verstehen. Jetzt treffen Sie schleunigst Ihre Vorbereitungen, denn ich erwarte bestimmt, Sie punkt elf Uhr hier wiederzusehen. Adieu!«

Er erhob sich und gab dem Officier mit jener kalten Nachlässigkeit die Hand, mit welcher man sagen will: »Ich lasse mich zwar herab, Dir die Hand zu reichen, aber bilde Dir nur um Gotteswillen nichts darauf ein; denn wenn Du fort bist, werde ich mir diese Hand sehr sorgfältig abwaschen, damit jede Spur von dieser ordinären Berührung vertilgt werde!«

Der Rittmeister nahm die Hand wie Einer, dem eine hohe Gnade erwiesen wird, und entfernte sich nach einer Verbeugung, welche er einem regierenden Fürsten nicht unterthäniger hätte machen können. Er wußte, daß der Liebling des Kaisers mehr Einfluß besaß, als mancher Minister, der sich die Miene gab, mächtig zu sein.

Als kurz vor zwölf Uhr der Zug nach Thionville bereit stand, stieg Herr Maçon in ein Coupee zweiter Classe, und ihm folgte ein junger Mann, welcher enge graue Hosen, feine Lackstiefel, ein beschnürtes Sammetjaquet, einen breitkrämpigen Hut und gelbe Handschuhe trug. Er hatte eine umfangreiche Mappe unter dem Arme, und es konnte gar kein Zweifel darüber obwalten, daß er ein Künstler, ein Maler sei.

Als sie in Thionville ausstiegen, stand der alte Capitän vom Schloß Ortry auf dem Perron, um seinen hohen Besuch zu bewillkommnen. Herr Maçon, welcher hier wieder Graf Rallion war, klopfte dem Alten freundlich auf die Achsel und fragte:

»Nun, Capitän, Sie haben meine Depesche erhalten, wie ich sehe?«

»Vor zwei Stunden. lch beeilte mich sofort, Sie zu empfangen,« antwortete der Gefragte.

»Ich stelle Ihnen hier den Capitän Lemarch vor, welcher als Maler nach Berlin gehen wird; in welcher Angelegenheit, das brauche ich so einem alten Schlaukopf, wie Sie sind, nicht erst zu sagen. Nicht?«

Der Alte blinzelte mit den Augen, zog den Schnurrbart empor und fletschte die Zähne, als ob er ganz Berlin erbeißen möchte, nickte dem jungen Officier vertraulich zu und sagte:

»Sie gehen als Maler, wie es scheint? Machen Sie Ihre Sache gut, damit diese Prussiens endlich den Lohn erhalten, den sie schon längst verdient haben.«

»Der Capitän wird sich Mühe geben; ich bin davon überzeugt,« antwortete der Graf an Stelle des Officiers. »Haben Sie eine Equipage mit?«

»Zwei. Die andere für Ihre Bedienung.«

»Gut. Fahren wir!«

Nach kurzer Zeit rollten die beiden Wagen auf der Straße dahin, welche von Thionville nach Ortry führt. Sie waren bereits über das erste Dorf hinaus, als sie einen ganz eigenthümlich gekleideten Menschen bemerkten, welcher vor ihnen herging. Er trug weite orientalische Hosen, welche unter dem Knie zusammengebunden waren, und an den Füßen Sandalen. Strümpfe und Gamaschen trug er nicht, so daß seine hageren, braunen Unterbeine zu sehen waren. Eine rothe, mit unächten Tressen besetzte Jacke bedeckte seinen Oberleib. Um die Hüften hatte er einen alten blauen Shawl geschlungen, in welchem verschiedene fremdartige Gegenstände steckten, deren Bestimmung sich unmöglich errathen ließ. Unter der vorn offenen Jacke war ein Hemde zu sehen, welches sicher vor langen Jahren einmal weiß gewesen war, und auf dem Kopfe thronte ein Turban, welcher geradezu einen riesigen Umfang hatte. Ueber die Schulter hing diesem Manne ein großer Ledersack, dessen Inhalt in Bewegung zu sein schien; es mußten sich lebendige Gegenstände in demselben befinden. Das Gesicht des Mannes schien nur aus einem mächtigen Vollbarte, einer braunen Nasenspitze und zwei Augen zu bestehen, welche unter schweren Lidern lagen.

Als die Wagen herangerollt kamen, blieb der Mann stehen, um sie vorüber zu lassen. Seine Lider hoben sich langsam, und seine Augen blickten gleichgiltig unter ihnen hervor. Kaum aber war ihr Blick auf die Insassen des ersten Wagens gefallen, so belebten sie sich auf die auffälligste Weise.

Sie nahmen den Glanz glühender Kohlen an und schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen. Im nächsten Augenblick hatte sich der Mann bereits beherrscht. Er lehnte sich an einen der Chausseebäume und ließ, als der Wagen im Begriffe stand, vorüber zu fahren, ein halblautes, eigenthümliches Zischen hören.

Sofort bäumten sich die Pferde, und waren durch keine Anstrengung des Kutschers von der Stelle zu bringen. Er gebrauchte die Peitsche; er schnalzte mit der Zunge; er bat mit zuredenden Worten, vergeblich. Der Fremde stand dabei und richtete seinen halbverschleierten Blick scharf auf den alten Capitän. Dieser wandte sich mit einer drohenden Handbewegung zu ihm und rief ihm zu:

»Kerl, siehst Du nicht, daß die Pferde vor Dir scheuen! Packe Dich fort!«

»Scheuen?« fragte der Mann mit tiefer Stimme. »Vor mir hat noch nie ein Pferd gescheut; aber alle Pferde gehorchen meinem Winke. Wem gehört dieser Wagen?«

»Was geht das Dich an, Vagabund? Ich sage Dir, packe Dich, sonst lasse ich Dich vom Kutscher von der Straße peitschen!«

»Ich fürchte ihn nicht!« antwortete der Fremde ruhig. »Wenn ich gehört habe, wohin die Wagen gehören, werde ich den Pferden befehlen, zu gehorchen, und dann könnt Ihr weiterfahren, eher aber nicht!«

Der alte Capitän zuckte höhnisch die Achsel und gebot dem Kutscher, die Fahrt fortzusetzen, aber dieser war nicht im Stande, dem Befehle zu gehorchen. Die Pferde wichen trotz aller seiner Bemühungen nicht von der Stelle.

»Es geht nicht, gnädiger Herr,« klagte er. »Der Teufel muß in die Pferde gefahren sein, oder versteht der Kerl dort zu hexen. Wenn ich Gewalt brauche, so brechen sie mir die Deichsel ab.«

Der Graf hatte bis jetzt die Scene ruhig beobachtet. Jetzt wandte er sich nach dem hinteren Wagen, in welchem seine beiden Diener saßen:

»Schafft den Menschen fort, daß die Pferde ihn nicht mehr sehen!« gebot er.

Die Domestiken stiegen aus und traten drohend auf den Fremden zu. Sie geboten ihm, zu weichen, und als er dies nicht that, streckten sie die Hände nach ihm aus. Aber in demselben Augenblicke wichen sie im höchsten Grade erschreckt zurück, denn der Fremde hatte seinen Ledersack ein Wenig geöffnet, und aus demselben schossen drei riesige Brillenschlangen hervor. Diese Thiere schlangen ihre Schwänze um den langen, nackten Hals ihres Herrn und fuhren mit ihren Leibern, wie um ihn zu vertheidigen, mit blitzesähnlicher Schnelligkeit in der Luft herum. Die Leute hatten wohl noch nie eine Brillenschlange gesehen, aber die Beschreibung oft gelesen; sie wußten also, daß sie es hier mit den giftigsten Reptilien zu thun hatten, welche es in der Welt giebt. Sie sprangen schleunigst zurück und wagten es nicht wieder, sich dem Fremden zu nähern.

Dieser erhob die Hand, um seine Schlangen zärtlich zu streicheln, und sagte:

»Wer mich angreifen will, der komme! Es gehorchen mir alle Thiere des Waldes und des Feldes, auch den Rossen bin ich ein Gebieter. Die Pferde werden nicht eher diese Stelle verlassen, als bis ich es ihnen erlaube. Wohin gehören diese Wagen?«

Die Herren, welche im ersten Wagen saßen, konnten es mit ihrer Würde nicht vereinbaren, ihm zu antworten, erkannten aber auch, daß dieser Mann unangreifbar sei.

Der Kutscher riß sie aus ihrer Verlegenheit.

»Sie gehören nach Ortry,« antwortete er.

»Nach Ortry?« wiederholte der Fremde. »Gut; fahrt weiter!«

Er stieß einen leisen, seltsam klingenden Pfiff aus. Sofort zogen die Pferde an und rannten im Galoppe davon, so daß der Kutscher sich alle Mühe geben mußte, ihrer Herr zu bleiben. Der Fremde blickte ihnen nach, so lange er sie zu sehen vermochte, dann wendete er sein Gesicht nach Osten. Seine Augen öffneten sich weit; seine Kniee beugten sich zur Erde, seine Hände streckten sich gefaltet empor, und er rief:

»Allah il Allah! Dein Name ist der einzige, und Deine Macht ist unendlich. Sei gelobt, daß ich ihn wiedergesehen habe, den Räuber, den Mörder unseres Stammes! Sei gelobt, daß ich gefunden habe die erste Spur von Liama, der Tochter unserer Zelte. Ich gelobe bei Dir und allen heiligen Kalifen, sie zu befreien, oder, wenn sie todt sein sollte, zu rächen, wie noch kein Kind der Wüste gerächt worden ist!«

Vorhin hatte er im Dialecte des südlichen Frankreich gesprochen, jetzt aber sprach er sein Gebet in arabischer Sprache. So am Boden knieend und von den Schlangen umzingelt, bot er einen höchst fremdartigen, wilden Anblick dar.

Nun erhob er sich wieder von der Erde, steckte die Schlangen in den Sack zurück und setzte seinen Weg weiter fort, ganz denselben Weg, welchen auch die Wagen verfolgt hatten. Beim nächsten Dorfe angekommen, kehrte er im Wirthshause ein. Er fand nur einen alten Mann zu Hause, der ihm den bestellten Trunk reichte. Dieser betrachtete die sonderbare Gestalt mit neugierigem Blicke und fragte:

»Sie sind jedenfalls nicht im Norden Frankreichs geboren?«

»Nein,« lautete die Antwort. »Ich ward geboren im Sonnenbrande des Südens.«

»Was treiben Sie hier, oder womit handeln Sie hier?«

»Man nennt mich Abu Hassan, den Zauberer. Ich habe die Geheimnisse der Geister studirt und mir alle Geschöpfe unterthan gemacht.«

»Ah, ein Gaukler,« lächelte der Wirth. »Wo wollen Sie Ihre Künste zeigen?«

»In Ortry.«

»O, da werden Sie schlechte Geschäfte machen!«

»Warum?«

»Zu den Arbeitern, die sich wohl eine solche Kurzweil wünschen möchten, darf kein Fremder, und im Schlosse giebt es Leute, welche mehr gesehen haben als die Kunststücke, welche Sie produciren werden.«

»Abu Hassan kann mehr als Andere,« meinte der Fremde stolz. »Wer wohnt auf dem Schlosse?«

»Der Baron de Sainte-Marie.«

Hassan schüttelte leise den Kopf, als sei er mit dieser Antwort noch nicht zufrieden.

»Wer noch?«

»Sein Weib und seine zwei Kinder.«

»Wie alt ist der Baron?«

»Vielleicht fast fünfzig Jahre.«

Hassan schüttelte abermals den Kopf und fragte weiter:

»Wohnt ein Mann dort mit großem, grauen Schnurrbart?«

»Ja; das ist der Vater des Barons.«

»Wie heißt er?«

»Eigentlich sollte man meinen, daß er auch Sainte-Marie heißt; dies ist aber nicht der Fall, denn der Baron ist erst vor Jahren geadelt worden und hat seinen jetzigen Namen vom Kaiser empfangen. Er hieß vorher Richemonte, und so heißt der Alte noch.«

Hassan horchte auf. Seine Augen aber versteckten sich wo möglich noch tiefer unter die Lider als vorher, und er gab sich Mühe, im gleichgiltigsten Tone zu fragen:

»War dieser Alte Soldat?«

»Ja. Er hat unter dem großen Kaiser gefochten und soll auch unter Kabylen gewesen sein, als was, das weiß ich nicht.«

»Hat der Alte ein Weib gehabt?«

»Natürlich, da der Baron sein Sohn ist.«

»War dieses Weib eine Französin?«

»Das läßt sich denken; aber ich habe sie nicht gekannt, da die Sainte-Maries erst seit Jahren hier wohnen. Die Frau des Alten muß seit langer Zeit bereits todt sein.«

»Haben Sie niemals etwas von einem Weibe gehört, welches Liama hieß?«

»Liama?« fragte der Wirth rasch. »Das war die erste Frau des Barons.«

»Des Barons? War der Baron auch in der Kabylie?«

»Das weiß ich nicht. Aber seine erste Frau hieß Liama und ist eine Heidin gewesen. Ihr Grab liegt tief im Walde beim alten Thurme, und ihre Tochter lebt noch.«

Die Augen des Fremden schossen einen übermächtigen Strahl der Freude unter den Lidern hervor, doch im nächsten Augenblicke erklang im ruhigsten Tone die Frage:

»Eine Tochter hat sie hinterlassen? Wie heißt sie?«

»Marion.«

»Hat sie nie anders geheißen?«

»Warum sollte sie jemals anders geheißen haben? Ihre Frage klingt außerordentlich kurios.«

So unterhielten sich die Beiden noch lange Zeit. Hassan erfuhr Alles, was der Wirth von Ortry und seinen Bewohnern wußte. Er hörte auch, daß der Geist Liamas noch oft am alten Thurme zu sehen sei. Endlich brach er auf. Als er sich auf der Straße allein befand, schüttelte er den Kopf und fragte in seinem südlichen Dialect:

»Diesen alten Richemonte suche ich. Er ist's; ich irre mich nicht. Allah hat meine Schritte endlich doch noch zum Ziele geleitet; aber Liama, die Tochter der Wüste, ist gestorben. Ich werde sie rächen. Wer aber ist diese Marion? Wer ist dieser Baron de Sainte-Marie? Wer ist der Geist, der sich im alten Thurme sehen läßt? Muhamed, der Prophet der Gläubigen, sagt, daß das Weib keine Seele habe. Wie kann also die Seele eines Weibes nach dem Tode desselben gesehen werden? Ich werde nach Ortry gehen und die Spuren verfolgen, welche ich gefunden habe; dann kehre ich zum Scheik zurück, um ihm zu sagen, daß die Zeit der Rache endlich doch noch gekommen ist.«

Seine Augen leuchteten wild auf, als er diese Worte murmelte. Und sein Mund ließ ein höhnisches Lachen erschallen, als er fortfuhr:

»Wird er mich erkennen? O nein. Der Gram hat mein Gesicht durchfurcht und mein Fleisch vom Leibe gefressen. Und wenn man erführe, wer ich bin, ich fürchte ihn doch nicht. Sind sie nicht Alle erschrocken über meine Schlangen? Hat ihnen nicht Allah den Verstand genommen, daß sie nicht begreifen, warum die Pferde mir gehorchen? Waren es nicht Pferde der Wüste, welche alle dem Zeichen der Wüste gehorchen? Und wenn sie mich bedrohen, so werde ich ihnen meine Künste zeigen, und sie werden sich fürchten und mich für den Satan halten.«

Unterdessen waren die beiden Wagen auf Ortry angekommen und die Insassen derselben von den Bewohnern des Schlosses bewillkommnet worden. Marion hatte den Grafen mit Ehrerbietung begrüßt, aber nicht die mindeste Veranlassung zu der Annahme gegeben, daß sie sich freue, den Vater ihres Verlobten zu sehen. Er erhielt die besten Gemächer des Schlosses angewiesen, während der falsche Maler die Wohnung des ermordeten Fabrikdirectors bezog, wo man die noch sichtbaren Blutflecke mit Teppichen bedeckt hatte.

Es wurde zunächst ein kurzer Imbiß eingenommen, und dann begab sich der alte Capitän mit den beiden Rallions nach dem Eisenwerke. Die geheimnißvolle Inspection sollte beginnen. Lemarch begann, sich zu langweilen, nahm seine Mappe und begab sich nach dem Garten, um das Schloß von dieser Seite abzuzeichnen und dem Capitän mit dem Bilde dann ein Geschenk zu machen.

Dort saß auf einer Bank, grad wie die beste Stelle zum Zeichnen war, Müller, der in einem Buche las. Er blickte auf, sah den Maler kommen und erhob sich höflich. Als aber der Franzose näher kam, nahm das Gesicht des Deutschen den Ausdruck des allerhöchsten Erstaunens an. Was war denn das? War das ein einfaches, natürliches Spiel des Zufalles? Dieser Künstler sah dem Diener Fritz zum Verwechseln ähnlich. Hätte der Erstere die Kleidung des Pflanzensammlers angehabt, so wäre die Täuschung vollständig gewesen.

Lemarch sah diese Verwunderung und sagte:

»Sie scheinen unangenehm berührt zu sein, daß ich Sie störe? Wen habe ich die Ehre, um Entschuldigung zu bitten, Monsieur?«

»Ich bin der Erzieher des jungen Barons,« antwortete Müller jetzt wieder gefaßt.

»Und ich bin Maler, mit dem Grafen Rallion hier angekommen. Ich gedachte, von dieser Bank aus das Schloß zu zeichnen, aber ich störe Sie.«

»Nehmen Sie Platz!« antwortete Müller höflich. »Mein Name ist Müller.«

Er sagte dies, um zu erfahren, wie er den Maler zu nennen habe. Dieser hatte während der Bahnfahrt im Coupee von dem Grafen erfahren, daß seine deutsche Legitimation auf den Namen Haller ausgestellt sei; darum antwortete er:

»Und der meinige Haller. Ich bin ein Deutscher, und Sie auch, wie ich zu meiner Freude aus Ihrem Namen schließe.«

»Allerdings. Meine Heimath ist Leipzig.«

»Die meinige Stuttgart.«

Beide täuschten einander. Sie waren gezwungen, die Orte zu nennen, welche auf ihren Legitimationen angegeben waren. Der Franzose war ein liebenswürdiger Gesellschafter, und Müller fühlte sich bereits nach kurzer Unterhaltung recht sympatisch von ihm berührt, bis die Unterhaltung auf Berlin kam – zufällig, dachte Müller; er hatte nicht bemerkt, daß Haller sie mit Absicht auf Berlin geleitet hatte.

»Waren Sie bereits einmal in der Hauptstadt Preußens?« fragte der Letztere.

»Oefters,« antwortete Müller.

»Das läßt sich denken, da Berlin von Ihrer Vaterstadt aus ja sehr leicht zu erreichen ist. Sind Sie dort einigermaßen bekannt?«

»So ziemlich.«

»Auch in Militärkreisen?«

»Leidlich. Ich hatte als Erzieher Gelegenheit, zahlreiche Officiere kennen zu lernen.«

»Ah, so sagen Sie mir, ob Ihnen der Name Königsau bekannt ist.«

Fast hätte Müller durch eine rasche Bewegung sein Erstaunen verrathen. Er beherrschte sich jedoch und antwortete mit nachdenklicher Miene:

»Königsau? Hm! Den Namen müßte ich kennen! Ah, jetzt besinne ich mich! Ein alter Hauptmann aus Blüchers Zeit führt diesen Namen.«

»Richtig, richtig!« meinte Haller mit französischer Lebhaftigkeit. »Hat dieser alte Veteran einen Sohn?«

»Jetzt nicht mehr, aber einen Enkel, wenn ich mich nicht irre.«

»Jawohl, ein Enkel war es! Ist dieser nicht Rittmeister bei den Ulanen?«

»So viel ich weiß, ja.«

»Man sagt, daß er ein ausgezeichneter Offizier sei, der von Seiten des großen Generalstabes mit wichtigen Arbeiten beschäftigt werde.«

»Möglich. Ich als Erzieher habe natürlich kein Urtheil darüber.«

»Kennen Sie seine Verhältnisse vielleicht näher?«

»Es mag wohl sein, daß ich früher von ihm gehört habe, doch ist es leicht zu entschuldigen, wenn mir das jetzt nicht mehr erinnerlich ist. Sie haben Veranlassung, sich nach ihm zu erkundigen?«

»Ja.«

»Wenn ich wüßte, welche Intention Sie dabei leitet, käme dies vielleicht meinem Gedächtnisse zu Hilfe, so daß ich Ihnen Auskunft zu geben vermöchte, Herr Haller.«

»Nun, ich beabsichtige, baldigst nach Berlin zu gehen. Dort werde ich Gelegenheit nehmen, die Bekanntschaft des Rittmeisters zu machen. Sie begreifen, daß es mir da sehr angenehm sein würde, bereits jetzt etwas über ihn zu hören.«

»Ah, Sie haben also Gründe, die Bekanntschaft gerade dieses Mannes zu machen?«

»Allerdings. Er ist mir sehr warm empfohlen.«

»Darf ich fragen, von wem?«

»Vom Grafen Rallion,« fuhr es dem Franzosen heraus. Er ahnte aber sofort, daß er jetzt eine Dummheit begangen habe, und fügte, um seine Worte begreiflicher zu machen, hinzu: »Der Graf hat nämlich in Berlin früher seine Bekanntschaft gemacht.«

Damit aber hatte der Franzose den Karren noch tiefer hineingeschoben. Müller erinnerte sich der militärisch straffen Haltung, mit welcher der Maler in den Garten getreten war, er sah den wohlgepflegten Schnurrbart, die kurz verschnittenen Haare, und war nun mit sich und dem Maler vollständig im Reinen. Darum meinte er mit einem leichten Lächeln:

»So viel ich mich entsinne, ist Rittmeister von Königsau kein sogenannter Gesellschaftsmensch. Der Dienst geht ihm über Alles; er liebt das Studium, und in Folge dessen die Einsamkeit. Es mag schwer sein, sich bei ihm einzuführen.«

»Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, seine Freundschaft zu erlangen. Aus welchen Personen besteht seine Familie noch, außer dem bereits genannten Veteran?«

»Aus seiner Mutter und einer Schwester.«

»Ist diese Schwester hübsch?«

»Ich glaube. Ich habe Bekannte, welche von ihr sogar als von einer Schönheit sprechen.«

Müller sagte die Wahrheit. Es that ihm in diesem Augenblicke herzlich wohl, in solcher Weise von der fern Weilenden sprechen zu können. Haller machte ein erfreutes Gesicht und sagte mit jenem Lächeln, welches unter jungen Herren so vielsagend ist:

»Ein Grund mehr, die Bekanntschaft des Rittmeisters zu machen. Ich bin Ihnen herzlich dankbar für die Auskunft, die Sie mir ertheilt haben!«

»Und ich bedaure sehr, nicht im Stande gewesen zu sein, Ihnen mehr zu sagen. Ich will Ihnen gern wünschen, sich nicht enttäuscht zu sehen.«

Er verbeugte sich höflich und ging dem Parke zu. Diese Begegnung gab ihm zu denken. War dieser Maler wirklich ein Deutscher? War er überhaupt wirklich ein Maler? Er war mit Rallion, dem größten Hasser Deutschlands, gekommen, und zwar aus Metz, dem militärischen Ameisenhaufen. Warum wollte er als Maler in Berlin gerade Müller's Bekanntschaft machen, das heißt also die des Rittmeisters von Königsau? Warum die Lüge, daß Graf Rallion Königsau kenne? Und wenn dieser Haller kein Maler, sondern Offizier war, so hieß er jedenfalls auch anders und ging in einer geheimen Mission nach Berlin. In diesem Falle – –

Er wurde gerade jetzt aus seinem Nachdenken aufgestört, denn eine liebliche Stimme erklang:

» Bon jour, Herr Doctor! Haben Sie Baronesse Marion nicht gesehen?«

Er blickte auf. Nanon stand seitwärts von ihm. Sie trug ihr lichtes Kleid hoch aufgeschürzt, wie zu einem langen Gange durch Wald und Feld, und ihr volles, freundliches Gesichtchen wurde von einem breitrandigen Gartenhute beschattet. Ihr Haar hing in zwei dicken, blonden Zöpfen über dem Rücken herab. Als sie so hinter dem Fliederstrauche hervorlugte, hatte sie ganz das Aussehen einer neckischen Elfe, welche von ihrer Königin die Erlaubniß erhalten hat, sich einmal an dem fröhlichen, glücklichen Menschenleben zu betheiligen.

»Leider nein, Mademoiselle,« antwortete er.

»Sie soll mit Alexander in den Park gegangen sein. Ich suche sie.«

»Vielleicht ist sie nach dem alten Thurm.«

Sie sah ihn mit fragender Bitte an. Vielleicht wäre es gerathen gewesen, sie zu begleiten, um ihr den Thurm zu zeigen; aber er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um darüber nachzudenken, ob er als Erzieher die Verpflichtung habe, auch in diesem Falle galant zu sein. Sie bemerkte dies, warf mit einem trotzigen Schmollen das Köpfchen zurück und antwortete:

»Ich danke Ihnen. Vielleicht finde ich den Thurm.«

Damit schritt sie fort, dem Walde entgegen. Dort dufteten bereits die Maien, und zahllose Blüthen hingen an den Sträuchern. Sie schlüpfte von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch; sie hatte bald einen Vogel, bald einen Käfer, bald einen früh erwachten Schmetterling zu beobachten. Sie drang immer tiefer und tiefer in den Wald, bis sie endlich nicht mehr weiter konnte.

» Mon dieu, was ist denn das?« fragte sie. »Ich glaube gar, hier ist der Weg alle!« Sie wendete sich um und fügte erschrocken hinzu: »Ach, der scheint ja schon längst alle geworden zu sein! Wo bin ich? Wo ist das Schloß? Und wo ist der alte Thurm, den ich suche? Ich habe mich ganz und gar verlaufen!«

So war es allerdings – sie hatte sich verlaufen. Sie suchte nun nach dem richtigen Weg; aber sie fand nicht nur nicht den richtigen, sondern überhaupt gar keinen Weg. Sie ging immer weiter und weiter und verirrte sich immer mehr. Sie ward müde und setzte sich nieder, um auszuruhen, bis sie bemerkte, daß sie keine Zeit versäumen dürfe. Sie brach also wieder auf und suchte von Neuem. Endlich fand sie einen schmalen Pfad, aber als sie ihm folgte, verlief er sich im Walde. Sie kehrte zurück und gelangte an einen Kreuzweg. Sie wandte sich nach rechts, ging eine ganze Viertelstunde lang und mußte dann zu ihrem Herzeleid sehen, daß auch dieser Weg zwischen Sträuchern und Büschen ein Ende nahm.

Nun wurde es ihr angst. Sie kehrte abermals um und begann zu rufen. Aber Niemand antwortete; sie befand sich allein, ganz allein im tiefen Walde.

»Daran ist nur dieser Monsieur Müller schuld!« rief sie fast weinend. »Warum sind doch die Deutschen nicht so galant wie die Franzosen? Sie sind doch außerdem viel besser als diese!«

Und immer weiter ging sie, und immer lauter rief sie. Da horch! War das wirklich eine menschliche Stimme? Sie rief abermals und blieb stehen, um zu horchen. Ja, aus weiter Ferne drang eine Antwort herüber. Sie rief wiederholt, und die Antwort kam immer näher, bis endlich ein Mann durch die Büsche brach. Er hatte eine dunkle Hose und eine blaue Blouse an und trug einen großen Sack auf der Schulter – es war Fritz.

Als sie ihn erblickte, schlug sie vor Freude die kleinen Händchen zusammen und rief:

»Ah, welch ein Glück, Monsieur – Monsieur – wie war gleich Ihr Name?«

»Guten Tag, gnädiges Fräulein!« grüßte er höflich, indem er den Hut vom Kopfe nahm. »Schneeberg, Friedrich Schneeberg heiße ich. Aber wie kommen Sie so tief in den Wald?«

»Ich bin in die Irre gegangen,« antwortete sie. »Wollen Sie nicht mein Retter sein – zum zweiten Male, lieber Monsieur Schneeberg?«

»O, wie gern, Mademoiselle!« rief er. »Ich wollte, ich dürfte Sie hundertmal, nein, tausendmal retten, oder doch wenigstens alle Tage einige Male!«

»Das wäre denn doch zu viel verlangt,« lachte sie, ganz erfreut, daß grad dieser gute, brave Mensch sie gefunden hatte. Sie war ja mit ihm in Marions und des Doctor Bertrand Gesellschaft von der Mosel bis hierher gereist und hatte da trotz der kurzen Zeit Gelegenheit gehabt, die treue Seele kennen zu lernen. »Ist es weit nach dem alten Thurme?« fragte sie.

»Man müßte eine volle Stunde gehen,« antwortete er.

»Und nach dem Schlosse?«

»Grad ebenso weit, Mademoiselle.«

»Ach, das kann ich nicht mehr erlaufen!« klagte sie. »Ich bin so ermüdet; ich muß mich vorher ausruhen.«

Ihr Blick suchte nach einem passenden Plätzchen. Da warf er den Sack zu Boden und sagte:

»Hier ist ein Fauteuil, wie es weicher gar nicht sein kann, Mademoiselle.«

»Dieser Sack? Was ist darin?«

»Kostbare Pflanzen,« antwortete er mit komischer Wichtigkeit. »Sie haben wohl gehört, daß ich bei Doctor Bertrand als Pflanzensammler engagirt bin.«

»Allerdings, ich erinnere mich. Sind Sie denn ein guter Botaniker?«

»Das versteht sich!« lachte er. »Salomo kannte blos den Ysop und die Zeder, ich aber kenne einige Pflanzen mehr.«

»Wenn aber diese Pflanzen einen medicinischen Zweck haben, darf ich mich doch unmöglich auf sie setzen!«

»Warum nicht, Mademoiselle? Der Medicin thut dies nicht den geringsten Schaden. Der Sack steckt voll Preußelbeerkraut, Schafgarbe, Weidenblättern und Huflattich. Einen sehr guten Thee wird das freilich nicht geben, aber ein desto besseres Polster. Setzen Sie sich getrost darauf. Es wächst noch eine ganze Masse solches Zeug im Walde.«

»Nun wohl, so muß ich Ihnen den Willen thun,« sagte sie.

Sie ließ sich auf den weichen Sack nieder, und zwar mit einer so natürlichen Grazie und Anmuth, daß sie wirklich ganz das Aussehen einer Elfe hatte. Der Hut hing ihr am Bande im Nacken; er war ihr hinabgerutscht, und nun blickte das liebliche Gesichtchen mit den blauen Augen so freundlich zu ihm empor, daß es ihm heiß um das Herz wurde. Er hätte sich tausend und aber tausend Martern unterworfen, um ihr die kleinste Freude zu bereiten.

»Aber nun müssen Sie sich auch setzen, mein lieber Monsieur Schneeberg,« sagte sie.

Er gehorchte und suchte sich einen Ort aus, fern von dem ihrigen.

»Nein, nicht dort,« sagte sie, »sondern hier in meiner Nähe, ganz hier.«

Sie deutete grade dort hin, wo ihre kleinen, kinderniedlichen Stiefeletten unter dem Saume ihres Gewandes hervorragten. Er wagte keinen Widerspruch und folgte gehorsam ihrer Weisung. Ihr Auge beobachtete dabei seine Bewegungen. Er war ein gewandter Unteroffizier und hatte sich bei der Escadron die Beine noch lange nicht steif geritten. Seine volle, kräftige, wohl proportionirte Gestalt schmiegte sich behaglich in das grüne Moos, und als er sich da bequem ausstreckte, überflog sie ihn mit einem Blicke, dem man ein schwer unterdrücktes Wohlbehagen anerkennen konnte.

»So, nun wollen wir ruhen und plaudern,« meinte sie; »aber wovon? Ah, da fällt mir gleich Etwas ein, was ich Sie fragen wollte! Wenn ich nur nicht denken müßte, daß Sie mir es übel nehmen möchten.«

Er blickte sie mit dem ungeheucheltsten Erstaunen an und fragte:

»Ich Ihnen Etwas übel nehmen? In meinem ganzen Leben nicht.«

»Nun wohl, so will ich Sie bitten, mir zu sagen, wie Ihre Familie zu dem Namen Schneeberg gekommen ist? Das ist für eine französische Zunge so schwer auszusprechen; das klingt so kalt, so eisig, daß man dabei frieren möchte. Stammen Sie etwa aus Lappland?«

»Meine Familie?« sagte er in einem schwermüthigen Tone. »Ich habe keine Familie; ich habe weder Vater noch Mutter.«

»Auch nicht einen Bruder oder eine Schwester, Monsieur Schneeberg?«

»Auch nicht, Mademoiselle.«

»So sind sie Alle gestorben? O, das ist ja traurig, sehr traurig!«

»Ob sie gestorben sind, das weiß ich nicht. Ich bin ein armes Findelkind gewesen.«

»Ein enfant trouvé«, ein Findelkind?« sagte sie, und sogleich trat auch ein mitleidiger Tropfen in ihr schönes, liebes Auge. »Sie armer Monsieur Schneeberg. Wie ist dies denn zugegangen?«

»Das will ich Ihnen sagen: Da wohnte ein armer Holzhacker zwischen den Bergen, der hatte eine Frau und sechs Kinder, aber nicht genug zu essen für sie alle; der wanderte eines Tages vom Gebirge hinab in die Stadt, um für seinen letzten Gulden Brod für die Seinen zu holen. Als er spät in der Nacht zurückkam, brachte er das Brod und dazu einen kleinen Jungen, den er auf der einsamen Straße unter einer hohen Schneewehe wimmern gehört hatte. Das war ich. Er machte Anzeige, aber es fand sich Niemand ein, mich zu reklamiren. Der Holzhacker war ein braver Mann und behielt mich. Da man nicht wußte, ob ich getauft worden sei, taufte man mich, und da erhielt ich, da ich unter einem Berge von Schnee gelegen hatte, den Namen Schneeberg. Mein Pflegevater starb, seine Frau kurze Zeit darauf, und ich kam mit seinen Kindern in das Armenhaus. Dort bin ich aufgewachsen, ohne Liebe, ohne Alles, was ein Kind glücklich macht. Ich habe in meinem Leben nur einen einzigen Menschen gefunden, der mir Liebe und Güte erwiesen hat.«

»Wer war das?«

»Mein Rittmeister.«

»Ah, Sie waren Soldat?«

»Ja, Kavallerist.«

»Aber welchen Beruf hatten Sie vorher erlernt?«

»O, ich könnte etwas vornehmer thun und sagen, daß ich Friseur gewesen sei; aber ich werde ehrlich sein und eingestehen, daß ich zuerst zu einem Barbier in die Lehre gegangen bin und erst später gelernt habe, Haartouren herzustellen.« Und mit einem trüben Lächeln setzte er hinzu: »Sie sehen, Mademoiselle, daß ich nichts, fast gar nichts bin in der Kette der menschlichen Gesellschaft.«

Da blickte sie ihn beinahe zornig an und sagte:

»Wo denken Sie hin, Monsieur! Sie mit Ihrem Muthe, Ihrem braven Herzen, Ihrem weichen, sanften Gemüthe wären unnütz: Sie haben mir das Leben gerettet! Sie haben mich auf Ihren Armen aus den Fluthen getragen; das ist gerade genug gethan für ein ganzes Leben. Millionen leben und sterben, ohne daß ihnen der Mensch das Leben, ja nur eine einzige Stunde seines Lebens verdankt. Eigentlich ist mein Leben Ihr wohl erworbenes Eigenthum, und wenn Sie darauf einen Anspruch machen, so bin ich Ihnen einen Dank schuldig, welcher so groß ist, daß ich ihn gar nicht abtragen kann. Sie fühlen jedenfalls Befähigung zu etwas Größerem in sich, als Sie jetzt sind. Wer sagt Ihnen denn, daß Sie kein höheres Ziel erreichen werden?«

Sie hatte sich in einen solchen Eifer hineingeredet, daß ihre Augen blitzten und ihre Wangen glühten. Es war ihr ein Herzensbedürfniß, ihn zu überzeugen, daß er mehr werth sei, als er selbst denke. Dabei war sie in Bewegung gekommen und hatte bei jedem Worte, welches sie betonte, den Nachdruck dadurch zu verstärken gesucht, daß sie ihren Gegenüber mit der Spitze ihres Fußes an die Achsel stieß. Daß dabei nicht nur ihre Stiefelette, sondern auch ein kleiner Theil ihres feinen, weißen Strumpfes frei vom Gewand erscheinen mußte, darauf hatte sie gar nicht geachtet.

Auf dieser weißen Stelle haftete Fritzen's Auge; aber es war kein unheiliger Gedanke, der ihn dabei beschlich, sondern sie kam ihm vor wie ein höheres Wesen, wie eine Schöpfung von unerreichbarer Schönheit, daß er froh sein müsse, den Klang ihrer silbernen Stimme hören und in die Tiefe ihres klaren, reinen Auges schauen zu dürfen.

Er legte die Hand auf sein klopfendes Herz, schloß die Augen und sagte:

»Sie haben Recht. Zanken Sie mich nur immer tüchtig aus! Ich bin der glücklichste Mensch; ich tausche mit keinem Andern, denn ich habe das unendliche Glück gehabt, das liebste und herrlichste Wesen der Welt auf meinen Armen zu tragen.«

Sie blickte ihn scharf an, da sie aber in seinen geschlossenen Augen nicht lesen konnte, so fragte sie:

»Wie meinen Sie das? Wer ist das liebste, herrlichste Wesen der Welt?«

Da schlug er die Augen wieder auf, richtete sie mit größtem Erstaunen auf sie und antwortete:

»Das wissen Sie nicht? Sie, natürlich, Sie sind es!«

»Ich?« fragte sie unter einem halben, melodischen Lachen. »Ich das herrlichste Geschöpf der Erde? O, wie irren Sie sich! Ich bin ein häßliches, unliebes Ding, welches sich sehr, sehr oft über sich selbst zu ärgern hat!«

»Wenn das ein Andrer von Ihnen sagte, so würde ich ihn mit dieser meiner Hand zu Boden schlagen, Mademoiselle; darauf können Sie sich verlassen! An Ihnen ist Alles gerade, so schön und rein und heilig wie an einer Fee, oder an einem Engel. Gerade so, wie Sie sind, habe ich mir als Kind die Engel vorgestellt, und dann sind sie mir im Traume erschienen. Warum haben denn auch Sie stets Flügel, wenn ich von Ihnen träume?«

»Ah, Sie träumen von mir?« fragte sie schnell.

»Ja, fast alle Tage. Und es ist dann stets nur Eins, was ich träume: Sie kommen mit goldenen Flügeln und einer goldenen Krone, um mir den Ort zu zeigen, an welchem ich meine Eltern finden werde.«

»O, wie gern würde ich das thun: wie gern würde ich Ihren Traum erfüllen, da ich Ihnen so sehr viel schuldig bin!«

Da richtete er sich halb empor; seine Wangen rötheten sich wie unter einem verwegenen Entschlusse, und seine Augen schienen tiefer und dunkler zu werden.

»Wenn Sie wirklich glauben, daß Sie mir so sehr viel schuldig sind,« sagte er, »so kann ich Ihnen ein Mittel angeben, diese große Schuld mit einem Male zu tilgen.«

»Reden Sie, Monsieur Schneeberg! Geben Sie mir dieses Mittel an!«

»Aber Sie werden es mir übel nehmen, Mademoiselle!«

»Ich? Ihnen? Nein! Ich kann Ihnen eben so wenig Etwas übel nehmen, wie Sie mir.«

Sein Gesicht erhellte sich, und in einem Tone, dem man es anhörte, daß es ihm schwer wurde, diese Worte auszusprechen, sagte er:

»Ich entbinde Sie von aller, aller Schuld gegen mich, wenn Sie mir nur ein allereinziges Mal die Erlaubniß geben, dieses schöne, kleine Händchen zu küssen, welches so weiß und zart da in Ihrem Schoose liegt.« Und als sie nicht sofort antwortete, setzte er hinzu: »Nicht wahr, nun sind Sie mir ernstlich bös? Nun habe ich Ihre ganze Güte verscherzt?«

Sie zögerte noch immer, ihm zu antworten; aber ihr Blick ruhte mit einem Ausdrucke unbewußter Innigkeit auf seinem jetzt erbleichten Gesichte. Wie oft war ihre Hand geküßt worden von faden, unausstehlichen Salonhelden, die nach Moschus rochen und nach Pommade dufteten, aber nicht im Stande gewesen wären, eine Fliege aus dem Wasser zu ziehen. Diese widerwärtigen Zwittergeschöpfe hatten sich, ohne zu fragen, Ihrer Hand bemächtigt, als eines Gutes, welches ihnen nicht entzogen werden könne. Und hier dieser Mann, der zwar ein einfacher, aber ein Mann im vollsten Sinne des Wortes war, bat sich diese Gunst aus, als das größte Glück, welches ihm widerfahren könne, als Aequivalent für ein theures, unbezahlbares Menschenleben. Wie blickten seine treuen Augen so ängstlich in ihr Angesicht! Es stieg ihr heiß aus dem Herzen empor, wie ein allmächtiges Gefühl, dem nicht zu widerstehen war.

»Diese Hand wollen Sie küssen?« fragte sie. »Nein; sie ist geküßt worden von Herren, von denen Hunderte mir nicht so viel werth sind wie Sie. Nicht die Hand, sondern die Wange will ich Ihnen geben. Kommen Sie, mein lieber Monsieur Schneeberg; küssen Sie mir die Wange, und dann soll von meiner Schuld noch immer nicht einmal das kleinste Theilchen getilgt sein!«

Sie glitt von den Pflanzen herab, welche ihr als Kissen dienten, knieete vor ihm hin und bot ihm in herzig kindlicher Weise ihr reizendes Köpfchen dar. Er legte die Hand leise, leise auf ihre zarte Schulter und berührte mit seinen Lippen noch leiser und vorsichtiger ihre erglühende Wange. Sie fühlte diese Berührung kaum; sie senkte das Köpfchen zur Seite, so daß ihre Wange fest an seinen Mund zu liegen kam, und dann fragte sie:

»So! War es so recht?«

Es war wie ein süßer, süßer Rausch über ihn gekommen. Sein Auge flammte auf; seine Brust hob und senkte sich, und sein Athem ging schneller, als er ihr antwortete:

»Mademoiselle, Sie haben mich einen Augenblick lang in den Himmel schauen lassen. Ich sage Ihnen, daß ich diese Stunde niemals vergessen werde. Nie, so lange ich lebe, wird es ein Mädchen geben, welches von meinen Lippen berührt wird. Der Mund, der Sie geküßt hat, ist geheiligt; er darf nie, nie entweiht werden.«

Sie knieete noch immer vor ihm. War es mädchenhafte Begeisterung, war es ein zarteres Gefühl, oder war es nur die reine Dankbarkeit, von welcher sie fortgerissen wurde – sie legte jetzt ihm beide Hände auf die Schultern und sagte unter der Gluth tiefster Erröthung:

»Für ein solches Opfer war dieser Kuß zu wenig; das muß ein anderer sein.«

Sie zog seinen Kopf näher an sich, legte ihre Lippen auf seinen Mund und küßte ihn ein, zwei, drei Male, so fest und innig, als ob sie seine Geliebte sei. Dann aber sprang sie auf, warf die nach vorn gefallenen Zöpfe über die Schultern und sagte:

»Nun aber kommen Sie. Wir haben lange genug ausgeruht, und es wird Zeit, daß ich nach dem Schlosse gehe.«

Auch er erhob sich. Er fühlte das Blut an seinen Schläfen pochen; er schien zu taumeln. Er sah nicht die Bäume und nicht die Sträucher; er sah nur sie, sie allein. Er legte beide Hände an seinen Kopf, um zu sehen, ob er auch wirklich noch er selbst sei, und dann führte er sie fort von der Stelle, ohne an den Kräutersack zu denken, den er liegen ließ.

Sie schritten eine Zeit lang schweigend durch den Wald, bis sie in lebhafter Erinnerung an das, was er ihr gesagt hatte, die Stille unterbrach:

»Ich erscheine Ihnen also im Traume und zeige Ihnen den Ort, an dem sich Ihre Eltern befinden?«

»Ja, Mademoiselle.«

»Träume sind Schäume, aber zuweilen spricht Gottes Stimme im Traume zu dem Menschen. O, wäre doch der Ihrige ein sicher gottgesandter Traum. Haben Sie denn gar keine Ahnung, wessen Kind Sie gewesen sein könnten?«

»Nein, nicht die mindeste.«

»Hat sich in der Kleidung, welche Sie trugen, kein Zeichen gefunden? Haben Sie denn gar, gar nichts bei sich gehabt, was der Vermuthung einen Anhalt geben könnte? Sind denn keine Nachforschungen angestellt, keine Erkundigungen eingezogen worden?«

»Ich habe in einem Pelzchen gesteckt, welches ganz aufgeweicht gewesen und später verloren gegangen ist. Im Hemdchen und Unterkleidchen sind Zeichen gewesen; da aber Alles naß war, so hat meine Pflegemutter Beides am Ofen aufgehängt, um es zu trocknen. Da ist beim Oeffnen durch einen unerwarteten starken Windstoß in die Esse die Flamme aus der Ofenthür geschlagen und hat sowohl das Kleidchen als auch das Hemd verzehrt. Außerdem hat ein dünnes, goldenes Kettchen an meinem Halse gehangen, mit einem großen Zahne, wie zum Spielen, oder in Folge des Aberglaubens, daß solche Mittel das Zahnen der Kinder erleichtern. Dieser Zahn war – – –«

Nanon war in höchster Ueberraschung stehen geblieben.

»Dieser Zahn war ein Löwenzahn?« unterbrach sie ihn rasch in einem Tone, welcher beinahe voller Angst erklang, daß er ihre Frage verneinen werde.

»Ich traf einst den berühmten Naturforscher Brehm,« antwortete er; »das heißt, ich hatte ihn zu rasiren, und wagte es, ihm den Zahn zu zeigen. Er erklärte ihn sofort für einen Reißzahn eines männlichen Löwen.«

Da schlug sie die Hände zusammen und rief:

»Mein Gott, ist das möglich? Der Reißzahn eines männlichen Löwen! Haben Sie ihn noch?«

»Ja. Ich trage ihn am Halse.«

»Zeigen Sie her! Zeigen Sie schnell!«

»Haben Sie einen Grund, ihn zu sehen, Mademoiselle?« erkundigte er sich.

»Ja, einen sehr triftigen Grund,« antwortete sie. »Also zeigen Sie her, schnell!«

Er öffnete die Blouse und die Weste, nestelte ein wenig am Halse und brachte dann ein feines, dünnes Goldkettchen zum Vorschein, an welchem ein großer, gelblich weißer, nach der Spitze zu leicht gebogener Zahn hing. Nanon nahm denselben in die Hand und betrachtete ihn.

»Verstehen Sie etwas von Heraldik?« fragte sie dann.

»Nein, nichts,« antwortete er.

»Nun, so sehen Sie einmal her! Welche Form hat die goldene Fassung des Zahnes?«

»Es ist eine Krone, Mademoiselle.«

»Ja, aber nicht etwa eine Phantasiekrone. Es ist ganz genau eine Grafenkrone mit Perlenzacken, und – ah!«

Sie betrachtete den Zahn genauer und untersuchte die Festigkeit, mit welcher er in der Fassung steckte. Dann stieß sie einen Ruf der Ueberraschung aus und sagte:

»Sehen Sie, Monsieur, daß der Zahn sich drehen läßt! Haben Sie das noch nie versucht?«

»Nein, niemals,« antwortete er, mit Spannung auf ihre kleinen weißen Fingerchen blickend, welche mit Anstrengung an dem Gegenstande herumarbeiteten.

»Jetzt!« rief sie. »Jetzt geht es! Sehen Sie, daß man schrauben kann? Der Zahn ist mit einem Gewinde versehen und läßt sich abschrauben. Hier, blicken Sie her!«

Es gelang ihr, den Zahn aus der Krone zu schrauben, und nun zeigte sich eine Merkwürdigkeit, welche allerdings geeignet war, die Beiden in Erstaunen zu setzen. Die natürliche Höhlung des Zahnes war nämlich erweitert worden und enthielt ein feines Elfenbeinblättchen, dessen eine Seite das wunderbar künstlerisch ausgeführte Miniaturporträt einer sehr schönen jungen Frau zeigte. Darunter standen die Buchstaben und Zahlen H. v. G. 1845. Die andere Seite enthielt den Kopf eines stattlichen Mannes, und darunter war zu lesen: K. v. G. 1845.

Nanon betrachtete das Porträt der Dame sehr aufmerksam und sagte dann:

»Sie ist es; ja, sie ist es; ich erkenne sie wieder, obgleich sie älter aussah, als hier auf dem Bilde. Monsieur Schneeberg, diese Frau muß Ihre Mutter sein und der Herr Ihr Vater!«

Fritz stand da ganz ohne Bewegung. Er wußte gar nicht, wie ihm geschah. Eine Grafenkrone! Und diese beiden Personen sollten seine Eltern sein! Es war ihm, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen.

»Sie kennen diese Dame?« fragte er.

»Ja und nein, Monsieur,« antwortete Nanon. »Es war nämlich in Paris während einer Soiree, als mir eine sehr schöne Dame auffiel, da sie ganz in Schwarz gekleidet ging. Ich erkundigte mich, wer sie sei, und man sagte es mir. Ich habe den Namen wieder vergessen. Sie war eine Deutsche und zwar die Frau eines preußischen Generales. Ich erfuhr, daß sie stets in Schwarz gehe, weil sie den schrecklichen Verlust zweier Kinder betrauere.«

»Die gestorben waren?«

»Nein, sie waren ihr auf einer Reise abhanden gekommen, und nicht wiederzufinden gewesen. Etwas Weiteres konnte ich nicht erfahren. Nur das sagte man mir, es sei sehr zu verwundern, daß man die Verschwundenen nicht entdeckt habe, da ihre Kleidchen gezeichnet gewesen seien und jeder der Zwillinge einen Löwenzahn an einem feinen Goldkettchen am Halse getragen habe; es sei also sehr zu vermuthen, daß ein Verbrechen vorliege.«

»Den Ort, an welchem die Kinder verloren gegangen sind, wissen Sie nicht?«

»Nein. Ich habe mit der Dame selbst gar nicht gesprochen, und das, was ich Ihnen jetzt gesagt, erfuhr ich so nebenbei, wie ja die Unterhaltung oft von Einem auf das Andere springt. Seit jener Soiree sind bereits zwei Jahre vergangen, und man sagte mir, daß die Dame wohl über zwanzig Jahre getrauert habe.«

»Wenn Sie doch den Namen wüßten, Mademoiselle!« stieß Fritz hervor.

»Ich werde ihn erfahren, ganz gewiß! Ich werde an die Freundin schreiben, welche damals die Gesellschaft bei sich gab, und den Namen der Generalin ganz sicher erfahren. Verlassen Sie sich darauf, daß ich noch heute den Brief verfassen werde!«

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle!« sagte er. »Seit der Zeit, in welcher ich denken lernte, habe ich mich gesehnt, meine Eltern zu finden. Ich habe mitten im Wege im Schnee gelegen; ich hin also wohl verloren worden und gehöre nicht zu jenen unglücklichen, kleinen Geschöpfen, welche von ihren Eltern verleugnet und mit Absicht ausgesetzt und einer ungewissen Zukunft überantwortet werden. Ich habe mir stets gesagt, daß meine Eltern mich gegen ihren Willen verloren haben und einen immerwährenden Kummer, eine nie gestillte Sehnsucht nach mir im Herzen tragen müssen. Darum habe ich oft heiß und innig zu Gott gebetet, mich wieder mit ihnen zusammenzuführen. Darnach, ob sie reich oder arm, vornehm oder gering sind, habe ich nie gefragt. Ja, ich gestehe Ihnen, daß es mir lieber sein würde, der Sohn eines armen, als der eines vornehmen Mannes zu sein, da ich die Bildung nicht genossen habe, welche mich befähigte, den Anforderungen einer höheren Lebensstufe Genüge zu leisten. Ich habe die Hoffnung, daß Gott mein Gebet erhören werde, niemals sinken lassen. Es ist ein schöner Kinderglaube, daß Gott seine Engel sendet, wenn er die Bitte eines Sterblichen erfüllen will; ich habe diesen Glauben stets festgehalten, und als Sie mir im Traume als Engel erschienen, da war es mir, als sei es eine Sünde, an Ihrer Sendung zu zweifeln. Jetzt nun will mir der Beweis werden, daß dieser Traum nicht zu den Schäumen gehöre. Der erste Fingerzeig nach den Eltern wird mir durch Sie. Sollte mir die Seligkeit bescheert sein, jene zu finden, so werde ich Sie als einen Boten Gottes verehren, so lange ich lebe, und bis zu meiner Todesstunde werde ich den heutigen Tag segnen, der mir die Offenbarung gebracht hat, daß wir die Seligkeit nicht allein in der Bibel und nicht nur jenseits der Grenze dieses Erdenlebens zu suchen haben!«

Seine Worte hatten einen herzlichen, innigen Klang. Seine Augen waren mit einem Ausdruck auf sie gerichtet, wie der Betende eine Heilige oder die Madonna anschaut. Seine Lippen zuckten leise unter den Gefühlen, welche in diesem Augenblicke sein Herz erfüllten. Sie sah es; sie hörte nicht nur den seelentiefen Klang seiner Stimme, nein, sie fühlte ihn auch; er drang ihr in die heimlichsten Räume ihres Herzens hinab. Und aus diesen Räumen stieg ihr eine Regung empor, so rein und innig, so süß und traut, wie sie im ganzen Leben noch nie gefühlt hatte. Sie reichte ihm die Kette mit dem Löwenzahne hin und sagte:

»Es kann jeder Mensch ein Engel sein, wenn er dem Gebote Gottes folgt, welches Liebe und Erbarmung predigt. Ich würde sehr glücklich sein, daß Ihr Traum durch mich in Erfüllung geht. Ich bin so gespannt auf die Antwort meiner Freundin, als ob ich selbst das verlorene Kind sei, welches seine Eltern sucht. Wo aber kann ich Sie finden, um Ihnen diese Antwort mitzutheilen?«

»Bei Doctor Bertrand, bei welchem ich ja wohne, Mademoiselle.«

»Gut. Sie sollen keine Minute auf mich zu warten haben. Jetzt aber kommen Sie, damit ich endlich den Weg nach dem Schlosse finde!«

Er hing die Kette wieder um und führte sie dann weiter. Sie erreichten bald einen gebahnten Weg, aber er verließ sie nicht eher, als bis sie sich dem Schlosse soweit genähert hatten, daß sie es sehen konnten. Da nahmen sie Abschied von einander. Ihm war es dabei, als ob er dem Schlosse das höchste, köstlichste Gut der Erde anvertraue, und sie trennte sich von ihm mit der Ueberzeugung, daß dieser Mann es werth sei, die Gunst des Schicksals in höherem Grade zu erringen, als bisher.

Als sie hinter den Bäumen und Sträuchern des Parkes verschwunden war, drehte er sich um und kehrte langsam in den Wald zurück. Es war ihm, als sei er in der letzten Stunde ein ganz anderer Mensch geworden. Dieses schöne, herrliche Wesen hatte ihn geküßt. Er fühlte den warmen, weichen Druck ihrer Lippen noch jetzt auf den seinigen. Es deuchte ihm, als sei er durch diese Berührung gefeit gegen alles Unglück des Erdenlebens, als habe er eine Weihe erhalten, die ihn berechtigte, sein Auge selbstbewußter aufzuschlagen, als bisher. Er fühlte eine Spannung in seinem Innern und Aeußeren, in seiner Seele und in seinem Körper, einen Drang, seine Kraft zu bethätigen, eine Sehnsucht nach Thaten, durch welche er der Geliebten ebenbürtig werden könne.

Der Gedanke, daß der Zahn in eine Grafenkrone gefaßt war, machte ihm gar wenig zu schaffen. Dieser Umstand konnte ein sehr trügerischer sein und gab ihm noch lange nicht die Berechtigung zu der Annahme, daß er der Sohn eines Grafen sei. Ganz im Gegentheile, der nächste Gegenstand, welcher ihn beschäftigte, war sein Kräutersack, welchen er vergessen hatte. Er wollte ihn aber nicht liegen lassen und schritt also der Gegend wieder zu, in welcher der Ort lag, wo er mit Nanon gesessen hatte.

Dort angekommen, fand er den liegen gelassenen Gegenstand. Er hob ihn nicht sogleich auf, um sich zu entfernen, sondern er legte sich langsam wieder nieder, gerade an derselben Stelle, auf welcher er vorher gelegen hatte. Und nun stellte er sich vor, daß auch sie wieder da vor ihm auf dem Kräutersack liege. Er sah die sanften Züge ihres Gesichtes, den reinen, kindlichen Blick ihrer blauen Augen; er hörte den seelenvollen Ton ihrer Stimme und vergegenwärtigte sich jedes Wort, welches sie gesprochen hatte. Er schloß die Augen und träumte von ihr, träumte so lange, daß er fast erschrak, als er die Augen öffnete und da bemerkte, daß es bereits zu dunkeln begann.

»Sapperlot,« sagte er zu sich, »da liege ich und vergesse meine Pflicht. Ich muß ja nach dem Thurme, um dort meinen Posten zu beziehen! Vorwärts, Fritz; das Sinnen führt zu nichts; es muß gehandelt sein!«

Er erhob sich, warf den Sack auf seine Schulter und verließ den Ort.

Aber er war doch noch nicht ganz Herr seiner Gedanken, denn er schritt in ganz entgegengesetzter Richtung fort, als nothwendig gewesen wäre, um den Thurm zu erreichen. Zunächst bemerkte er seinen Irrthum nicht. Es war schnell dunkel geworden, und da ein Baum dem anderen ähnlich sieht, so war eine Täuschung leicht möglich. Nach einer längeren Zeit jedoch blieb er stehen, um sich zu besinnen.

»Was ist denn das?« fragte er sich. »Ich bin bereits eine halbe Stunde gelaufen, und müßte also schon längst irgend einen Weg erreicht und gekreuzt haben. Ich hoffe nicht, daß ich vielleicht gar im Kreise gehe, wie es einem im Walde leicht passiren kann!«

Er ging weiter. Es wurde immer dunkler, und der Wald nahm an Dichtigkeit zu. Er konnte bald nur noch durch das Gefühl die Bäume von einander unterscheiden und mußte sich oft bücken, um unter den niedersten Aesten hinwegzukommen.

»Ja, ich habe mich richtig verlaufen,« dachte er. »Soll ich umkehren? Nein; das würde die Sache nur verschlimmern, denn den Ort, von dem ich ausgegangen bin, finde ich in dieser Finsterniß doch nicht wieder. Dieser Forst ist kein unendlicher Urwald; wenn ich immer geradeaus gehe, komme ich doch heraus. Also weiter!«

Er hielt sich immer in der nun einmal eingeschlagenen Richtung. Freilich mußte er sich forttasten und konnte also keine raschen Schritte machen. So war er weit über eine Stunde gewandert, als sich plötzlich der Wald, gerade als er am dichtesten schien, öffnete, und den mit Sternen besetzten Himmel sehen ließ. Fritz blieb stehen, um sich zu orientiren.

Sonderbar! Gerade vor ihm, keine zwanzig Schritte entfernt, erhob sich eine hohe, dunkle Masse, so compact und lückenlos, daß sie keine Bäume sein konnte. Er ging darauf zu und betastete sie. Es war eine steinerne Mauer, welche er fühlte. Er blickte an ihr empor, gegen den Sternenhimmel und gewahrte da, daß ihre obere Linie höchst unregelmäßig lief. Hier und dort hoch auf der Erde liegendes Geröll belehrte ihn, daß er wahrscheinlich vor einer Ruine stehe. Die Ruine des Thurmes aber war es nicht; das wußte er gewiß.

Das Gemäuer war sehr hoch und schien sich auch nach rechts und links weit hinzuziehen, er vermuthete, daß es die hintere Wand eines einst sehr ausgedehnten Bauwerkes sei. Er wendete sich zur Seite und schritt an der Mauer hin. Der umherliegende Schutt machte ihm das Gehen schwer, und er erreichte die Ecke, ohne einen Eingang oder eine sonstige Oeffnung bemerkt zu haben. Jetzt bog er um die Ecke. Ein Blick gegen den Himmel belehrte ihn, daß das Gebäude hier eine größere Höhe habe. Es zeigte mehrere übereinanderliegende Fensterreihen, welche aber kein einziges Glas mehr zu enthalten schienen.

Hier auf dieser Seite schien das Mauerwerk besser erhalten zu sein, denn auf dem Boden lagen keine Trümmer, und nur zuweilen stieß sein Fuß an einen herabgefallenen Steinbrocken, sonst aber fühlte er nichts als weiches Gras, welches seine Schritte fast unhörbar machte. So war er eine bedeutende Strecke diesseits an der Mauer hingegangen, als es ihm war, als ob er nahende Schritte hörte. Sofort sprang er von der Mauer fort und links hinüber unter die Bäume, wo er nicht mehr bemerkt werden konnte.

Er sah sehr bald, daß er sich nicht getäuscht habe, denn kaum hatte er sich unter die Bäume niedergeduckt, als er drei Gestalten bemerkte, welche näher kamen, gerade daher, von woher auch er gekommen war. Vorher hatte er nur den Schall ihrer Schritte gehört, jetzt aber vernahm er auch ihre Stimmen, denn sie sprachen miteinander.

»Heute hätte ich nicht erwartet, das Zeichen auf der Linde zu sehen,« sagte der Eine.

»Es muß eine außerordentliche Veranlassung sein, welche den Alten treibt, uns zusammenkommen zu lassen,« bemerkte der Andere.

»Ich vermuthe diese Veranlassung,« meinte der Dritte.

»Nun, was mag es sein?«

»Der Alte hat vornehmen Besuch bekommen. Ich war in Thionville und sah, daß er Besuch abgeholt hatte. Er saß mit zwei Herren im Wagen, und mehrere Diener folgten in der zweiten Kutsche. Das steht jedenfalls in Beziehung zu unserer Versammlung.«

Damit waren sie vorübergeschritten, und Fritz konnte nichts weiter verstehen. Aber er hatte doch so viel gehört, daß hier eine geheime Zusammenkunft abgehalten werden solle. Er hielt es für wichtig, mehr über dieselbe zu erfahren. Darum versteckte er seinen Sack unter eine junge Buche, deren niedere Aeste sich fast bis zum Boden erstreckten, so daß man ihn, zumal jetzt bei Nacht, nicht entdecken konnte. Sodann fühlte er in die Taschen, um sich zu überzeugen, daß er seine Waffen noch bei sich habe, und nun trat er unter den Bäumen hervor und folgte den drei Männern, natürlich leise und vorsichtig, um nicht bemerkt zu werden.

Es gelang ihm, ihnen so nahe zu kommen, daß das Geräusch ihrer Schritte an sein Ohr drang, aber sich ihnen noch weiter zu nähern, hielt er nicht für rathsam.

Er war ihnen nur eine kleine Strecke gefolgt, so hörte er einen Anruf, auf welchen drei Stimmen ganz dieselbe Antwort zu geben schienen. Im nächsten Augenblicke waren die Schritte verklungen; er konnte sie trotz allen Lauschens nicht mehr vernehmen.

Was war das? Stand hier ein Posten, eine Schildwache?

Er glitt ganz leise vorwärts. Er hörte vor sich ein leises Räuspern und hielt an. Eine breite, dunkle Stelle in der Mauer des Gebäudes ließ ihn vermuthen, daß sich hier ein Thorweg befinde. Unter diesem stand jedenfalls der Mann, welcher soeben einen Hustenreiz unterdrückt hatte. Fritz trat wieder hinüber unter die Bäume und glitt da vorwärts, bis er sich dem Thore gegenüber befand.

Hier nun sah er eine tiefe, breite Durchfahrt, in deren hinterem Theile das Licht einer Blendlaterne einen Schein verbreitete, welcher eher im Stande war, die Finsterniß noch dichter erscheinen zu lassen, als sie zu erhellen. Diese Durchfahrt war mit keinem Thore versehen, und gegen den Schein der Blendlaterne zeichnete sich die Gestalt eines Mannes ab, welcher im Eingange stand und mit einem Gewehre bewaffnet war.

Fritz hatte diese Beobachtungen kaum gemacht, als er wieder Schritte hörte. Sie kamen von der anderen Seite her. Es war ein Mann. Als er das Thor erreichte, fragte die Wache:

» Qui vive – Wer da?«

» Un défenseur de la France – ein Vertheidiger Frankreichs,« lautete die Antwort.

» Il passe – er kann passiren!«

Auf diesen Bescheid des Postens trat der Mann ein, durchschritt die Durchfahrt, und verschwand dann im Dunkel des hinter ihr liegenden Raumes.

Fritz fragte sich, was nun zu thun sei. Er war sich sehr im Zweifel darüber.

»Das Beste ist, zu fragen, was mein Rittmeister, oder vielmehr mein Doctor Müller, jetzt an meiner Stelle thun würde,« sagte er zu sich. »Es handelt sich um eine geheime Zusammenkunft, welche jedenfalls hochpolitischer Natur ist. Um etwas Näheres über sie zu erfahren, muß man sie belauschen, und um sie zu belauschen, muß man eintreten. Das ist zwar unter allen Umständen verteufelt gefährlich, aber ich bin überzeugt, daß der Herr Rittmeister es wagen würde. Warum du nicht also auch, Fritz? Erwischen sie mich, nun, so hatte ich mich verirrt, und war vor Ermüdung in dieser Ruine eingeschlafen. Die Hauptsache ist, zu erfahren, ob die Parole, welche ich soeben gehört habe, für Alle gilt. Ich werde dies also abwarten.«

Er setzte sich nieder und wartete. Es kamen in kurzer Zeit von rechts und links mehrere Leute, welche alle in der Weise angerufen wurden und auch genau so antworteten, wie er vorhin gehört hatte. Da trat er also, kurz entschlossen, unter den Bäumen hervor und schritt auf den Eingang zu, als ob er die Localität ganz genau kenne.

» Qui vive – Wer da?« frug der Posten.

» Un défenseur de la France – ein Vertheidiger Frankreichs,« antwortete er.

» Il passe – er kann passiren!« lautete der Bescheid.

Fritz trat ein, schritt durch den Gang, bei der Laterne vorbei und befand sich nun, wie er bemerkte, in einem großen, viereckigen Hof, der rings von hohen Gebäuden umgeben zu sein schien. Mauern konnten es nicht sein, welche das Viereck bildeten, denn diese wären nicht so hoch gewesen, und zudem war es ihm ganz so, als ob er zahlreiche dunkle Fensteröffnungen erkenne. Und bei weiterer Aufmerksamkeit bemerkte er, daß an den vier Ecken das dunkle Mauerwerk höher emporragte, als an den Seiten.

Er beschloß daher, zunächst den Hof zu umschleichen, um sich zu orientiren. Während er dies that, überzeugte er sich, daß an jeder Ecke einst ein Thurm gestanden hatte. Alle vier waren mit einem schmalen Eingang versehen. So groß das Viereck aber auch war, und so viele Fenster es auch hatte, keines derselben war erleuchtet.

Wohin gingen alle die Leute, welche er auch jetzt noch kommen hörte? Er beobachtete sie und bemerkte, daß sie im Eingange eines dieser Thürme verschwanden. Ganz tief unten in diesem Eingange sah er ein Licht glänzen.

Gab es da unten auch eine Parole, eine Losung? Das mußte er erfahren. Er legte sich hart am Eingange, dicht an der Mauer, auf den Boden und wartete. Nach einer Welle kam Einer dahergeschritten. Während er eintrat, fiel der Lichtschein auf sein Gesicht, und da bemerkte Fritz, daß der Mann eine schwarze Maske trug.

Er horchte. Als der Mann mehrere Schritte gegangen war, ertönte die Frage:

» La légitimation

» Je meurs pour la patrie – ich sterbe für das Vaterland!« antwortete er.

» Avance – gehe weiter!«

Fritz blieb noch eine Weile liegen und beobachtete, daß alle Ankommenden diese schwarze Maske trugen. Es waren auch immer dieselben Worte, mit denen sie angerufen wurden, und welche sie antworteten. Dann verschwanden sie im Hintergrunde.

»Ach, wenn ich auch eine Larve hätte, so wäre Alles gut. Es ist fast gewiß, daß die Maske gar nicht abgelegt wird, damit sich die Verschwörer nicht untereinander erkennen. Das würde mir meine vollständige Sicherheit garantiren. Aber, beim Teufel, ist es denn so ganz unmöglich, sich ein solches Ding zu verschaffen? Pah! Ich nehme einen dieser Kerls bei der Gurgel, dann habe ich ja sogleich das, was ich brauche.«

Gesagt, gethan. Er erhob sich und huschte etwas weiter zurück, so daß er gerade in die Mitte zwischen dem Hauptthore und dem Thurme kam. Dort duckte er sich nieder und wartete. Bereits nach wenigen Augenblicken kam ein Mann. Fritz ließ ihn vorüber, erhob sich aber schnell hinter ihm, faßte ihn mit beiden Händen an der Gurgel und drückte ihm dieselbe so fest zusammen, daß der Mann keinen Laut ausstoßen konnte. Er sank auf den Boden nieder und blieb da lang ausgestreckt liegen. Fritz faßte ihn an und trug ihn in die entfernteste Ecke. Dort untersuchte er ihn. Der Mann trug eine Blouse, wie dort gebräuchlich, welche mit einem Gürtel um die Hüften befestigt war. Fritz nahm den Letzteren und zerschnitt ihn in drei lange Riemen, mit denen er die Arme und Beine des Mannes in der Weise fesselte, daß sich derselbe nicht regen konnte. Dann nahm er ihm die Maske vom Gesicht, und steckte ihm sein eigenes Taschentuch in den Mund, so daß es ihm unmöglich war, um Hilfe zu rufen, falls er erwachte. Die Maske band er nun sich selbst vor, und schritt dem Thore zu.

Er gestand sich selbst ein, daß es ein höchst gefährliches Wagestück sei, welches er unternahm, aber der muthige Unterofficier bebte vor Nichts zurück; es galt ja, dem Vaterlande und seinem Rittmeister einen Dienst zu erweisen. Ueberdies hatte das Zusammentreffen und die Unterredung mit Nanon ihn in eine Art von Begeisterung versetzt. Sie hatte ihm gesagt, daß er befähigt sei, höhere Ziele zu erreichen. Diese Worte klangen ihm noch jetzt im Ohre, und, um sie zu bewahrheiten, mußte er Thaten vollbringen; durch Träumereien erreicht man niemals einen Zweck.

Er trat beherzt im Thurme ein und schritt auf das Licht zu. Dort stand abermals ein Posten, welcher mit einem Gewehre bewaffnet war. Er hielt ihm dasselbe entgegen und fragte:

» La légitimation

» Je meurs pour la patrie – ich sterbe für das Vaterland,« antwortete Fritz. Und damit hatte er ja keine Unwahrheit gesagt, er bewies ja durch seine gegenwärtige Kühnheit, daß er bereit sei, für sein Vaterland das Leben zu wagen. Freilich war bei ihm unter Vaterland nicht Frankreich, sondern Deutschland zu verstehen.

» Avance – gehe weiter!«

Bei diesen Worten nahm der Posten sein Gewehr zurück und ließ Fritz passiren.

Dieser befand sich jetzt in einem engen Gange, der in gewissen Entfernungen von Lampen erleuchtet war. Dieser Gang endete an einer Treppe, welche in die Tiefe führte. Fritz stieg hinab und gelangte in einen ähnlichen Gang, welcher an einer Thür endete, welche nur angelehnt war. Er öffnete, und befand sich in einem großen, unterirdischen Saale, in welchem sich bereits mehrere hundert Menschen befanden, welche alle maskirt waren. Der Raum war von mehreren großen Leuchtern ziemlich gut erhellt. An der hintersten Wand gab es eine Erhöhung, auf welcher mehrere Stühle standen.

Die Anwesenden verhielten sich vollständig schweigsam. Sie standen wortlos Einer neben dem Anderen und erwarteten bewegungslos, was da kommen werde.

Nach und nach kamen immer mehr, so daß sehr bald der Saal vollständig gefüllt war. Jetzt trat einer der Anwesenden zur Thür, zog einen riesigen Schlüssel hervor und verschloß sie. Beim Kreischen des alten Schlosses durchschauerte es den Deutschen. Es war ihm, als ob er sich in eine hoffnungslose Gefangenschaft begeben habe.

Kaum war der Eingang verschlossen, so ertönte eine Glocke, und im Hintergrunde öffnete sich eine zweite Thür. Drei Männer traten herein und bestiegen die Erhöhung. Zwei von ihnen nahmen auf den Stühlen Platz, der Dritte aber blieb stehen. Unter seiner schwarzen Halbmaske blickte ein großer, eisgrauer Schnurrbart hervor. Wer den alten Capitän von Schloß Ortry nur ein einziges Mal gesehen hatte, der konnte gar nicht im Zweifel darüber sein, daß er es war, der dort auf dem Podium stand.

Die Glocke ertönte abermals, und der Alte erhob die Hand, zum Zeichen, daß er sprechen wolle.

»Ich habe heute das Zeichen zur Versammlung gegeben,« begann er, »um Euch zu sagen, daß endlich die Zeit gekommen ist, zur That zu schreiten. Diese That erfordert Vorübungen, und so habe ich den Entschluß gefaßt, Euch die Waffen –«

Er hielt plötzlich inne und lauschte. Er und alle Anwesenden hatten drei rasche Schläge gehört, welche am vorderen Eingang geschahen. Die Schläge wiederholten sich, und sogleich ließ sich eine außerordentliche Unruhe unter der Versammlung bemerken.

Der Posten, welcher am Haupteingange stand, hatte nämlich geglaubt, seiner Pflicht genügt zu haben und sich, als seiner Meinung nach der letzte Mann eingetreten war, nach dem Hofe begeben wollen, als noch Einer erschien. Dieser wurde von ihm angeredet wie die Anderen und gab die vorgeschriebene Antwort. Er mußte also eingelassen werden. Aber der Posten schüttelte den Kopf.

»Sollte ich mich verzählt haben?« murmelte er. »Es ist Einer zu viel. Ich werde, um sicher zu sein, doch nach dem Thurme gehen, um mich zu erkundigen.«

Er trat in den Hof. Er war gewiß mißtrauisch geworden, und das Mißtrauen schärft unter solchen Umständen die Sinne. Er blieb stehen, um zu horchen, und da war es ihm, als ob er ein unterdrücktes, angstvolles Stöhnen vernehme.

»Was ist das?« fragte er sich. »Das klingt ja gerade so, als ob Einer ersticken oder abgewürgt werden solle. Die Töne kommen von dort herüber.«

Er nahm sein Gewehr in Anschlag und schritt der Richtung entgegen, die er angegeben hatte. Er kam so in die dem Versammlungsthurme gegenüberliegende Ecke. Das Stöhnen war, je näher er kam, immer vernehmlicher geworden, und nun sah er eine dunkle Masse vor sich liegen, welche diese Töne ausstieß. Er bückte sich vorsichtig nieder und erkannte, daß es ein Mensch war, der am Boden lag.

»Alle Teufel, wer ist das?« fragte er.

Ein abermaliges Stöhnen antwortete. Es schien aus der Nase des Daliegenden zu kommen. Der Posten bückte sich nieder, um diesen zu betasten.

»Ah, gefesselt und gar geknebelt!« sagte er. »Warte einmal!«

Er zog dem Manne das Tuch aus dem Munde, welches nicht verhindert hatte, daß dieser durch die Nase wimmern konnte, und fragte ihn:

»Bist Du ein Bruder?«

»Mein Gott, ja,« lautete die Antwort, »ein Vertheidiger Frankreichs.«

»Das stimmt. Aber nun sage auch das Paßwort! Wie lautet die Legitimation?«

»Ich sterbe für Frankreich!«

»Richtig! Aber wie bist Du denn zum Teufel in diese Lage gekommen?«

»Das werde ich Dir erzählen; nur löse mir vorher die verdammten Fesseln!«

»Werde mich wohl hüten! Erst muß ich mich überzeugen, ob ich es auch darf.«

»Nun,« erzählte der Andere, »ich war an Dir vorüber und ging nach dem Thurme; da faßte mich Jemand von hinten und drückte mir den Hals so fest zusammen, daß ich die Besinnung verlor. Als ich wieder zu mir kam, lag ich gefesselt und geknebelt hier in der Ecke. Glücklicher Weise konnte ich durch die Nase stöhnen. Du hast das gehört. Eile, um anzuzeigen, daß ein Verrath im Werke ist!«

»Donnerwetter, das genügt, um Dich zu erlösen! Aber wo ist Deine Maske?«

»Sie ist mir jedenfalls von Dem, welcher mich würgte, abgenommen worden.«

»Ah, er hat keine mitgehabt und brauchte sie, um in die Versammlung zu kommen. Das ist ein muthiger, ein gefährlicher Mensch; der muß festgenommen werden!«

Er löste die Riemen, und nun eilten die Beiden nach dem Thurme. Dort erkannten die beiden Posten beim Scheine des Lichtes den gefesselt Gewesenen. Es war ein Bewohner der Umgegend, gegen den man kein Mißtrauen haben konnte.

»Gehe heim,« sagten sie, »damit die Anderen Dich nicht erkennen, da Du jetzt keine Maske mehr hast. Wir werden sogleich Anzeige machen.«

Während er sich entfernte, eilten sie durch Gänge und Treppen hinunter und gaben an der verschlossenen Thür durch drei Schläge das Zeichen, welches für solche Fälle vereinbart worden war. Der alte Capitän hielt also in seiner Rede inne, und als die Schläge sich wiederholten, eine Täuschung also nicht möglich war, gebot er:

»Ich befehle, ruhig zu bleiben. Eine Gefahr für Euch giebt es nicht!«

Er stieg von der Erhöhung herab und durchschritt den Saal, um nach dem Eingange zu gelangen. Derselbe Mann, welcher die Thür vorhin verschlossen hatte, öffnete ihm dieselbe und ließ ihn hinaus. Keiner der Anwesenden sprach ein Wort, obgleich sich alle jedenfalls in der außerordentlichsten Spannung befanden.

Fritz hatte einen Platz gerade in der Mitte der einen Mauerseite gefunden. Es war ihm nicht wohl zu Muthe. Sollte er fliehen, jetzt, wo der Eingang geöffnet war? Er hätte draußen jedenfalls einen Kampf zu bestehen gehabt und wäre sicher von der ganzen Versammlung verfolgt worden. Uebrigens war es ja noch gar nicht gewiß, daß diese Störung sich auf ihn bezog: sie konnte ja eine ganz andere Veranlassung haben. Er beschloß also, zu warten, dachte aber unterdessen nach, auf welche Weise er sich retten könne, wenn man wirklich entdeckt habe, daß sich ein fremder Eindringling im Saale befinde.

Er mußte sich sagen, daß der Eingang in diesem Falle ganz sicher verschlossen werde. Vielleicht aber blieb die Thür unverschlossen, durch welche die Drei eingetreten waren, welche die Dirigenten dieser Zusammenkunft zu sein schienen.

Wie aber diese Thür erreichen, ohne aufgehalten zu werden? Er blickte sich im Saale forschend um und machte eine Entdeckung, welche ihn mit innerer Freude erfüllte. Die vier Leuchter nämlich, welche den Raum erhellten, hingen an Schnuren, welche oben an der Decke hinliefen, und sich dann an der Seitenmauer an einen Nagel vereinigten, welcher kaum drei Schritte von Fritz entfernt war. Das war ein höchst günstiger Umstand für ihn. Er schob sich also, während der alte Capitän sich draußen von den Posten informiren ließ, ganz langsam an der Mauer hin, so daß man seine Absicht gar nicht bemerken konnte, und kam auch glücklich so zu stehen, daß er den Nagel mit einem schnellen Griff erreichen konnte.

Ein anderer Umstand mußte ihm eben so günstig werden, nämlich der, daß die meisten Anwesenden gerade so wie er selbst, mit blauen Blousen bekleidet waren.

Da endlich trat der Alte wieder ein. Auf seinen Wink wurde die Thür sorgfältig wieder verschlossen, und die beiden Posten, welche mit ihm eingetreten waren, pflanzten sich mit ihren Gewehren vor derselben auf. Er schritt auf das Podium zu und erklärte, als er auf demselben Platz genommen hatte:

»Ich verlange, daß Niemand seinen Platz verläßt! Es ist ein Verräther unter uns. Einer der Unserigen ist droben im Hofe meuchlings überfallen und so gewürgt worden, daß er die Besinnung verloren hat. Man hat ihn gefesselt und geknebelt und ihm die Maske abgenommen. Der Thäter befindet sich unter uns, denn im Gange ist die Zahl der Unserigen richtig gewesen, während am Thore einer zu viel gewesen ist.«

Er machte eine Pause, welche von keinem Laute unterbrochen wurde, und fuhr dann fort:

»Ich habe bisher Gründe gehabt, Vorkehrungen zu treffen, daß Keiner von Euch den Anderen kennt; darum gebot ich, daß ein jeder in Maske erscheine. Diese Gründe bestehen auch heute noch; ich kann also nicht verlangen, daß sich die Versammlung demaskire; aber ich kenne einen jeden Einzelnen genau. Es mag einer nach dem Anderen herbeikommen und hier bei mir seine Maske lüften; der Verräther wird sicher entdeckt und unschädlich gemacht. Tretet in geordneten Reihen zusammen; damit kein Irrthum entsteht, mag ein jeder seinen Nachbar beaufsichtigen, daß es dem Fremden nicht gelingt, sich unter Diejenigen zu stellen, welche sich hier bei mir als Brüder ausgewiesen haben!«

In Folge dieses Befehles entstand eine Bewegung im Saale, welche dem Deutschen Gelegenheit gab, seinen Vorsatz auszuführen. Während die Anwesenden sich Mühe gaben, in Reihe und Glied zu gelangen, erhob er mit einer gedankenschnellen Bewegung den Arm – ein kräftiger Ruck, und der Nagel fuhr aus der Wand. In demselben Augenblicke stürzten sämmtliche vier Lampen von der Decke herab auf die Köpfe der sich darunter Befindenden. Die Lampen waren mit Petroleum gefüllt. Die Schirme und Cylinder zerbrachen auf den Köpfen; das Oel ergoß sich über sie; einer der Ballons explodirte; da, wo dies geschah, zischte eine grelle Flamme empor, während übrigens tiefes Dunkel herrschte. Diese Flamme ergriff die Kleider der Verletzten. Angstvolle Rufe erschollen; eine ungeheure Verwirrung entstand. Mit den geordneten Reihen war es aus.

» Sauve qui peut – rette sich, wer kann!« riefen hundert Stimmen.

Bei der Menge der Anwesenden standen diese dicht gedrängt. Diejenigen von ihnen, deren Kleider in Brand gerathen waren, brüllten vor Angst und Schmerz; die Anderen suchten, aus ihrer Nähe zu kommen, um nicht auch von der Flamme ergriffen zu werden. Man drängte nach der Thür. Der Capitän sah ein, daß Mord und Todtschlag entstehen werde, wenn er die Versammlung zwinge, hier zu bleiben. Er rief also dem Posten zu:

»Oeffnet den Eingang, rasch, rasch! Der Verräther mag lieber entkommen!«

Die Thür wurde aufgeschlossen, und nun entstand dort ein förmliches Gebalge, da ein Jeder der Erste sein wollte, welcher der Gefahr entrann. Nur einige wenige Besonnene drängten sich zu den Brennenden, um ihnen beizustehen, und womöglich die Flammen zu löschen.

Fritz hatte zunächst die Absicht gehabt, sich, sobald die Lampen stürzten, nach der Thür zu retiriren, durch welche der Alte eingetreten war; er wußte zwar nicht, wohin sie führte, aber sie gewährte wenigstens die Hoffnung auf irgend einen Rettungsweg; er gab aber natürlich die Absicht sofort auf, als er den Befehl des Alten hörte, die Thür zu öffnen. Da war ja nun Alles gut; da war ja nun jede Gefahr vorüber. Er schloß sich also Denen an, welche die Kraft ihrer Ellenbogen in Anwendung brachten, um rasch aus dem Saale zu kommen.

Der Capitän hatte kaum den soeben erwähnten Befehl gegeben, so erhob sich der eine seiner Begleiter und sagte im Tone des Vorwurfes:

»Aber den Menschen sollten Sie auf keinen Fall entkommen lassen!«

Es war die Stimme des Grafen Rallion, welcher heute mit Lemarch nach Ortry gekommen war. Der Dritte war sein Sohn, der Oberst. Die grauen Schnurrbartspitzen des Capitäns zogen sich in die Höhe, so daß man sein gelbes Gebiß sehen konnte.

»Keine Sorge!« antwortete er. »Folgen Sie mir rasch, meine Herren!«

Er sprang vom Podium und zu der hinteren Thür hinaus; die anderen Beiden folgten. Die Thür wurde verschlossen. Hinter ihr lief ein Gang weiter fort, aber es führte auch eine schmale Treppe empor. In einer Nische stand eine Lampe. Der Capitän ergriff sie und eilte die Treppe hinauf. Sie führte zu einer Steinplatte, welche der Alte zur Seite schob. Beim Scheine des Lichtes sahen die beiden Rallion's, daß sie sich in einem öden Gemache befanden, welches drei Fenster hatte, welche aber ohne Glas und Rahmen waren. Der Capitän blies die Lampe aus und sagte:

»Rasch durch das Fenster hinaus in den Hof und nach dem Thore! Wir kommen eher als die Anderen. Ich habe ein besonderes Paßwort für den Ausgang; es heißt »Buonaparte«. Jeder, welcher fort will, muß es sagen. Wer es nicht weiß, ist der Mann. Damit es schneller geht, helfen Sie mir Beide!«

Ein Sprung durch das nicht sehr hoch liegende Fenster brachte sie auf den Hof, und eben als die ersten der Verschworenen aus dem Thurme traten, hatten die Drei das Thor erreicht, wo sie sofort Posto faßten.

»Halt!« rief der Alte den herbeiströmenden Menschen entgegen. »Ein jeder hat das Ausgangswort einem von uns Dreien zu sagen, aber so leise, daß es der Spion nicht hören kann. So fangen wir ihn doch! Vorwärts!«

Fritz befand sich unter den Vordersten. Wäre er jetzt umgekehrt, so hätte er Verdacht erweckt; man hätte ihn sicher sogleich ergriffen. Er griff in die Tasche, zog sein Messer, und ließ sich von den hinter ihm Stehenden ganz willig vorwärts schieben. Bereits hatten Mehrere das Paßwort gesagt und also gehen dürfen, da kam er vor den alten Rallion zu stehen. Er wollte sich an diesem vorüberdrängen, aber der Graf faßte ihn.

»Halt, Mann, das Wort!« gebot er.

Fritz beugte sich an sein Ohr, als ob er es ihm zuflüstern wolle, versuchte aber dabei, sich durch einen raschen Ruck los zu reißen. Der Graf jedoch hatte Verdacht gefaßt, hielt ihn bei der Blouse fest und rief:

»Das ist er. Haltet ihn – haltet ihn!«

Sein Sohn, der Oberst, streckte sofort beide Hände nach Fritz aus, ließ sie aber mit einem lauten Aufschrei sinken, denn das Messer des Deutschen war ihm quer über das Gesicht gefahren. Ein Stich in die Hand des Grafen zwang diesen, die Blouse fahren zu lassen, und somit war Fritz frei. Obgleich sich die Hände Aller nach ihm ausstreckten, gelang es doch Keinem, ihn wieder zu fassen. Er sprang davon und in den Wald hinein.

»Ihm nach!« kommandirte der alte Capitän.

Jetzt war vom Paßworte keine Rede mehr, denn Alles stürmte durch das Thor und dem Flüchtigen nach. Dieser aber hatte nicht die mindeste Angst vor seinen Verfolgern. Es galt nur, seinen Kräutersack in Sicherheit zu bringen; denn fand man diesen, so konnte leicht errathen werden, wer der Spion gewesen sei. Er sprang also mit weiten Sätzen an der Mauer hin und dann unter die Bäume hinüber, riß den Sack unter der Buche hervor, und eilte noch einige Schritte tiefer in den Wald hinein. Dann aber sagte er sich, daß jedes Geräusch die Franzosen auf seine Fährte bringen müsse; er kroch also in ein vor ihm liegendes Dickicht hinein und verhielt sich da ganz ruhig.

Er hörte die Schritte der Verfolger und ihre Rufe. Einige Male war man ihm ziemlich nahe, bald aber lag der Wald in ununterbrochener Ruhe da. Doch war er vorsichtig genug, an seiner Stelle liegen zu bleiben. Er legte sich den Sack unter den Kopf, streckte sich so bequem, als die Sträucher es gestatteten, aus, und dachte, seine Lage überlegend:

»Wo bin ich? Was für ein altes Gemäuer ist diese Ruine? Das muß ich wissen. Wenn ich ausreiße und fortlaufe, bis ich aus dem Walde hinauskomme, weiß ich dann nicht, wo ich gewesen bin. Darum bleibe ich liegen bis morgen Früh und sehe mir das Ding bei Tageslicht an.«

Er athmete einige Male tief auf und fuhr dann fort:

»Es war eine verteufelte Suppe, die ich mir da eingebrockt hatte. Ich glaube sicher, diese Kerls wären mir an's Leben gegangen. Und was habe ich davon? Nichts, gar nichts! Der Alte hatte ja kaum die Rede angefangen. Hätte er sie vollenden können, so wüßte ich, was man eigentlich bezweckt. Das ist dumm, sehr dumm. Wer muß nur der alte Schnurrbart sein? Zwei sind verwundet, der Eine in die Hand und der Andere über das Gesicht herüber. Auf diese Weise kann ich ihn wieder erkennen. In die Brust wollte ich ihn nicht stechen, denn ein Menschenleben schont man so lange, als es nur immer geht!« – –

Müller hatte während des ganzen Tages an den Maler denken müssen, der so unvorsichtig gewesen war, sich nach dem Rittmeister von Königsau zu erkundigen. Er hatte am Nachmittage mit Alexander einen Spaziergang gemacht und dann sein Abendessen allein auf seinem Zimmer verzehrt. Als dieses geschehen war, verlöschte er seine Lampe und wartete. Er wußte, daß der alte Capitän mit den beiden Rallion's ausgegangen war und wollte ihre Zurückkunft vorüberlassen, ehe er ausführte, was er sich vorgenommen hatte; denn es galt, von dem Alten nicht überrascht zu werden.

Es verging die Zeit, und er wurde unruhig. Der Capitän war mit seinen Begleitern nach dem Eisenwerke gegangen; die dort festgesetzte Arbeitszeit war bereits verflossen, und er konnte von seinem Fenster aus sehen, daß man alle Lichter verlöscht hatte. Wo blieben die drei Männer? Jedenfalls hatten sie die heimlichen Niederlagen aufgesucht, um sie einer Inspection zu unterwerfen. Wo befanden sich diese Niederlagen? Es gehörte zur Aufgabe Müller's, dies ausfindig zu machen. Aber konnte er es entdecken, wenn er hier sitzen blieb, um ihre Rückkehr zu erwarten? War es nicht vielleicht besser, in den geheimen Gang einzudringen, in welchem sie sich befanden?

Uebrigens hatte er es sich vorgenommen, den Maler zu belauschen. Er kannte ja die Einrichtung des Zimmers, welches dieser bewohnte; er hatte ja da den Alten als Mörder des Fabrikdirectors beobachtet. Vielleicht war es möglich, über die Person und die Absichten dieses sogenannten Herrn Haller etwas Näheres in Erfahrung zu bringen.

Wartete er noch länger, so ging dieser vielleicht schlafen, und dann war nichts zu erlangen. Er erhob sich also von seinem Sitze, auf welchem er still und im Dunkeln gesessen hatte, und lauschte zum Fenster hinaus. Es herrschte überall die größte Ruhe und Stille. Er wagte es also, seinen Gang anzutreten.

Er traf dieselben Vorbereitungen wie vorher. Er legte den Buckel ab, verkleidete sich, und steckte die beiden Revolver und die Blendlaterne in die Tasche. Dann stieg er zum Fenster hinaus, glitt über das Dach und kletterte am Blitzableiter hinab. Als er am Zimmer des Alten vorüber kam, war es in demselben vollständig dunkel.

In dem Augenblicke, als er den Fußboden erreichte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich blitzschnell um und griff nach seiner Waffe.

»Pst, keine Sorge!« flüsterte es. »Ich thue Ihnen nichts; ich will nur mit Ihnen sprechen.«

»Wer sind Sie?« fragte Müller.

»Das werden Sie erfahren. Kommen Sie.«

Der Mann sprach nicht den Dialect der hiesigen Gegend, sondern den des südlichen Frankreichs. Soweit ihn Müller bei der herrschenden Dunkelheit erkennen konnte, trug er weite Hosen, welche bis an die Knie reichten, eine Jacke, einen Gürtel und auf dem Kopfe ein Fez; er ging also ganz ähnlich wie die Zuaven gekleidet.

»Sind Sie vielleicht Militär?« fragte Müller.

An meiner Heimath trägt jeder Mann die Waffe,« antwortete der Fremde.

»Also Zuave oder Türke, nicht wahr?«

»Nein. Aber kommen Sie!«

Müller hielt es für gerathen, mit dem geheimnißvollen Manne zu gehen. Wer war er? Was wollte er? Hing seine Anwesenheit mit den Heimlichkeiten dieses Schlosses zusammen? Fast schien es so. Vielleicht konnte man von ihm etwas erfahren.

Der Fremde schritt geradeaus vom Schlosse ab, hinaus nach den Feldern. Dort angekommen, hielt er an einem Rain inne, setzte sich ohne Umstände nieder und sagte:

»Setzen Sie sich; es redet sich so besser!«

Müller folgte dieser Weisung und wartete gespannt auf das, was er hören werde.

»Wer sind Sie?« fragte der Fremde.

»Warum fragen Sie?« gegenfragte Müller.

»Weil ich wissen muß, wer Sie sind.«

»Vielleicht erfahren Sie es, vielleicht auch nicht. Wer sind denn Sie?«

»Sie erfahren das auch vielleicht. Doch da Sie mir nicht sagen wollen, wer Sie sind, so werden Sie mir wohl sagen, was Sie sind!«

»Unter Umständen werden Sie dies auch erfahren.«

»Ich weiß es bereits.«

»Ah! Nun?«

»Sie sind Einer, der in die Fenster anderer Leute steigt, um sich zu holen, was ihm gefällt.«

Ah, dieser Mann hielt den Deutschen für einen Spitzbuben, für einen Einbrecher, weil er gesehen hatte, daß er am Blitzableiter heruntergekommen war. Das gab Müller Spaß, und er beschloß, ihn bei diesem Glauben zu lassen.

»Haben Sie Etwas dagegen?« fragte er dann.

»Nein,« antwortete der Fremde. »Sie scheinen ein kühner Mann zu sein.«

»Das bringt mein Handwerk mit sich,« lachte der Deutsche.

»Ich liebe den Muth und die Entschlossenheit. Wissen Sie, daß ich Ihnen sehr schaden kann?«

»Hm! Wieso?«

»Ich könnte Sie festnehmen!«

»Alle Teufel!«

»Und den Diebstahl anzeigen.«

»Sie machen mir Angst!«

»Haben Sie keine Sorge; ich werde es nicht thun, wenn ich sehe, daß Sie dankbar sind!«

Diese Worte wurden in einem Tone gesprochen, welcher Zutrauen erwecken sollte. Müller ging darauf ein und antwortete:

»Wenn Sie schweigen wollen, so dürfen Sie auf mich rechnen.«

»Gut; ich hoffe, daß Sie Verstand haben. Wohnen Sie hier in der Nähe?«

»Ja.«

»Wo?«

»In Ortry.«

»In Ortry selbst? Das ist gut! So kennen Sie auch alle Leute, welche auf dem Schlosse wohnen?«

»So ziemlich.«

»Kennen Sie auch die Umgegend des Schlosses und eine Ruine, welche man den alten Thurm nennt?«

»Ja.«

»So ist Alles gut. Sie sind ein Mann, der nicht wählerisch in dem ist, was er thut, wenn es nur Etwas einbringt. Wollen Sie sich ein schönes Stück Geld verdienen?«

Müller mußte sich Mühe geben, ein herzliches Lachen zu unterdrücken. Er antwortete:

»Sehr gern. Geld braucht man immer, zumal Unsereiner.«

»Nun, ich biete Ihnen für die Arbeit von drei Stunden hundert Franken.«

»Alle Wetter, das wäre ja ganz leidlich bezahlt!«

»Das denke ich auch. Und dennoch biete ich Ihnen noch hundert Franken mehr, wenn Sie noch einen Mann versorgen, auf den man sich verlassen kann.«

»Vielleicht ist es möglich. Nur muß ich wissen, um was es sich handelt.«

»Das sollen Sie hören. Ich wünsche, ein Grab geöffnet zu sehen.«

»Ein Grab?« fragte der Deutsche, jetzt in Wahrheit überrascht. »Auf dem Kirchhof?«

»Das werden Sie noch erfahren. Vorher muß ich wissen, ob Sie mir dienen wollen, und noch einen zweiten Mann mitbringen können.«

»Ja,« antwortete Müller langsam; »was mich betrifft, so fürchte ich mich ganz und gar nicht, ein Grab zu öffnen, und ich wüßte wohl auch Einen, der für hundert Franken bereit wäre, das Abenteuer mitzumachen. Ehe ich aber einen festen Entschluß fasse, muß ich natürlich wissen, um welches Grab es sich handelt.«

Er vermuthete, es gelte die Oeffnung irgend eines Erbbegräbnisses, um die Leiche zu berauben. Ein solcher Vorschlag war sehr leicht möglich, da der Fremde ihn ja für einen Einbrecher hielt. Dieser aber antwortete:

»Wir sprachen von dem alten Thurme. Sind Sie vielleicht einmal dort gewesen?«

»Das versteht sich; ja.«

»Haben Sie vielleicht bemerkt, daß ein Grab ganz in seiner Nähe liegt?«

»Ja. Es wird, glaube ich, das Heidengrab genannt.«

»So ist es. Wissen Sie auch, wer dort begraben liegt?«

»Gewiß. Die erste Gemahlin des Barons de Sainte-Marie.«

»Nun gut, dieses Grab wollen wir öffnen.«

Müller fuhr erstaunt empor. Das hatte er nicht erwartet. Er fragte schnell:

»Ah, Sie denken, man habe der Baronin Geschmeide oder so etwas mit in die Erde gegeben?«

»Nein. Ich habe eine Absicht auf die Baronin selbst.«

»Was soll das heißen?«

Der Fremde schwieg eine Weile und antwortete dann:

»Ich will die Gebeine der Baronin haben und werde sie mit mir fortnehmen.«

Das war erstaunlich. Wer war dieser Mann? In welchem Verhältnisse stand er zu der Todten, daß er darnach trachtete, ihre Ueberreste zu besitzen? Das Zusammentreffen mit ihm konnte für Müller von außerordentlichem Erfolge sein. Darum beschloß dieser, sich ihm willfährig zu zeigen, und antwortete:

»Sie zahlen also zweihundert Franken, wenn ich mich dieser Arbeit unterziehe und noch einen Gehilfen mitbringe?«

»Ja. Sobald das Grab geöffnet ist, erhalten Sie das Geld. Wollen Sie?«

Müller reichte ihm die Hand und sagte:

»Ja, ich will.«

»Kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Vollständig. Und auf den Anderen ebenso, wie auf mich selbst. Zwei verschwiegenere Leute können Sie nicht finden.«

»Nun gut. Wann paßt es Ihnen? Morgen Abend wäre mir die liebste Zeit.«

»Mir auch.«

»So kommen Sie eine Stunde vor Mitternacht mit Ihrem Kameraden an das Grab. Ich werde da sein und auf Sie warten. Heben Sie die Rechte empor und schwören Sie, daß Sie mich nicht verrathen wollen.«

Es war Müller, als ob er vor einem wichtigen Ereignisse stehe. Er war vollständig entschlossen, den Auftrag zu übernehmen. Er hatte ja selbst bereits den Entschluß gefaßt, das Grab zu öffnen, um zu sehen, ob es leer sei oder wirklich eine Leiche enthalte; darum ging er mit vollem Ernste auf das Gebot des Fremden ein. Er erhob die Hand und schwur:

»Ich schwöre Ihnen in meinem Namen und im Namen meines Kameraden, daß wir Sie nicht verrathen, sondern Ihnen redlich beistehen werden, Ihre Absicht zu erreichen.«

»Allah akbar! Das ist nicht der Ton eines Spitzbuben und Einbrechers!« sagte der Fremde. »Ich gewinne Vertrauen zu Ihnen, und will Ihnen nun auch sagen, wer ich bin. Ich bin Abu Hassan, der Zauberer, Director einer Künstlerbande, welche morgen in Thionville eine große Vorstellung geben wird.«

»Und warum wollen Sie die Gebeine der verstorbenen Baronin besitzen?«

»Das werde ich Ihnen vielleicht sagen, nachdem ich Sie als treu und verschwiegen erkannt habe. Nun sagen Sie mir auch Ihren Namen und den Ihres Gefährten!«

»Diese beiden Namen werden Sie dann erfahren, wenn auch ich erkannt habe, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Sie mögen aus dieser Vorsicht ersehen, daß Sie es nicht mit leichtsinnigen Menschen zu thun haben, sondern sich auf uns verlassen können.«

Abu Hassan nickte mit dem Kopfe.

»Vielleicht handeln Sie richtig, vielleicht auch nicht,« sagte er; »aber dennoch werde ich zur bestimmten Zeit am Grabe sein. Sollten Sie nicht eintreffen, oder gar mich verrathen, so haben Sie im letzteren Falle eine schwere Sünde auf Ihrem Gewissen, und Allah wird Sie strafen.«

»Hier, nochmals meine Hand darauf, daß ich Sie nicht täusche. Wer aber soll das Handwerkszeug besorgen? Sie oder ich?«

»Sie. Ich bringe nur den Kasten mit, welcher die Gebeine aufnehmen soll, und gebe Ihnen außerdem zu bedenken, daß ich kein Christ, sondern ein Moslem bin, der sich verunreinigt, wenn er die Ueberreste eines Todten anrührt. Ich werde mit graben helfen, aber die Gebeine haben Sie in den Kasten zu thun.«

Er griff in seine Tasche und zog einen Beutel hervor.

»Hier gebe ich Ihnen hundert Franken,« sagte er. »Das andere Hundert werden Sie erhalten, sobald wir morgen fertig sind.«

Müller schob die mit dem Gelde ausgestreckte Hand zurück und entgegnete:

»Behalten Sie für heute die hundert Franken. Ich pflege erst dann den Lohn anzunehmen, wenn ich die Arbeit vollendet habe.«

»Allah il Allah! Sie sind ein ehrlicher Mann, obgleich Sie ein Christ und ein Spitzbube sind. Erst jetzt bin ich überzeugt, daß Sie mich nicht betrügen werden! Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Der Mann ging, und Müller blieb zurück, ganz eingenommen von dem Ereigniß, welches sich ihm so unerwartet geboten hatte. Wer hätte das denken können! Er, der deutsche Edelmann und Officier, hatte sich von einem herumziehenden Gaukler als Leichenräuber engagiren lassen. Das war eben so undenkbar, wie es einfach gekommen war.

Natürlich rechnete er in dieser abenteuerlichen Angelegenheit auf die Hilfe seines Dieners, den er jedenfalls bereits morgen am Vormittage benachrichtigen mußte, denn Fritz allein war es, der die Vorbereitungen treffen und das nothwendige Werkzeug besorgen konnte, ohne Aufsehen und Verdacht zu erregen.

Nun schritt Müller nach dem Parke zurück.

Er mußte sich nach dem Häuschen begeben. Dort angelangt, ging er einige Male um das Häuschen herum, um sich zu überzeugen, daß sich Niemand in demselben befinde. Dann trat er ein und zog die Thür wieder hinter sich zu. Er brannte die Laterne an, um sich beim Scheine derselben zu überzeugen, daß er sich allein befinde, öffnete die geheime Thür, trat zwischen die Doppelwand und verschloß dann den Eingang wieder.

Jetzt stieg er die Treppe hinab und erreichte den Gang. Die linker Hand liegende Thür war fest verschlossen, wie das vorige Mal. Er schritt zur rechten Hand in den Gang hinein, steckte aber seine Laterne dabei in die Tasche. Es war ja sehr leicht möglich, daß er sich durch den Schein derselben verrathen konnte. Er hatte den unterirdischen Gang genugsam kennen gelernt, um zu wissen, daß er keine Fährlichkeiten bot, sondern daß er sich nur an der Mauer fortzutasten brauchte, um ohne Schaden in das Schloß zu gelangen.

Freilich ging es im Finstern langsamer, als wenn er sich der Laterne bedient hätte, aber die Zeit war ihm doch nicht lang geworden, bis er an der Erweiterung des Ganges bemerkte, daß derselbe zu Ende sei. Jetzt zog er die Laterne vor und griff zu gleicher Zeit nach der Uhr, um zu sehen, wie die Zeit stehe. Es war gerade Mitternacht.

Da war nun freilich keine große Hoffnung vorhanden, den Maler noch zu belauschen, da dieser sich jedenfalls bereits zur Ruhe begeben hatte. Aber dennoch stieg er die Treppe hinan, welche er sich von seiner vorigen Excursion her sehr wohl gemerkt hatte. – –

Als Fritz, sein Diener, den Verfolgern glücklich entkommen war, war der alte Capitän natürlich mit den beiden verwundeten Rallions in der Ruine zurückgeblieben. Dem Obersten strömte das Blut in einem breiten Strahle aus dem Gesicht. Er hätte gern geflucht und gewettert, mußte aber schweigen, da ihm sonst das Blut in den Mund gelaufen wäre. Desto mehr aber wetterte sein Vater, der einen Stich erhalten hatte, welcher ihm mitten durch den Handteller gegangen war.

»Was glauben Sie wohl, Capitän,« sagte er; »bin ich etwa nach Ortry gekommen, um mich um meine Hand bringen zu lassen?«

»Pah, ein kleiner Stich!« entgegnete der einsilbige Alte.

»Ein kleiner Stich, der mich aber lähmen kann! Wie nun, wenn die Flechsen zerschnitten sind? Giebt es hier Jemanden, der etwas von Wundarzneikunst versteht?«

»Ich selbst. Es ist nur gut, daß wir bereits einen Vorrath von Verbandzeug, Charpie und dazu gehörigen Medicamenten angelegt haben. Ich muß übrigens nach den Verbrannten sehen, welche sich jedenfalls noch im Saale befinden. Kampferwasser wird Ihnen die Schmerzen sofort stillen. Kommen Sie!«

»Capitän, ich gebe Ihnen eine Gratification von tausend Franken für diejenige Person, welche den Kerl herausbekommt, dem wir dies zu verdanken haben!«

»Und ich selbst lege noch tausend Franken dazu,« sagte der Alte im grimmigsten Tone. »Doch kommen Sie. Ich muß zunächst zu meiner Lampe!«

Er führte sie über den Hof hinweg nach einem Thore, welches sich in der Hauptfront öffnete, schritt mit ihnen durch einige Zimmer, bis er in dasjenige gelangte, durch dessen Fenster sie gesprungen waren. Hier stand noch die ausgelöschte Lampe. Er brannte sie wieder an und hieß die Rallion's, die Treppe hinabsteigen. Er folgte ihnen und brachte die Steinplatte wieder in ihre Lage. So gelangten sie aus dem Gange in den Saal.

Dort waren die Flammen erloschen. Es hatte tiefe Finsterniß geherrscht, aber trotz derselben befanden sich noch Menschen hier. Es waren die durch ihre Brandwunden Beschädigten und eine Anzahl Anderer, welche bei ihnen zurückgeblieben waren.

Die Lampe des Alten brachte Licht in das Dunkel. Die Verwundeten stöhnten und baten um Hilfe.

»Ruhe!« gebot der Alte. »Es soll Euch Hilfe werden, doch Einem nach dem Anderen.«

Er setzte die Lampe nieder und verschwand für kurze Zeit durch die hintere Thür. Als er wieder zurückkehrte, brachte er eine Anzahl Lichter, welche sofort angebrannt wurden, und Verbandzeug mit. Der Oberst war der Erste, welcher verbunden wurde, dann kam dessen Vater, der Graf, an die Reihe. Es war jetzt noch nicht zu bestimmen, ob vielleicht ein Theil seiner Hand gelähmt bleiben werde.

Die Wunden der Verbrannten waren nicht sehr gefährlich, aber desto schmerzhafter. Der Alte verband sie so gut wie möglich und überließ es dann den Gesunden, die Kranken nach Hause zu geleiten. Bis sie sich entfernt hatten, ging er ab und zu, um die Eingänge zu verschließen und zu verstecken; dann meinte er zu den beiden Rallion's, die sich noch allein im Saale befanden:

»Durch die unterirdischen Gänge können wir nicht zum Schlosse zurückkehren.«

»Warum nicht?« fragte der Graf.

»Weil wir das Thor verlassen haben, und weil man ja Ihre Verletzung morgen sehen würde, sie aber nicht begreifen könnte.«

»Aber womit wollen wir sie erklären?«

»Pah, das ist sehr leicht! Wir sind im Dunkel über eine Wiese gegangen, da hat eine Sense gelegen. Der Oberst ist auf den Stiel getreten, und so schlug ihm das Sensenblatt quer über das Gesicht. Ihnen aber, Graf, ist die Spitze in die Hand gerathen. Kommen Sie. Wir müssen uns sputen, denn es fällt mir ein, von Ihnen gehört zu haben, daß Sie Ihrem Maler noch heute seine Instructionen geben wollen.«

Sie verließen die Ruine und wanderten durch den Wald nach dem Schlosse, welches sie erreichten, als Müller kaum seine eigenthümliche Unterredung mit Hassan, dem Zauberer, begonnen hatte.

Natürlich erregte es die höchste Verwunderung der Dienerschaft, die Herren so spät heimkehren zu sehen, und dieses Erstaunen wurde durch die Verwundung der Rallion's noch gesteigert, doch wagte natürlich Keiner, eine Frage auszusprechen.

Die Damen waren zur Ruhe gegangen; die Herren begaben sich in ihre Zimmer; vorher aber ließ der Graf dem Maler sagen, daß er ihn in drei Viertelstunden noch aufzusuchen gedenke. In seiner Wohnung angekommen, nahm er Papier und Couverts hervor und schrieb gegen eine halbe Stunde lang. Dies ging an, da glücklicher Weise die linke und nicht die rechte Hand verwundet war. Dann steckte er die Briefe in ihre Couverts, verschloß die Letzteren und begab sich zwei Treppen höher, wo der Maler sein Zimmer hatte und ihn noch erwartete.

Haller, oder vielmehr Lemarch, erhob sich sehr höflich beim Eintritte des Grafen und bot ihm einen Sessel an. Der Graf nahm gerade in demselben Augenblicke Platz, in welchem hinter der getäfelten Wand Müller seine Laterne in die Tasche steckte und die Täfelung, welche die geheime Thür bildete, ein klein Wenig zur Seite schob, wodurch eine enge Ritze entstand, welche aber weit genug war, um das Zimmer überblicken zu können.

»Ich komme, Ihnen Ihre Instructionen zu übergeben, mein lieber Rittmeister,« begann der Graf. »Sie werden nicht umfangreich sein. Die Hauptsache, welche ich Ihnen mitzutheilen habe, ist, daß Sie bereits morgen Früh schon abreisen können.«

Lemarch verbeugte sich, zum Zeichen, daß er gehorchen werde.

»Es wird Ihnen durch sie der Weg geordnet werden. Uebrigens weise ich Sie auf das zurück, was wir bereits am Morgen besprochen haben. Haben Sie sich den Namen dieses Officiers gemerkt?«

»Ja. Rittmeister Richard von Königsau.«

»Richtig! Sie gewinnen die Freundschaft desselben und suchen, ihn auszuforschen. Ist er zu sehr zurückhaltend, so erwähnte ich bereits, daß er vielleicht Verwandte –«

»Er hat eine Schwester,« fiel Lemarch schnell ein.

»Ah!« lächelte der Graf. »Häßlich?«

»Schön!«

»Woher wissen Sie das?«

»Es giebt einen Hauslehrer hier, einen Deutschen, welcher die Familie kennt.«

Die Stirne des Grafen verfinsterte sich bedeutend.

»Sie haben mit diesem Manne gesprochen?« fragte er.

»Ja, gnädiger Herr.«

»Ich darf doch nicht etwa befürchten, daß Sie sich in einer Weise unterhalten haben, welche diesen Menschen veranlassen könnte, gewisse Vermuthungen zu hegen?«

Die Wangen des Rittmeisters rötheten sich denn doch ein Wenig, aber er antwortete in einem sehr entschiedenen Tone:

»Ich glaube, niemals Veranlassung gegeben zu haben, mich für plauderhaft und unvorsichtig zu halten!«

Der Graf schien befriedigt zu sein. Er nickte mit dem Kopfe und meinte:

»Ich will Ihnen gern glauben. Uebrigens ist dieser Lehrer auf jeden Fall ein sehr unbedeutender Mensch, von dem man gar nicht zu sprechen braucht. Hier haben Sie noch einige Legitimationen, welche Ihnen von Nutzen sein werden. Sie wissen: Wie die Arbeit, so der Lohn. Ich hoffe, daß Sie sich Ansprüche auf eine bedeutende Anerkennung erwerben, und bin überzeugt, daß Sie, von Eifer getrieben, Ortry bereits verlassen haben, wenn ich erwache. Darum werden wir uns bereits jetzt verabschieden, mein lieber Lemarch.«

Er reichte ihm die Hand und entfernte sich, nachdem der Rittmeister noch einige Worte gesagt hatte, um zu versichern, daß er alle seine Kräfte anstrengen werde, um seine Aufgabe einer glücklichen Lösung zuzuführen.

Jetzt las Lemarch die Legitimationen durch, warf einen Blick auf die Adressen der Briefe und ging noch einige Minuten im Zimmer auf und ab. Dann hörte Müller ihn die Worte sagen:

»Jetzt aber endlich zur Ruhe. Es ist spät; und ich muß früh erwachen.«

Er schob Briefe und Legitimationen auf dem Tische zusammen, entkleidete sich und legte sich zu Bett, nachdem er seine Lampe ausgelöscht hatte.

»Also deshalb fragte er mich nach mir!« dachte Müller. »Diese Herren scheinen zu wissen, daß ich Vertrauen genieße. Dieser Lemarch soll sich an mich schmeicheln, und mich zur Verrätherei verführen. Bedanke mich, Monsieur! Werde Ihnen den Weg noch besser ebnen, als die vier Briefe es thun werden!«

Er wartete, bis ein ruhiges, schnarchendes Athmen ihm die Ueberzeugung gab, daß der Franzose fest eingeschlafen sei. Jetzt schob er die Täfelung weiter auf, so daß er eintreten konnte. Er schlich zum Tische hin, nahm sämmtliche Papiere an sich und kehrte in den Gang zurück. Nachdem er die geheime Thür wieder verschlossen hatte, zog er sein Notizbuch und die Laterne hervor und copirte sämmtliche Papiere, die Adressen der Briefe und auch eine Reiseroute, welche sich dabei befand.

Es kam ihm der Gedanke, die Briefe mit in sein Zimmer zu nehmen, um sie zu öffnen und zu copiren und wieder zu verschließen. Er traute sich die hierzu nothwendige Geschicklichkeit wohl zu, aber seine Gefühle sträubten sich dagegen, als Officier und Edelmann sich einer Entheiligung des Briefgeheimnisses schuldig zu machen. Er kehrte also, nachdem er den Eingang wieder geöffnet, in das Zimmer zurück, legte Alles an den früheren Ort zurück und entfernte sich.

Nachdem er die Täfelung geschlossen hatte, stieg er die Treppe hinab und kehrte durch den Gang nach dem Parkhäuschen zurück. Er war mit den Erfolgen des heutigen Abends vollständig zufrieden. Sie gaben ihm Gelegenheit, sich in der Heimath auszuzeichnen und auch seine hiesigen, persönlichen Angelegenheiten vortheilhaft zu verfolgen.

Als er dann das Schloß erreichte und am Blitzableiter emporkletterte, bemerkte er im Zimmer des Alten noch Licht. Er warf einen Blick durch das Fenster und fuhr erschrocken zurück, denn gerade da, hart am Fenster, stand der Capitän, mit dem Rücken nach ihm gekehrt. Er hatte ein geheimes Fach seines Schreibtisches geöffnet und hielt ein Packet Banknoten in der Hand, deren Nummern er zu mustern schien.

Müller konnte ihm über die Schulter blicken und sah, daß alle diese Noten gezeichnet waren. Er erkannte sehr deutlich die Anfangsbuchstaben der Namen; er prägte sich auch einige der Nummern ein. Es war kein Zweifel, er sah hier die Banknoten, welche der Alte dem Fabrikdirector abgenommen hatte.

Er beobachtete nun mit größter Spannung jede Bewegung des Capitäns und sah deutlich, daß dieser die Noten in das geheime Fach zurücklegte, und dieses Letztere mit einer verborgenen Feder schloß. Er gab so genau Achtung, daß er überzeugt war, dieses Fach leicht auffinden und öffnen zu können. Dann kletterte er zum Dache empor.

Er sagte sich allerdings, daß es sehr leicht möglich sei, daß er noch eine weitere, für ihn nützliche Entdeckung machen könnte, wenn er den Alten länger beobachtete; aber wie leicht konnte dieser das Fenster öffnen und heraussehen, und das wäre ja doch das Schlimmste, das Gefährlichste gewesen, was passiren konnte.

In seinem Zimmer angekommen, schrieb er zunächst die Banknotennummern auf, welche er sich gemerkt hatte; dann nahm er sein Notizbuch hervor und verfaßte einige Briefe. Als er diese versiegelt hatte, setzte er sich breit vor einige große, leere Bogen hin, mit der Miene eines Mannes, der an eine sehr wichtige Arbeit geht. Seine Feder flog über das Papier; die Bogen füllten sich; neue kamen hinzu, und als er geendet hatte, waren so viele Folioseiten beschrieben, daß er selbst über die bedeutende Zahl derselben erstaunte.

»Das ist schnell gegangen,« lächelte er. »Ich habe aber auch niemals eine Arbeit mit einer solchen Lust gefertigt, wie diese hier. Ich hoffe, sie wird ganz den Eindruck machen, für welchen sie berechnet und geschrieben ist.«

Er legte das Manuscript bei Seite. Es enthielt die Unterschrift: »Unwiderleglicher Beweis, daß vor Verlauf eines Decenniums kein Krieg mit Frankreich zu befürchten steht. Auf Veranlassung des großen Generalstabes geliefert von Rittmeister Richard von Königsau.«

Nun endlich griff er zum letzten Male zur Feder. Er schrieb folgenden Brief:

»Meine gute Bertha!

»Ihr werdet schon längst eine Nachricht von mir erwartet haben und sollt sie auch nächster Tage erhalten, ausführlich, wie Ihr es ja stets von mir gewohnt seid. Jetzt aber habe ich zu solcher Vollständigkeit noch nicht die hinreichende Zeit; ja, ich finde noch nicht einmal die Muse, an die Mutter und an den Großvater zu schreiben.

»Diese Zeilen gelten Dir, weil mich die höchste Nothwendigkeit drängt, Dir für einen als gewiß zu erwartenden Fall die nöthigen Instructionen zu ertheilen. Ein französischer Rittmeister, Namens Bernard Lemarch, kommt nämlich als ein Landschaftsmaler Haller nach Berlin, um sich um meine Freundschaft zu bewerben, und mich über die Anschauungen unserer Diplomaten und Strategen auszuhorchen. Ich bin überzeugt, daß Frankreich bereits in wenig Wochen den Krieg erklären wird, und eben so sicher weiß ich, daß wir im Stande sind, den so leichtsinnig hingeworfenen Handschuh ohne Befürchtung aufzuheben. Aber es handelt sich darum, den geheimen Emissär zu täuschen, gerade so, wie er uns zu betrügen trachtet. Daher übersende ich Dir das beifolgende Manuscript.

»Haller alias Lemarch beabsichtigt nämlich, sobald seine Bemühungen bei mir erfolglos sein sollten, Deine Zuneigung zu gewinnen, um so viel wie möglich von derselben zu profitiren. Du wirst ihm sagen müssen, daß ich mich in Litthauen auf Besuch bei einem alten Verwandten befinde. In Folge dessen wird er sich bei Dir nach meiner Thätigkeit, nach meinen Arbeiten erkundigen, und Du wirst Dir da die Erlaubniß abschmeicheln lassen, das beiliegende Manuscript lesen zu dürfen. Alles Uebrige überlasse ich Deiner mir so wohlbekannten weiblichen Klugheit, zu der ich alles Vertrauen besitze, und bitte Dich, mich über den Erfolg sofort brieflich zu belehren. Ich stehe mit ähnlichen Arbeiten natürlich umgehend zur Verfügung und ersuche Dich, Deinen Brief an meinen Fritz zu adressiren, nämlich »Friedrich Schneeberg, Herboriseur[2] in Condition bei Herrn Doctor Bertrand in Thionville.« Er wird ihn mir richtig zustellen. Hier darf ich es nicht wagen, Briefe aus Berlin zu empfangen.

»Indem ich Dich ersuche, Mama und Großpapa von mir herzlichst zu grüßen, verspreche ich ihnen nochmals einen baldigen, langen Brief, umarme Dich, liebe Schwester, und sende Dir den innigsten, brüderlichsten Kuß von Deinem jetzt

herzenskranken Richard.

»NB. Ich habe meine Dresden-Blasewitzer Dame unerwartet gefunden.«

Müller las die geschriebenen Zeilen noch einmal durch und verschloß sie dann nebst dem Manuscripte in ein umfangreiches Couvert. Als er sich dann schlafen legte, war die Nacht bereits vorüber, und der Morgen brach herein. Deshalb legte er sich nicht in das Bett, sondern auf das Sopha, um bei Zeiten wieder aufzuwachen.

Seine Verkleidung hatte er natürlich abgelegt, bevor er sich das Licht anbrannte, da er keinen Augenblick sicher war, von dem alten Capitän durch die Glastafel belauscht zu werden. Doch hatte er bereits im Stillen beschlossen, ihm dieses Beobachten gehörig zu verleiden.

Er mochte kaum ein Stündchen geschlafen haben, als ihn der Schall von Pferdehufschlägen erweckte. Er erhob sich und trat an das Fenster. Es war ein Wagen angespannt worden, und soeben stieg der Maler ein, um sich nach dem Bahnhofe von Thionville fahren zu lassen. Sein hübsches Gesicht hatte einen sehr unternehmenden, hoffnungsvollen Ausdruck. Er gedachte wohl, mit großen Erfolgen heimzukehren; aber der da oben, von ihm unbemerkt, am Fenster stand, kannte diese Erfolge bereits genau. Er konnte sich auf die geistreiche Schwester verlassen, von der er wußte, daß sie den Franzmann so bedienen werde, wie es der Bruder von ihr erwartete.

Dieser nahm wieder auf dem Sopha Platz und schlief zum zweiten Male ein. Als er wieder erwachte, war es vom Schall einer überlauten, kreischenden Musik. Er warf den ersten Blick auf seine Uhr; es war wahrhaftig bereits neun Uhr. Der zweite Blick fiel durch das Fenster hinaus und hinunter in den Schloßhof. Dort standen sechs phantastisch bekleidete Musikanten, welche sich bemühten, mit zwei Clarinetten, einem Horn, einer Oboe, einer Posaune und einer Trommel irgend eine Art von Marsch zu Stande zu bringen. In ihrer Nähe hielten auf Pferden vier theatralisch aufgeputzte Personen, drei Männer und ein Frauenzimmer. Als der Marsch beendet war, erhob der Trommler seine Stimme und verkündigte, daß heute Nachmittag zwei Uhr Thionville nebst Umgegend das ungeahnte Glück haben werde, die weltberühmte Künstlertruppe anzustaunen.

Diese Leistungen wurden unter der pompösesten Titulatur aufgezählt, und da in dieser Gegend sich nur höchst selten einmal eine solche Gesellschaft sehen ließ, so war es kein Wunder, daß sämmtliche Schloßbediensteten zusammenliefen, und auch die Herrschaften an das Fenster traten, um die Künstlervagabunden in Augenschein zu nehmen.

Ganz in der Nähe der wunderlich aufgeputzten Reiter stand Alexander. Er hatte seine Freude an den Leuten und fragte, als der Tambour geendet hatte:

»Was kostet das Billet?«

»Nummerirte vordere Reihe fünf Franken, hintere Reihe vier Franken, erster Platz drei Franken, zweiter zwei, dritter einen Franken und Stehplatz außerhalb der Barriére einen halben Franken,« antwortete der Mann geläufig. »Wollen Sie einige Billets behalten, gnädiger Herr? Wenn Sie jetzt abonniren, erhalten Sie die besten Plätze von Nummer eins an!«

Er hatte mit geübtem Auge erkannt, daß der Frager jedenfalls der Sohn der Herrschaft sei; und so einem Lieblingssöhnchen vermögen die Eltern selten zu widerstehen.

»Fünf Billets vordere Reihe!« befahl Alexander.

Er hatte gar nicht darauf geachtet, daß die Baronin oben das Fenster öffnete und ihm winkte. Er zog seine Börse, welche trotz seiner Jugend stets wohl gefüllt war, und bezahlte fünfundzwanzig Franken. Die Künstler zogen befriedigt ab.

Nach kurzer Zeit klopfte es an Müller's Thür, und Alexander trat herein. Sein Gesicht war sehr geröthet, ob vor Freude, oder einem anderen Seelenaffecte, oder irgend einer Anstrengung, das ließ sich nicht bestimmen.

»Haben Sie sie gesehen, Monsieur Müller?« fragte er.

»Wen? Die Künstler?«

»Ja, natürlich!«

»Ich habe sie allerdings gesehen,« antwortete lächelnd der Deutsche, als er die vor Freude blitzenden Augen des Knaben sah.

»Ich habe fünf Billets genommen. Hier ist eins. Sie fahren natürlich mit, Monsieur.«

»Ah! Ich? Wer fährt noch mit?«

»Zunächst Mama –«

»Nicht möglich!« entfuhr es Müller.

»Warum nicht möglich? Sie zürnte mir; aber was ich will, das will Mama schließlich doch immer auch,« meinte Alexander in stolzem Tone.

»So sind noch zwei Billets übrig.«

»Sie sind bereits verschenkt. Marion und Mademoiselle Nanon fahren mit.«

»Diese Beiden?« fragte Müller erstaunt. »Waren sie sofort einverstanden?«

»O, eigentlich nicht. Marion meinte, es schicke sich nicht so recht für uns, diese Art von Schaustellungen zu besuchen; aber als Dank für die beiden Bouquets vom Heidengrabe wolle sie mir ihre Zusage geben. Ist dies nicht sehr lieb von ihr? Mademoiselle Nanon war somit gezwungen, sich ohne allen Widerspruch anzuschließen.«

»Und wenn nun ich widerspreche?« lächelte Müller.

»O, Sie widersprechen nicht,« behauptete Alexander; »das sehe ich Ihrem guten Gesichte ja sofort an. Nicht wahr, ich habe richtig gerathen?«

»Ja, ich werde Ihnen die Freude nicht verderben, mein lieber Alexander.«

»Ich danke Ihnen! Und wissen Sie, was Mama Ihnen sagen läßt?«

»Nun?«

»Sie sollen mit ihr und mir in einem Wagen Platz nehmen; im anderen fahren Marion und Nanon. Ist das nicht allerliebst von der Mama? Aber ich muß fort, denn bei einer solchen Veranlassung sind tausend Vorbereitungen zu treffen.«

Er eilte fort. Müller war es gar nicht unlieb, diesen Abu Hassan in seinen Kunstleistungen kennen zu lernen; aber fast förmlich verdutzt machte ihn die Einladung der Baronin, mit in ihrem Wagen Platz zu nehmen. Welchen Grund hatte sie dazu? War es die Anerkennung für die Liebe, welche er Alexander eingeflößt hatte?

Er schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab, trat an den Spiegel, um sich zu betrachten, und fand, daß seine künstliche Hautfarbe an Tiefe verloren hatte. Er nahm ein kleines Fläschchen, welches Nußschalenextract enthielt, tauchte den Pinsel hinein und bestrich sich Gesicht, Hals und Hände von Neuem mit dieser die Haut verdunkelnden Feuchtigkeit, welche, da es leicht ist, mit diesem Extracte verschiedene, älter machende Schattirungen anzubringen, nicht wenig dazu beigetragen hatte, sein Aeußeres zu verändern.

Hierauf trat er an das Fenster und musterte die draußen liegende Frühlingslandschaft.

»Ah, was ist das?« fragte er sich. »Da draußen unter der Linde liegt Einer. Ist das vielleicht Fritz? Und von der Spitze scheint Etwas herabzuhängen, was ich auch noch nie gesehen habe. Ich muß sogleich das Fernrohr nehmen, um mich zu überzeugen.«

Er holte das Fernrohr, öffnete die Fensterflügel und visirte nach der Linde hinüber. Da sah er deutlich seinen Fritz mit dem Fernrohre sitzen. Dieser erkannte auch ihn genau, denn er zog den Hut vom Kopfe und grüßte mit demselben. Er hatte jedenfalls etwas Wichtiges zu berichten; dies zeigte seine Gegenwart bei der Linde.

Müller nahm sein weißes Taschentuch und winkte damit, zum Zeichen, daß er kommen werde, und sofort erhob sich Fritz, um nach dem Walde zu gehen.

Auch Müller verließ das Schloß, nachdem er die heute Nacht geschriebenen Briefe zu sich gesteckt hatte, und that, als wolle er sich ein Wenig ausgehen. Er schlenderte langsam dem Parke zu, nahm aber dann einen schnelleren Schritt an, und schritt dem Walde entgegen, in welchem an der verabredeten Stelle Fritz aus den Büschen trat.

»Guten Morgen, Herr Doctor,« grüßte er freundlich. »Ausgeschlafen?«

»Wenig geschlafen.«

»Ich gar nicht.«

»Gar nicht? Ah, Du hast Wache gehalten?«

»Ja, aber nicht da, wo ich sollte.«

»Wo sonst?«

»In einer alten Ruine, wo die Verschwörer zusammenkommen, und wo ich beinahe um das Leben gekommen wäre.«

»Du bist nicht klug!« rief Müller erschrocken. »Du hast Dich doch nicht etwa ohne meine Genehmigung in eineVersammlung dieser fanatisirten Franzosen gewagt?«

»Leider doch!« antwortete Fritz in kläglich komischem Tone.

»Und bist erwischt worden? Fritz, Du wirst uns wirklich noch verrathen!«

»Fällt mir gar nicht ein. Das Ding hat keine anderen Folgen gehabt, als daß ich während der Nacht zwischen den Sträuchern mir den Rücken wund gelegen habe.«

»So erzähle!«

»Nicht hier am Wege, sondern etwas tiefer im Walde. Hier könnten wir überrascht werden.«

Sie schritten weiter zwischen die Bäume hinein, und nun erzählte Fritz sein nächtliches Abenteuer. Sein vorhergehendes Zusammentreffen mit Nanon verschwieg er aber.

Als er geendet hatte, zeigte Müller's Gesicht einen ganz erstaunten Ausdruck.

»Wunderbar, daß ich von dieser Ruine noch nichts gehört habe!« sagte er. »Wie es scheint, sind die von uns gesuchten Vorräthe dort zu finden, während wir annehmen, daß sie in der Nähe des alten Thurmes versteckt seien. Ist es weit bis zu der Ruine?«

»O, gar nicht so sehr weit; kaum so weit wie bis zum Thurme.«

»So führe mich hin, ich muß sie sehen.«

Sie gingen, und unterwegs ließ Müller sich Verschiedenes noch ausführlicher berichten.

»Also einen eisgrauen Bart hatte der Redner?« fragte er.

»Ja; der Bart war dicht und lang. Als der Mann meine Anwesenheit entdeckt hatte, fletschte er die Zähne, wie ein Bullenbeißer, welcher Jemand anspringen will.«

»Er ist's! Es war kein Anderer!«

»Wer?«

»Der alte Capitän von Schloß Ortry. Und wenn mich nicht Alles trügt, so waren die beiden Anderen der Graf Rallion mit seinem Sohne, dem Obersten, der die Baronesse Marion zur Frau haben will.«

»Der Teufel soll sie ihm schaffen!« zürnte Fritz. »Die ist für einen Anderen bestimmt.«

Dabei blinzelte er seinen Herrn von der Seite an, doch dieser that, als ob er es gar nicht bemerke, sondern frug in gelassenem Tone weiter:

»Und Du weißt bestimmt, daß Du die beiden Anderen verwundet hast?«

»Ganz bestimmt. Dem Einen habe ich das Messer über das ganze Gesicht weg gezogen, und der Andere muß ein gewaltiges Loch in der Hand haben, denn ich entsinne mich, daß ich das Messer in der Wunde umgedreht habe, als ich davon sprang.«

»Sie haben sich heute noch nicht sehen lassen, aber ich werde es erfahren, ob sie es sind. Spät genug sind sie nach Hause gekommen. Aber, Mensch, was hättest Du denn gemacht, wenn die Thür nicht wieder geöffnet worden wäre?«

»So wäre ich durch die hintere Thür entsprungen.«

»Aber wohin?«

»Das weiß der liebe Gott, ich nicht!«

»Du wärst jedenfalls in einen unterirdischen Gang gerathen, und hättest da, wenn Du nicht vorher entdeckt worden wärst, auf schändliche Weise verhungern können!«

»Ich vertraute auf den lieben Gott, der bekanntlich keinen Deutschen verläßt.«

»Gegen ein braves Gottvertrauen habe ich nicht das Mindeste einzuwenden, doch darf es nicht zur Tollkühnheit verleiten. Sei vorsichtiger das nächste Mal! Ich bedarf Deiner und mag Dich nicht auf so leichtsinnige Weise verlieren. Das ist aber die Hauptsache nicht, sondern Du bist ein braver Kerl; ich habe Dich lieb und will nicht sehen, daß Dich Dein Muth in eine Lage bringt, aus welcher ich Dich nicht retten kann.«

»Dieses Wort danke Ihnen der liebe Gott, Herr Rittmeister!« sagte Fritz, die Hand seines Herrn ergreifend. »Vielleicht kommt die Zeit, in der ich es zu einem kleinen Theile vergelten kann.«

»Das kann man nicht wissen. Der Krieg bricht sicher los. Wir kämpfen neben einander; da ist es leicht möglich, daß wir einander Dienste leisten müssen, an die wir jetzt noch nicht denken mögen. Der Himmel sei uns dann gnädig gesinnt!«

Fritz kannte jetzt die Richtung sehr genau, in welcher er die Ruine zu suchen hatte. Sie erreichten sie wirklich eher, als sie den alten Thurm erreicht hätten. Als sie an der Front hinabschritten, in welcher sich die Einfahrt befand, erkannte Müller, daß es ein Kloster gewesen sein müsse.

Sie durchschritten die Durchfahrt, doch sprang Fritz zurück, um sich vorher einige Kienäpfel zu holen, denn ohne Licht konnte man da unten im Saale nichts erkennen.

In dem großen Hofe angekommen, zeigte er seinem Herrn den Ort, wo er den Mann überfallen, und dann die Thurmecke, in welcher er ihn gefesselt hatte. Dann traten sie in die Thorpforte ein und schritten den Gang hinab. Fritz machte den Führer, da er das Beleuchtungsmaterial für unten aufsparen wollte. Sie gelangten an die Treppe und durch diese in den unteren Gang. Die Thür zum Saale war nicht verschlossen. Sie traten ein.

Jetzt zog Fritz seine Kienäpfel und ein Zündhölzchen hervor und brannte einen an. Das dunkelgelbe, rauchige Licht konnte nur wenig Helle verbreiten, aber sie erkannten doch, daß hier noch gar nicht aufgeräumt worden sei. Die Scherben der zerbrochenen Lampen lagen noch zertreten und zerstampft am Boden, und – sie wichen Beide erschreckt zurück, denn da öffnete sich die hintere Thür, und herein trat der alte Capitän mit einer großen Lampe und einem – Besen in der Hand.

Die Lampe hatte einen polirten Reflector, welcher den Schein des Lichtes verzehnfachte. Dieser Schein fiel auf die beiden Dastehenden. Der Capitän sah sie und erkannte Müller auf den ersten Blick. Ein schneller Gedanke durchzuckte ihn. Was wollte Müller hier? Er war ein Deutscher. War er vielleicht der gestrige Eindringling? Wer war der Andere, der neben ihm stand?

Mit raschen Schritten trat der Alte auf Müller zu und fragte drohend:

»Monsieur, was thun Sie hier?«

Der Gefragte hatte sich schnell gefaßt. Er antwortete im ruhigsten Tone:

»Etwas sehr Interessantes: ich durchstöbere diese alte Ruine. Hätte ich von ihrem Dasein etwas gewußt, so hätte ich mir auch eine Lampe mit gebracht, wie Sie, gnädiger Herr!«

Diese Antwort machte den Alten bestürzt.

»Sie haben nichts von ihr gewußt?«

»Nein.«

»Bis wann?«

»Bis vor wenig Minuten, wo wir sie erblickten.«

»Wir! Wer ist dieser Mann?«

»Ein Bekannter von mir.«

»Ah, Sie haben Bekannte hier?«

Der Alte zog die Schnurrbartspitzen empor und zeigte seine Zähne. Fritz sah sofort, daß es der gestrige Redner gewesen sei. Die letztere Frage war in einem so höhnisch inquirirenden Tone gesprochen, daß Müller auch ein schärferes Wort auf die Lippen kam:

»Verbieten Sie mir vielleicht, hier Bekanntschaften zu haben?«

Der Alte trat erstaunt einen Schritt zurück, setzte die Lampe zu Boden und sagte:

»Monsieur Müller, wie kommen Sie mir vor! Wer ist es, der hier Fragen zu stellen hat?«

»Ein Lebender jedenfalls nicht, sondern nur die Todten, denen dieses Kloster einst gehörte. Hier im Reiche des Verfalles, ist ein jeder dem Anderen gleich.«

Diese Antwort frappirte den Capitän. Er meinte etwas ruhiger:

»Sie sind hier fremd; ich durfte mich wohl wundern, daß sie von Bekanntschaft sprachen.«

»Wir lernten uns auf dem Schiffe kennen. Dieser Mann ist der Kräutersammler des Doctor Bertrand in Thionville.«

»Ah, der Mademoiselle Nanon gerettet hat?«

»Ganz derselbe.«

»Was thut er hier?«

Müller antwortete, da er den Verdacht des Alten ahnte:

»Ich litt gestern an Congestionen nach dem Kopfe, weßhalb ich mich sehr zeitig schlafen legte. Da aber die Zimmerluft das Uebel verschlimmert hat, so machte ich einen Spaziergang durch den Wald. Dort traf ich diesen Mann, welcher eine seltene Pflanze suchte, Sonnenthau, einen vorzüglichen Thee. Auch ich kenne das kleine, empfindsame Gewächs, welches zu den fleischfressenden Pflanzen gehört, und erbot mich, mit zu suchen. Wir kamen auf diese Weise tief in den Wald hinein und standen plötzlich vor dieser Ruine.«

»Von welcher Sie noch nichts gehört hatten?«

»Kein Wort!«

»Können Sie mir dies auf Ihre Ehre versichern?«

»Ich gebe mein Ehrenwort, bis vor kurzer Zeit vom Dasein dieser Ruinen nicht das Geringste gewußt zu haben!« versicherte Müller im Tone der Wahrheit. »Aber wozu diese Dringlichkeit? Wozu dieses Examen? Wozu diese Lampe und dieser Besen? Herrscht hier vielleicht ein Räuberhauptmann, ein Blaubart, ein menschenfressender Riese? Hat hier nicht ein jeder freien Zutritt, der sich für Alterthümer interessirt?«

»Schweigen Sie!« donnerte ihm da der Alte entgegen. »Wissen Sie, daß diese Ruine auf meinem Grund und Boden liegt?«

»Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir denken.«

»Nun gut; ich bin der Grundherr, ich habe hier zu befehlen, und ich verbiete Ihnen, jemals dieses Kloster wieder zu betreten!«

»Mir, dem Erzieher ihres Enkels?« fragte Müller mit gut gespieltem Erstaunen.

»Ja.«

»Und Fremde dürfen Zutritt nehmen?«

»Wer sagt Ihnen, daß Leute hier gewesen sind?«

»Blicken Sie zu Boden! Sehen Sie, daß diese Spuren noch ganz frisch sind?«

»Daß geht Sie nichts an!« rief da der Alte. »Sie sollen hier nicht denken; Sie sollen hier nicht urtheilen! Ich bin der Herr. Packen Sie sich hinaus!«

Da zuckte der Deutsche gleichmüthig die Achsel und antwortete:

»Mir ist es sehr gleich, wer hier zu denken und zu urtheilen hat. Draußen aber wird man auch urtheilen, nämlich über die Art und Weise, mit welcher man von hier hinausgeworfen wird, über die Sonderbarkeit, daß ein Capitän der Kaisergarde hier mit dem Besen regiert, und über andere Dinge, welche fast vermuthen lassen, daß hier nicht Alles in Ordnung ist.«

Da sprang der Alte wüthend auf ihn zu, faßte ihn am Arme und rief:

»Monsieur, was wollen Sie mit Ihren Vorwürfen sagen, he?«

»Nichts weiter, als daß ich Ihrem Befehle, diesen Ort zu verlassen, zwar gehorche, dennoch aber streng darauf bestehen muß, fernerhin in anderer Weise angesprochen zu werden. Ein deutscher Doctor der Philosophie steht in gesellschaftlicher und intellectueller Beziehung keineswegs unter einem französischen Capitän der Kaisergarde!«

»Ah, das wagen Sie!« knirschte der Alte, indem sein Bart sich förmlich sträubte. »Ich werde Sie entlassen; ich werde Sie fortjagen!«

»Pah, das können Sie nicht. Sie sind der Herr Capitän Richemonte; mein Contract aber ist vom Herrn Baron de Sainte-Marie unterzeichnet und untersiegelt. Adieu, Herr Capitän!«

Er ging, und Fritz folgte ihm.

»Ah, gehen Sie!« rief ihm der Alte nach. »Ich werde nachher mit Ihnen sprechen!«

Als die Beiden draußen angelangt waren, gingen sie erst eine Weile schweigend neben einander her. Dann aber bemerkte Fritz:

»Jetzt haben Sie sich einen unversöhnlichen Feind geschaffen.«

»Jedenfalls!«

»Der Ihnen niemals verzeihen wird!«

»Das muß ich geduldig tragen. Die Grobheiten dieses Mannes waren ganz darnach, mich herauszufordern. Ich habe ihm geantwortet; wir sind also Beide quitt.«

»O, noch nicht! Er wird Sie fortjagen!«

»Ich werde nicht gehen!«

»Wirklich nicht? So wird er Sie schinden und beunruhigen!«

»Ich werde mir das verbitten!«

»Er wird Ihnen die Lösung Ihrer Aufgabe unmöglich machen!«

»Ich habe ihn nicht zu fürchten, obgleich er Alles zu regieren gedenkt. Denken wir nicht an ihn! Ich habe Dir etwas Wichtigeres zu sagen. Kannst Du unbemerkt Hacken und Schaufeln besorgen?«

»Warum nicht?«

»Für heute Abend?«

»Sehr leicht.«

»Nun wohl; wir werden ein Grab öffnen.«

»Donnerwetter! Ein Grab aufmachen? Das klingt ja ganz unmöglich!«

»Kennst Du den Zauberer Abu Hassan, der heute in Thionville Vorstellungen giebt?«

»Ja. Er wohnt im Gasthofe, dem Doctor Bertrand gegenüber. Es ist ein Frauenzimmer bei seiner Truppe, welches mir heute eine förmliche Liebeserklärung gemacht hat.«

»Glücklicher Mann, die Liebe einer Künstlerin zu erregen!«

»Hm, die Kunst ist in ihr bereits über dreißig Jahre alt geworden, Herr Doctor!«

»Desto größere Anerkennung verdient sie. Aber, bleiben wir bei der Sache! Abu Hassan ist jedenfalls ein Orientale; die erste Frau des Barons stammte auch aus dem Oriente. Beide müssen in irgend einer Beziehung zu einander gestanden haben, denn er ist gekommen, sich ihre Gebeine zu holen.«

»Das kommt mir noch mehr als orientalisch vor. Aber was haben Sie, und was habe ich mit diesem Hassan und diesen orientalischen Gebeinen zu thun?«

»Wir sollen sie ihm mit aus der Erde hacken.«

»Warum denn gerade wir?«

»Ja, die Veranlassung ist geradezu lächerlich. Ich stieg gestern Abend am Blitzableiter herab, während er aus irgend einem Grunde um das Schloß herumstrich. Er hielt mich für einen Einbrecher, einen Dieb. Und da ein solcher sich wohl zur widerrechtlichen Oeffnung eines Grabes dingen läßt, so bot er mir zweihundert Franken, wenn ich ihm behilflich sein und noch einen Arbeiter bringen wolle, das Heidengrab zu öffnen.«

»Und Sie haben das wirklich angenommen?«

»Ja. Ich glaube nämlich fast, daß die Baronin gar nicht gestorben ist, und also auch nicht begraben worden sein kann. Entweder ist das Grab leer, oder es enthält eine falsche Leiche. Ich muß mich überzeugen und werde also heute Abend dort eintreffen.«

»Ich bin dabei; aber das Geld nehmen wir nicht.«

»Das versteht sich ganz von selbst! Richte es also so ein, daß Du noch vor elf Uhr mit den Werkzeugen am Grabe anlangst. Hier nun wollen wir uns trennen. Für morgen habe ich einen Weg für Dich. Hier sind Briefe. Du gehst mit ihnen über die Grenze und giebst sie drüben auf der ersten deutschen Postanstalt ab. Ich traue hier nicht recht, daß sie mir geöffnet werden könnten.«

Er gab ihm die Scripturen, und dann trennten sie sich.

Als Müller das Schloß erreichte, war es bereits über zwölf Uhr geworden. Ein Diener sagte ihm, daß der Herr Capitän soeben befohlen habe, den Doctor Müller zu ihm zu schicken, sobald er von seinem Spaziergange zurückgekehrt sei.

Also der Capitän befand sich bereits daheim! Das war für den Deutschen ein ganz unanfechtbarer Beweis, daß zwischen dem Schlosse und der Klosterruine ein kerzengerader unterirdischer Weg vorhanden sei. Er fürchtete den Alten nicht im Mindesten und begab sich in größter Seelenruhe nach dem Zimmer desselben.

Er saß am Schreibtische und schrieb. Als Müller eintrat, erhob er sich rasch, warf die Feder auf den Tisch und sagte:

»Monsieur, ich habe Sie zu mir kommen lassen, um Ihnen das zwischen mir und Ihnen zu bestehende Verhältniß einmal klar zu machen.«

Er befand sich augenscheinlich in einem Zustand hochgradiger Erregung. Dieser Umstand aber beirrte den Deutschen ganz und gar nicht. Er antwortete:

»Das ist mir außerordentlich lieb. Auch ich liebe die Klarheit, und werde gegenwärtig gern das Meine beitragen, um zu ihr zu gelangen.«

Der Alte that, als ob er die Kampfbereitschaft, welche in diesen Worten lag, gar nicht bemerkte, oder er bemerkte sie wirklich nicht, sondern fuhr im rücksichtslosesten Tone fort:

»Sie haben sich vorhin in der Ruine eine Sprache erlaubt, die ich nicht dulden kann!«

Der Deutsche zuckte die Achsel und meinte:

»Da liegt die Schuld jedenfalls an meiner musikalischen Begabung.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Capitän stutzend.

»Nun, ich habe mich früher sehr mit Harmonielehre und Generalbaßstudien beschäftigt, und seit jener Zeit bin ich immer ein Freund des Harmonischen geblieben. Ich antworte in Dur, wenn man mich in Dur fragt, und rede in Moll, wenn man in Moll zu mir spricht. Der Herr Capitän beliebte, in der Ruine eine Redeweise anzuwenden, welche sehr strignendo klang; mein musikalisches Rechtsgefühl erlaubte mir nur, strignendo zu antworten.«

»Larifari! Was verstehe ich von Ihrem Dur, Moll und Strignendo! Ich habe Sie einfach zu fragen, ob Sie mich als Ihren Herrn anerkennen, dem Sie unbedingt und auf alle Fälle zu gehorchen haben. Antworten Sie strikte: Ja oder Nein?«

»Nein!«

»Ah, also wirklich Nein?«

»Wirklich Nein!«

»So jage ich Sie zum Teufel!« brauste der Alte auf.

»Ich gehe nicht!«

»Nicht? Das wollen wir sehen! Ich werde Sie zu zwingen wissen!«

»Sie können mir gar nicht zumuthen, wirklich zum Teufel zu gehen, wenn es Ihnen wunderlicher Weise einfällt, mich zu ihm zu schicken. Ich weiß bis heute noch nicht, wo sich die Wohnung dieses ehrenwerthen Monsieurs befindet. Ich werde auch überhaupt nicht gehen, wenn Sie mich fortschicken, denn Sie haben kein Recht dazu.«

»Sie widerstehen mir?«

»Allerdings. Ich bin vom Baron de Sainte-Marie engagirt, nicht von Ihnen!«

»Oho! Ich habe an seiner Stelle den Contract unterzeichnet und besiegelt, und ich werde an seiner Stelle auch die Ausweisung unterschreiben und petschiren.«

»Versuchen Sie es! Sie werden sehen, daß ich Sie nicht fürchte, Herr Capitän!«

So war ihm noch Keiner gekommen. Er fletschte die Zähne, trat auf den Deutschen zu, und rief mit ganz und gar nicht unterdrückter, sondern mit dröhnender Stimme:

»So werde ich Sie mit meinen Händen erfassen und hinauswerfen!«

Müller lächelte ihm mit größter Freundlichkeit entgegen und antwortete:

»Oder die Pistole nehmen und mich erschießen, wie den Fabrikdirector. Verstanden?«

Da fuhr der Alte zurück, als habe er ein Gespenst gesehen. Seine Augen öffneten sich weit, eben so sein Mund, aber nicht vor Schreck, sondern vor ungeheurem Zorn.

»Herr!« donnerte er. »Soll ich Sie zermalmen?«

»Das würde Ihnen schwer werden. Mir wird es nie einfallen, ein Blanquet auszustellen, welches Sie dann mit der Erklärung ausfüllen, daß ich mich selbst morde, weil ich Ihre Gelder unterschlagen habe, die Sie doch den Augenblick vorher in guten, echten, leider aber gezeichneten Banknoten einsteckten.«

Jetzt stutzte der Alte doch. Er war so betroffen, daß er kein Wort hervorbrachte.

»Ich hätte Ihnen,« fuhr Müller fort, »wirklich die Klugheit zugetraut, mit einem Manne meines Kalibers richtig sprechen zu können; aber ich sehe leider, daß ich mich täuschte. Sie beherrschen die ganze Besitzung, so daß alle Welt Sie flieht und fürchtet; aber dem armen, buckeligen Deutschen vermochten Sie doch nicht, Respect abzunöthigen. Ein Mann der Wissenschaft, zumal meiner Wissenschaft, fürchtet keinen Menschen.«

»Ihrer Wissenschaft? Welche Wissenschaft nennen Sie denn so speciell die Ihrige?«

»Die Magie.«

»Die Magie? Unsinn! Reden Sie zu alten Weibern von der Magie, aber nicht zu mir. Mit diesem Schwindel machen Sie mich nicht zum Fürchten, Monsieur Müller!«

Er hatte seine Fassung wieder gewonnen und blickte den Deutschen finster an. Dieser hielt den herausfordernden Blick gelassen aus und antwortete lächelnd:

»Sie irren. Haben Sie einmal etwas vom Erdspiegel gehört, in welchem Derjenige, der es versteht, Alles sehen kann, was er will, selbst die tiefsten Geheimnisse eines Menschen?«

»Unsinn, und abermals Unsinn!«

»Ich werde Ihnen das Gegentheil beweisen. Ich wollte sehen, was Sie thaten, und blickte in meinen Spiegel. Da sah ich Sie durch eine Stelle der Täfelung in das Gemach des Directors treten; ich sah ihn das Geld aufzählen; ich sah ihn das Blanquet ausstellen; ich sah Sie dann, am Schreibtische sitzend, das Blanquet ausfüllen; ich sah Sie dann in den Hintergrund des Zimmers treten, während er am Schreibtische las, was Sie geschrieben hatten; ich sah, wie er dann nach der Leitung sprang, wie in Ihrer Hand der Schuß aufblitzte, wie Sie das Blanquet so legten, daß es gesehen werden konnte, wie Sie in Ihre Wohnung gingen, um das Geld zu verbergen, und sich dann schnell umkleideten, um den Glauben zu erwecken, daß Sie soeben erst erwacht seien. Mein Erdspiegel zeigte mir die Leitung; darum fand ich sie sogleich.«

Während dieser Worte war eine schreckliche Veränderung mit dem Alten vorgegangen. Seine Augen waren vor Angst eingesunken, seine Wangen erbleicht. Sein Schnurrbart hing trostlos hernieder, und er selbst war auf einen nahen Stuhl gesunken. Dieser Deutsche schilderte den Hergang so genau, als ob er selbst dabei gewesen wäre. War die Geschichte vom Erdspiegel wirklich keine leere Sage?

»Ist's wahr?« stöhnte er. »Ist's wahr?«

»Vollständig wahr. Ich habe das Alles nicht blos gesehen, sondern auch gehört, Wort für Wort. Ich hörte die Versprechungen, welche Sie dem Director machten; die Erklärung, welche Sie seiner Liebe zur Baronin gaben; ich hörte, daß Sie ihn bereits am Vormittage mit ihr im Boudoir beobachtet hatten. Ich hörte von der Gratification, mit der Sie ihn kirrten; ich hörte Alles, Alles, bis der Schuß fiel, denn dann war ja nichts mehr zu hören.«

»O, mein Gott, mein Gott!«

»Und so sehe ich noch jetzt das geraubte Gut, welches Sie dort im geheimen Fache hinter dem dritten Kasten verborgen halten; ein leiser Druck genügt, um die Feder zu öffnen. Soll ich es Ihnen zeigen?«

Er trat näher.

»Nein, nein!« schrie der Alte entsetzt, indem er seine Arme abwehrend ausstreckte.

»Ich sehe sogar die Nummern der Noten,« fuhr Müller fort. »Sie sind 10468, 17391, 21869, und so weiter, und darauf befinden sich die Anfangsbuchstaben der Firmen, von denen sie der Director erhielt. Sagen Sie selbst, ob der Erdspiegel ein solcher Unsinn ist, wie Sie sich auszudrücken beliebten!«

Da richtete der Alte einen furchtsamen, angstvollen Blick auf ihn und fragte:

»Und das Alles ist Wahrheit?«

»Pah, zweifeln Sie immerhin daran, wenn Sie es vermögen! Aber sehen Sie es wenigstens ein, daß ein deutscher Doctor Ihnen ebenbürtig ist! Sie haben mir gedroht, mich hinauszuwerfen. Nun wohl, so werde ich Sie zwar nicht hinauswerfen, aber hinausführen lassen, nämlich von den Sergeanten der Polizei. Das Blut des Directors schreit zum Himmel; ich kann beweisen, wer sein Mörder ist, und die Baronin soll den heimlich Geliebten gerächt sehen!«

Da fuhr der Alte empor.

»Nein, nein, nur dieses nicht! Sie sind ein fürchterlicher Mensch! Was verlangen Sie denn eigentlich von mir?«

»Sehr wenig. Ich verlange Ihre Unterschrift, daß Sie der Mörder des Directors sind.«

»Unmöglich!« rief der Capitän.

»Sehr möglich und sogar nothwendig! Hören Sie mich an! Sie geben mir diese Unterschrift, welche Sie mit Ihrem Siegel sowohl, als auch mit Ihrem Stempel versehen. Ich bewahre dieselbe auf, bis ich von hier freiwillig abgehe. Scheiden wir im Guten, so erhalten Sie die Unterschrift zurück, und Niemand wird erfahren, was Sie thaten. Scheiden wir im Bösen, so kommt die Schrift in die Hände der Baronesse. Ich gebe Ihnen fünf Minuten Bedenkzeit. Sind diese verflossen, ohne daß Sie sich zu der Unterschrift bequemen, so lasse ich die Polizei kommen. Ich brauche meine Beweise gar nicht; es genügt einfach die Thatsache, daß man die Noten bei Ihnen findet, während Sie in den Acten deponiren, daß der Director sie unterschlagen habe. Also fünf Minuten, sie beginnen jetzt. Entscheiden Sie sich!«

Der Alte sah sich gefangen; es half ihm kein Leugnen. Nur eine Rettung gab es: diesen Deutschen niederzuschießen gerade wie den Fabrikdirector.

Die Hand des Capitäns näherte sich dem Kasten, in welchem er seine Waffen liegen hatte; da aber griff der Deutsche in seine Tasche, zog den Revolver hervor und drohte:

»Die Hand vom Kasten, oder ich schieße Sie nieder wie einen Hund, wie ein Raubthier, das Sie ja auch sind! Drei Minuten! Sie haben nur noch zwei. Ich scherze nicht, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht eine Secunde länger warte!«

Da griff der Alte nach dem dritten Kasten, um die Banknoten heraus zu nehmen. Er wollte sie vernichten; dann gab es keinen Beweis mehr gegen ihn. Aber sofort stand Müller bei ihm und hielt ihm seine Hand.

»Halt! Mich überlisten Sie nicht! Sie haben noch eine halbe Minute, dann klingele ich die ganze Dienerschaft zusammen. In deren Gegenwart dürfen Sie dann die Noten herausnehmen, eher aber nicht.«

Er blickte nach der Uhr.

»Fünf Minuten um! Nun?«

»Sie sind ein Teufel!« ächzte der Alte.

»Pah, was nutzt das ewige Verhandeln! Ich warte nicht!«

Bei diesen Worten faßte er den Glockenzug und schellte. Da aber sprang der Alte auf und schrie in entsetzlicher Angst:

»Halt! Halt! Ich unterschreibe!«

»Was ich dictiren werde?« fragte Müller.

»Ja, Alles!«

In diesem Augenblicke trat der Diener ein. Der Capitän blickte voller Angst auf Müller, was dieser sagen werde. Der Deutsche wandte sich nach der Thür und sagte:

»Der Herr Capitän läßt Ihnen sagen, daß ich als Erzieher des Baron Alexander das Recht beanspruchen kann, an der Familientafel zu speisen. Es ist also von jetzt an für mich dort zu serviren!«

Der Domestike verbeugte sich und schritt heraus, vor Verwunderung ganz wirr im Kopfe. So etwas Unerhörtes war in diesem Hause noch niemals passirt.

»Auch das noch!« rief der Alte. »Ich wiederhole es, Sie sind ein Teufel!«

»Und Sie ein Satan!« lachte Müller. »Raisoniren Sie übrigens nicht, sondern schreiben Sie, sonst sehe ich mich veranlaßt, nochmals zu klingeln, und dann stehe ich für nichts.«

»Sie werden das Blatt keinem Menschen zeigen?«

»So lange wir Freunde sind, keinem Menschen.«

»Gut, so dictiren Sie!«

Er nahm einen Bogen Papier her und griff zur Feder. Müller dictirte folgende Zeilen:

»Ich gestehe hiermit ein, daß mein Fabrikdirector kein Selbstmörder ist, sondern von mir erschossen worden ist. Die Banknoten, welche er nach meiner Aussage mir unterschlagen haben soll, hat er mir fünf Minuten vor dem tödtlichen Schusse ausgezahlt.

Ortry, den 19. Mai 1870.

Albin Richemonte, Capitän.«

Der Wortlaut dieses Eingeständnisses gefiel dem Capitän nicht. Er widersprach, er bat, er drohte; es half ihm nicht; der Deutsche beharrte eisern auf seinem Vorsatze. Endlich hatte er das Papier unterschrieben und untersiegelt in der Hand; da trat er zur Klingel und zog daran.

»Um Gotteswillen, was wollen Sie noch?« fragte der Alte besorgt.

»Bleiben Sie ruhig,« antwortete Müller. »Ich beabsichtige nichts Ihnen Gefährliches.«

Und als der Diener eintrat, befahl er:

»Der Herr Capitän läßt die gnädige Baronesse und Mademoiselle Nanon zu sich bitten.«

»Aber was sollen denn diese?« fragte der Alte, als der Diener sich entfernt hatte.

»Sie sollen Ihre Unterschrift recognosciren,« antwortete Müller. »Bei Ihnen muß man vorsichtig sein. Sie könnten sonst Alles ableugnen und für gefälscht erklären.«

Der Capitän hätte den Deutschen erwürgen mögen, aber er mußte seine Wuth verbergen. Im Stillen aber gelobte er sich Rache.

»Ich werde ihn beobachten, wenn er nachher geht,« dachte er. »Ich werde sehen, wo er das Papier verbirgt. Ich werde es mir holen und die Banknoten an einem anderen Ort verstecken; dann habe ich ihn überlistet, und er ist machtlos.«

Er brachte bei diesem Entschlusse weder den Erdspiegel, oder, was ja ganz dasselbe war, die vorsichtige Klugheit Müller's in Rechnung.

Es dauerte gar nicht lange, so erschienen die beiden Damen, ganz begierig, zu wissen, was der so seltene Ruf zum Capitän bedeute. Sie waren erstaunt, Müller bei ihm zu sehen, und ihr Erstaunen wuchs, als dieser sie anredete:

»Mesdemoiselles, ich stehe im Begriffe, mir eine sehr große Gefälligkeit von Ihnen zu erbitten. Der Herr Capitän hat mir hier einen Revers ausgestellt, zu dessen Giltigkeit unbedingt erforderlich ist, daß zwei Personen bezeugen, daß Unterschrift, Siegel und Stempel wirklich von ihm stammen. Würden Sie die Gewogenheit haben, dies durch ein paar Worte und Ihre Unterschrift zu beurkunden?«

»Gern!« sagte Marion bereitwillig. »Großpapa, Du hast das geschrieben, untersiegelt und gestempelt?«

»Ja,« antwortete er, innerlich knirschend. »Aber Ihr Beiden dürft es nicht lesen!«

»Gut, so legen wir Etwas darauf!«

Sie bedeckte den Inhalt mit einem Papierblatte und schrieb dann zwei Zellen. Als sie fertig war, schob sie die Schrift der Freundin hin. Diese unterzeichnete und nun las Marion vor:

»Wir haben geschrieben: »Daß diese Unterschrift nebst Stempel und Siegel in Wirklichkeit von der Hand meines Großvaters, des Capitäns Albin Richemonte, stammen, bescheinigen wir mit unserer Unterschrift. Marion de Sainte-Marie. Nanon Charbonnier.« Ist es so richtig?«

»Ganz und gar,« antwortete Müller, indem er sich verbeugte. »Nehmen Sie unseren herzlichsten Dank!«

Sie sahen, daß sie entlassen seien, dennoch aber fragte Marion den Deutschen:

»Ich hörte von Alexander, daß Sie mit uns nach Thionville fahren?«

»Ja; er hat mich, so zu sagen, zu dieser Tour gepreßt,« antwortete er lächelnd.

»Uns ebenso, doch müssen wir dies schwere Leiden mit Geduld ertragen. Adieu!«

Als sie sich entfernt hatten, erhob sich der Alte und stand in der Ueberzeugung, daß er seinen Gegner doch noch betrügen werde, in stolzer Haltung da.

»Nun sind wir wohl fertig!« fragte er.

»Ja, obgleich ich eigentlich noch im Sinne hatte, dafür zu sorgen, daß die Banknoten nicht verschwinden, sondern als Beweis zurückbleiben. Allein sie sind nicht mehr nothwendig dazu. Ihre Unterschrift und diejenige der Damen genügen vollständig.«

»So können Sie gehen!«

Er wendete sich in imponiren sollender Haltung ab. Müller aber blieb stehen und beobachtete ihn mit stillem Lächeln. Da wendete er sich rasch wieder um und fragte:

»Nun, ich denke, wir sind fertig!«

»Allerdings, nämlich bis auf eine kurze Bemerkung. Ich bin überzeugt, daß Sie mich noch immer zu niedrig taxiren. Ihre persönliche Haltung, Ihr so schnell veränderter Ton, sind eine Unvorsichtigkeit, denn sie lassen mich vermuthen, daß Sie noch immer glauben, mich zu überlisten. Ich weiß, in welcher Weise dies einzig nur geschehen kann: Sie werden durch ein gewisses, matt geschliffenes Glas beobachten, wohin ich das Papier lege und es mir dann stehlen. Sie werden ferner den Noten einen anderen Aufbewahrungsort geben; dann stehe ich macht- und beweislos Ihnen gegenüber, und Sie können mich wie einen Hund vom Hause jagen. Oder Sie machen es noch kürzer: Sie schießen mir eine Kugel durch den Kopf; das ist gründlich gehandelt. Da muß ich Ihnen nun leider sagen, daß ich Ihnen Schach und Matt biete. Ich fahre nachher nach Thionville. Von da aus geht eine Estafette mit diesem Papiere nach meiner Heimath, wo dasselbe heilig aufbewahrt wird. Widerfährt mir bei Ihnen hier das geringste Leid, so wandert das Papier zum Staatsprocurator. Was dann folgt, das können Sie sich ausmalen, nachdem ich Sie jetzt verlassen habe. Adieu, Herr Capitän!«

Er ging, aber hinter sich vernahm er noch die vor Wuth förmlich herausgekeuchten Worte:

»Hole Dich der Teufel! Dieses Geschöpf des Satanas ist wahrhaftig allwissend!« –

Kurze Zeit später fuhren die beiden Wagen vom Schlosse ab nach Thionville, und Müller wurde wirklich von der Baronin eingeladen, in dem ihrigen Platz zu nehmen. –

Gegenüber von dem Hause, in welchem Doctor Bertrand sein Domicil aufgeschlagen hatte, befand sich ein Gasthof, welcher besonders von den Angehörigen des Mittelstandes besucht zu werden pflegte. Dort hatte der Zauberer Abu Hassan mit seiner Künstlertruppe Wohnung genommen.

Keiner von seinen Leuten wußte, woher der Chef eigentlich stammte, und Keiner kannte die Quellen, aus denen er schöpfte. Mochte die Einnahme eine noch so karge sein, Hassan hatte immer Geld, seine Mitglieder zu befriedigen.

Niemand ahnte, daß er dieses Leben nur gewählt hatte, weil es ihn überall im Lande herumführte und ihm reichliche Gelegenheit gab, Nachforschungen anzustellen, ohne dabei auffällig zu werden. Es galt der Entdeckung eines Geheimnisses, der Rache eines Verbrechens. Er hatte Jahre lang vergebens gesucht, hatte bereits die Hoffnung aufgeben wollen, und nun, nun stand er plötzlich vor dem Anfange des Endes.

Im kleinen Stübchen, welches an die große Gaststube stieß, saß Fritz Schneeberg bei einem Glase Wein. Neben ihm saß eine der Künstlerinnen. Sie hatte auf alle Fälle bereits dreißig Jahre zurückgelegt; ihr Gesicht predigte laut von übermäßig befriedigten Leidenschaften, doch hatten Puder und Schminke das Ihrige gethan, ihr ein möglichst anziehendes Aussehen zu geben. Sie war bereits für die Vorstellung in ein leichtes, durchsichtiges Flittergewand gekleidet. Das blaue, goldbeflimmerte Mieder ließ Hals, Nacken, Busen und Arme frei, und das Röckchen, kaum noch weiß von Farbe, bedeckte kaum die Oberschenkel und gab dem Blicke die starken, mit durchscheinenden Tricots bekleideten Beine zur ungeschmälerten Besichtigung. Trotz ihrer vollen, schweren Gestalt war sie die Seilkünstlerin der Truppe, und selbst der sonst so lobeskarge Director hatte ihren Leistungen stets nur seine Anerkennung zuertheilt.

Jetzt also saß sie neben dem Deutschen, verschlang dessen volle, kräftige Gestalt mit gierigen Augen und versuchte, den nackten Arm um seinen Arm zu legen, was ihr aber nicht gelang, da er sich bei allen diesen Bewegungen abweisend zurückbog.

»So komm doch her! Nur einen einzigen Kuß, Goldjunge!« bat sie ihn.

»Laß mich, Mädchen!« antwortete er. »Ein Schluck Wein ist mir lieber als tausend Küsse von Dir!«

»Oho!« zürnte sie. »Sehe ich denn etwa gar so widerwärtig aus?«

»Hm! Ich denke mir, den Wein hat noch Niemand getrunken, Du aber bist zehntausendmal geküßt worden. Das langt noch gar nicht zu. Und von wem?«

»Von wem, das geht Dich nichts an! Jetzt sehe ich Dich, jetzt will ich Dich. Höre, ich bin den Männern stets gut gewesen; sie haben mich finden können, wo sie nur wollten, aber jetzt, jetzt habe ich Dich so lieb, daß ich der ganzen Männerwelt entsagen könnte um Deinetwillen.«

»Entsage ihr ja nicht, denn mich kriegst Du nicht!« lachte er.

»Nicht? Warum? Hast Du etwa bereits eine Geliebte?«

»Leider nein!«

»Nun, warum sperrst Du Dich! Ich will Dich haben, und ich muß Dich haben! Ich bin so völlig vernarrt in Dich, daß ich mich gar nicht mehr kenne. Und außerdem siehst Du Jemandem aus meinen ersten Jugendjahren so täuschend ähnlich, daß es mir ist, als müsse ich an Dir gut machen, was ich als Kind an ihm verbrochen habe.«

»Verbrochen? Wer war das?«

»Das geht Dich nichts an. Und dennoch erzähle ich es Dir, wenn Du mir einen Kuß giebst!«

»Ich mag es nicht erfahren!«

Bei solchen stark sinnlichen Naturen macht man sehr häufig die Erfahrung, daß sie sich gerade von Denen am Meisten angezogen fühlen, die von ihnen abgestoßen werden. So war es auch hier. Sie griff mit den Armen abermals nach ihm, er aber schob sie zurück. Das erweckte endlich doch ihren Zorn.

»Höre, Bursche, was bildest Du Dir ein!« rief sie. »Was bist Du denn? Ein Kräutermann, weiter nichts; und ich bin eine viel gesuchte Künstlerin, an deren jeden Finger sich gern zehn Männer hängen.«

»Oho, schneide nicht auf!«

»Aufschneiden? Ah, warum will mich denn der Bajazzo heirathen, he? Warum macht er mir das Leben so schwer? Warum läßt er mir weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe? Warum schwört er mir Rache, wenn ich seine Bewerbung zurückweise?«

»Nun, jedenfalls weil er sich auch an einem Deiner Finger aufhängen will!«

»Nein, nicht deshalb, sondern weil er weiß, daß er ein riesiges Geld mit mir verdienen kann. Die Männer und Burschen sind ja Alle ganz vernarrt in mich!«

»So hat dieser Bajazzo weder Liebe zu Dir noch irgend ein Ehrgefühl!«

»Das fällt ihm auch Beides gar nicht ein. Er ist ja eigentlich mein Stiefvater.«

»Alle Teufel! Wie alt ist er denn?«

»Weit in die Fünfzig. Meine Mutter, seine zweite Frau, ist früh gestorben, und von dieser Zeit an hat er mich in der Welt herumgeschleppt. Als ich Kind war, hat er meine kleine Gage stets in seine Tasche gesteckt; als ich größer und klüger wurde, hielt ich meine eigene Kasse. Das will er ändern. Ich soll seine Frau werden, damit er es wieder machen kann wie früher. Aber er bringt es nicht so weit, der Lüdrian, der Trunkenbold. Er säuft von Früh bis Abend, so daß es ein wahres Wunder ist, daß er den Hals noch nicht gebrochen hat. Lieb wäre mir das. Doch lassen wir ihn! Komm' her, Schatz, Du bist mir lieber als alle, alle Anderen!«

Sie wollte ihn fassen; er schob sie zurück. Das verdoppelte ihre Begierde. Sie stand auf, um mehr Kraft anwenden zu können.

»Du willst nicht?« fragte sie. »Wirklich nicht? Nun, so will ich Dir zeigen, daß ich mir nehme, was ich nicht freiwillig bekomme.«

Sie warf sich auf ihn mit der ganzen Kraft ihres schweren Körpers. Sie umfaßte ihn mit aller Anstrengung ihrer geübten Muskeln. Er wehrte sich. Sie achtete nicht darauf, daß ihr beim Ringen das Mieder zerriß, und daß das leichte Röckchen an der Ecke des Tisches vollständig Schiffbruch nahm, so daß sie nun fast ganz entkleidet auf ihm lag.

Aber Fritz war ein kräftiger Patron. Er faßte sie bei den Ellenbogen, daß ihr die Gelenke knackten; er schob sie von sich ab. Sie hatte sich an seiner Brust festgegriffen und wollte nicht loslassen.

»Packe Dich, Dirne!« rief er endlich zornig. »Das ist kein Spaß mehr!«

Er gab ihr einen kräftigen Stoß, so daß sie rückwärts flog, aber in ihrer Faust blieb der vordere Theil seiner Blouse und des Hemdes hängen.

»Siehst Du, was Du anrichtest!« meinte er mit verdoppeltem Zorne. »Nun sehe ich aus wie ein Vagabund und kann nur gleich nach einer neuen Blouse laufen.«

Sie aber hörte seine Worte gar nicht; sie stand fast steif vor ihm und starrte nach seinem Hals. Er bemerkte das und fragte:

»Was hast Du, daß Du mich so anstarrst?«

»Dieser Zahn, o, dieser Zahn! Zeig her, zeig her!«

Sie griff nach der Kette, zog den Zahn näher und betrachtete ihn mit funkelnden Augen.

»Was ist's mit dem Zahn?« fragte er.

»Er ist's, er ist's. Es ist der eine! Mensch, Du siehst ihm so ähnlich, dem die beiden Zwillingsknaben geraubt wurden, diese Aehnlichkeit ist mir sogleich aufgefallen; ich war ein achtjähriges Mädchen, und er war nicht viel älter als Du jetzt. Sage, woher hast Du diesen Zahn?«

Die Worte des Mädchens hatten ihn aufmerksam gemacht.

»Doch von meinen Eltern,« antwortete er.

»Wer waren sie?«

»Das weiß ich nicht; ich bin ein Findelkind.«

»Ein Findelkind!« schrie sie förmlich auf. »Wo hat man Dich gefunden?«

»In der Nähe eines Dorfes bei Neidenburg in Ostpreußen,« antwortete er, und richtete voller Erwartung seine Augen auf das erregte, vor ihm stehende Mädchen.

Fritz glaubte, dem Mädchen die Wahrheit sagen zu können. Nanon aber, so sehr er diese anbetete, hatte er gesagt, daß er zwischen den Bergen, also wohl in der Schweiz, gefunden worden sei, weil er in der Umgegend für einen Schweizer gehalten werden sollte.

»Bei Neidenburg!« jubelte das Mädchen. »Du bist's! Du bist's! O, nun kann ich Dich zwingen, mich lieb zu haben, denn ich weiß ein Geheimniß, welches mir nur Deine Liebe abkaufen kann. Willst Du mich lieb haben, lieb, sehr lieb? Antworte schnell!«

Sie stand vor ihm da im zerfetzten Röckchen, mit herunterhängendem Mieder; sie bemerkte es gar nicht, er aber sah es; er mußte es ja sehen, und es überkam ihn ein unwiderstehliches Grauen, ein Abscheu, ein Ekel vor diesem Geschöpfe.

»Was ist's für ein Geheimniß?« fragte er.

»Sage erst, ob Du mich lieben willst!« drängte sie.

»Nein!« antwortete er, sich abwendend.

»Nun, so will ich Dir sagen, wer Deine Eltern sind, wenn Du mir gehören willst!«

Schnell drehte er sich wieder zu ihr.

»Meine Eltern?« rief er. »Kennst Du sie?«

»Ja, ganz genau. Ihr waret zwei Zwillingsbrüder. Ihr wurdet geraubt, auf den Befehl eines hohen Herrn geraubt, der den Räuber reich belohnte. Später aber ginget Ihr verloren, Du bei Neidenburg und der Andere – ah, was schwatze ich da! Liebe will ich, Liebe, Liebe, Liebe! Dann sage ich Dir, wer Du bist. Willst Du heute Abend zu mir kommen?«

Sie stand vor ihm voll unverschämter Lüsternheit, ein weiblicher Faun.

»Nein,« antwortete er, erröthend an ihrer Statt.

»Ich nenne Dir Deine Eltern!«

»Nein!« war seine feste, entschiedene Antwort.

Er dachte an Nanon, die Herrliche, Reine; er konnte unmöglich ja sagen.

»Ich mache Dich zu einem Grafensohne,« bat sie.

»Nein!«

»Nur einen Kuß, einen einzigen Kuß!«

»Auch keinen Kuß!«

Das erregte ihre Wuth.

»Verdammter Hartkopf!« drohte sie. »Willst Du denn mit aller Gewalt ein Kräutermann bleiben? Ich verlange einen Schundpreis für das, was ich Dir biete.«

Da öffnete sich die Thür und der Bajazzo trat ein. Er erblickte seine Pflegetochter. Er sah ihr derangirtes Gewand, er sah die Blouse und die Weste Fritzens geöffnet. Seine Augen funkelten vor Wuth und er fragte:

»Was macht Ihr da, he? Soll ich Euch mit dem Stocke auseinander treiben? Jetzt eben schlägt es zwei Uhr und die Vorstellung soll anfangen. Wie siehst Du aus, Metze! Packe Dich sofort in die Garderobe! Und dieses Bürschchen da werde ich bei den Ohren nehmen und daran erinnern, daß es hier bei uns –«

Er hielt mitten im Satze inne. Sein Blick war auf die Kette und den Zahn gefallen. Er war betrunken, sogar sehr betrunken, aber er erbleichte dennoch. Ohne seine Schimpfreden fortzusetzen, drehte er sich um und verließ das Stübchen. Er sah so verwirrt und erschrocken aus wie einer, den die Nemesis beim Schopfe fassen will.

»Was war so plötzlich mit ihm?« fragte Fritz das Mädchen.

»Er sah diesen Zahn,« antwortete sie. »Siehst Du, welche Wirkung dieser hat! Nach der Vorstellung sprechen wir weiter. Jetzt muß ich in die Garderobe. Aber so ist es, wenn die Liebe zu stark wird, zerreißen die Kleider. Also überlege es Dir, ob Du mich haben willst, wenn ich Dir eine Grafenkrone dafür gebe.«

Sie ging und ließ ihn in größter Erregung zurück. Er stand vor der Lösung seines Geheimnisses, aber der Schlüssel stank vor Schmutz. Was sollte er thun? O, wenn er doch einmal mit Nanon reden könnte! Kam sie vielleicht zur Vorstellung? Dieselbe war ja auf allen umliegenden Ortschaften angemeldet worden. Aber nein; für die Bewohner von Schloß Ortry war dies kein Vergnügen.

Er ging, um sich eine andere Blouse zu kaufen, da er keine andere besaß, als die zerrissene.

Nicht weit vom Gasthause war ein Laden; dorthin ging er. Er fand, was er suchte, kaufte und bezahlte das Stück und zog es sogleich an, die alte dem Händler als Geschenk zurücklassend. Als er aus dem Laden trat, kamen soeben zwei Wagen herangerollt. Im ersten erblickte er Müller und im zweiten Nanon; für die Uebrigen hatte er keine Augen. Beide grüßten ihn freundlich, und nun nahm er sich vor, mit Nanon zu sprechen, wenn es nur irgend möglich zu machen sei.

Unterdessen war die Seilkünstlerin in die Garderobe getreten, welche im Hinterhause des Gasthofes lag. Alle anderen Künstler befanden sich bereits auf dem Platze, wo die Vorstellung gegeben werden sollte; nur der Hanswurst wartete auf sie.

Als sie eintrat, führte er gerade die fast geleerte Flasche an den Mund. Er trank sie aus und warf sie zu Boden, daß die Scherben umherflogen.

»Verdammte Liebelei mit diesem Burschen!« rief er. »Und wie habt Ihr Euch an einander herumgedrückt! Der ganze Anzug ist dabei zerrissen worden!«

»Geht das Dich etwas an?« fragte sie schnippisch, indem sie einen alten Kasten öffnete, um ein anderes Fähnchen herauszunehmen.

»Mich?« meinte er erbost. »Ja, mich am Allermeisten! Bin ich nicht Dein Vater, Dein Bräutigam?«

»Bräutigam!« lachte sie höhnisch. »Der sitzt drinnen im Stübchen.«

»Der? Ah, der Lump, der Pflanzensucher!«

»Nein, sondern der Edelmann, der Grafensohn! Du hast ja den Zahn gesehen!«

»Den Zahn? Welchen Zahn? Den Teufel habe ich gesehen, aber keinen Zahn!«

»Lüge nicht!« gebot sie ihm, indem sie ganz nackt vor ihm stand und nun begann, sich anzukleiden. »Du hast ihn wohl gesehen. Du bist ja sofort ausgerissen.«

»Willst Du schweigen, verfluchte Dirne!« rief er wüthend. »Ich glaube gar, Du willst uns an den Galgen reden!«

»Mich nicht, aber Dich! Ich kann nicht bestraft werden. Ich mußte Dir gehorchen; ich habe nur Wache gestanden; ich war noch ein Kind. Ich bin ihm gut. Er muß mich wieder lieben, und ich mache ihn zum Grafen.«

Diese Worte waren in einem höchst entschlossenen Tone gesprochen. Der Bajazzo stand dabei mit gläsernen Augen; der Teufel des Fusels blickte aus ihnen. Er knirrschte die Zähne hörbar zusammen, erhob drohend die geballte Faust und fragte:

»Das willst Du? Willst Du das wirklich thun, he?«

»Ja, das thue ich!« antwortete sie, die Hände betheuernd zusammenschlagend.

»Oho, da bin ich auch noch da, ich, Dein Vater und Bräutigam. Ich habe das Recht, Dich zu züchtigen, und ich werde davon Gebrauch machen, verstehst Du mich?«

Er trat näher an sie heran. Sie gab ihm einen Stoß und rief:

»Packe Dich, Süffel, Du stinkst wie ein Faß!«

Der Stoß war zu stark gewesen; der Mann stürzte nieder. Aber mit der Elasticität eines Akrobaten war er wieder in die Höhe, und im gleichen Augenblicke brannte eine fürchterliche, schallende Ohrfeige in ihrem Gesicht. Sie stieß einen heiseren Wuthschrei aus und stürzte sich auf ihn. Er hielt ihr trotz seiner Trunkenheit scharf Stand, denn das Balgen gehörte zu seinem Handwerke. Sie rauften, schlugen, kratzten und bissen sich so lange in der engen Kammer, welche die Garderobe bildete, herum, bis ein Mitglied der Truppe erschien, und sie mit dem Bemerken auseinander riß, daß die Vorstellung bereits begonnen habe; der Director befehle, daß sie kommen sollten.

Der Bote entfernte sich sofort wieder. Die Seilkünstlerin kochte vor Wuth, er aber vor Wuth und Eifersucht.

»Warte nur,« drohte sie ergrimmt; »das tränke ich Dir ein, Du Kinderräuber!«

»Ah, wirklich?« fragte er, zitternd vor Schnaps und Aufregung. »Wie denn, he?«

»Ich bringe Dich auf's Zuchthaus; dann bin ich Dich los.« Und mit erhöhter, fast überschnappender Stimme fügte sie hinzu: »Warte nur die Vorstellung ab, dann kommt er; ich habe ihn bestellt. Ich sage ihm Alles, Alles, Alles! Dann hat er mich lieb, Du aber spinnst Wolle hinter Deinen Mauern!«

Er lachte höhnisch. Das brachte sie noch mehr auf.

»Du glaubst es nicht?« fragte sie. »Ich schwöre es Dir hiermit zu mit den heiligsten Eiden, daß er es nach der Vorstellung erfährt! Nun glaube es, oder nicht; mir ist es ganz und gar gleich; Dich aber bin ich dann glücklich los! Mache Dich gefaßt!«

Sie warf noch ein langes Tuch über, da sie durch einige Gassen gehen mußte, gab ihm einen letzten Stoß, daß er an die Wand taumelte, und eilte fort. Er starrte ihr nach, fast sinnverwirrt vor Wuth, Angst, Eifersucht und Schnaps.

»Sie thut es; sie thut es wirklich; der Teufel soll mich holen, wenn sie es nicht thut!« knirrschte er. Und die Faust drohend schüttelnd, murmelte er: »Aber noch giebt es ein Mittel dagegen. Ich habe es schon oft im Kopfe gehabt und nicht ausgeführt. Aber jetzt sehe ich, daß sie mich nicht will. Sie hält es mit Anderen, und mich schafft sie in's Zuchthaus. Gut, heute ist's genug; heute wird's gemacht. Der Teufel soll lieber sie haben als mich!«

Und in dem offenen Kasten herumwühlend, dachte er weiter:

»Ich habe sie oft gewarnt; ich brauche mir kein Gewissen zu machen. Da sind Kleider genug, die ich brauche, und dort steht die Kasse des Directors. Hahahaha! Mich in's Zuchthaus bringen! Wir wollen sehen, wer dieses Mal gewinnt!«

Als er sich Alles zurecht gelegt hatte, verließ er die Garderobe, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in eine Mauerritze, da er in seinen Tricots keine Tasche hatte. Dann begab er sich nach dem Festplatze.

Dort befanden sich die Künstler bereits in voller Handlung.

Ein hohes Thurmseil weckte die gespannte Erwartung aller Zuschauer. Daneben waren mehrere tiefere Seile gezogen. Es gab ein Schwebereck und außerdem den ganzen equilibristischen Apparat, der bei solchen Schaustellungen gewöhnlich in Anwendung kommt. Zur ebenen Erde waren große Tücher ausgebreitet, auf denen die Lustigmacher ihre Späße zu treiben hatten. Die größte Aufmerksamkeit aber erregte ein hohes Gerüst, auf welchem Abu Hassan, der orientalische Zauberer, seine unbegreiflichen Künste produciren sollte. Das sollte den Glanz- und Schlußpunct der Vorstellung bilden.

Als der Bajazzo ankam, producirten sich einige der Künstler auf dem niedrigen Seile. Sodann folgte ein komisches Intermezzo, bei welchem er die Hauptrolle zu spielen hatte. Sie gelang ihm vortrefflich. Er mochte noch so sehr betrunken sein, während der »Arbeit« hatte der Spiritus keine Gewalt über ihn.

Nun folgte das erste Betreten des Thurmseiles. Die Künstlerin lehnte nachlässig an der Leiter, welche zur Höhe führte. Sie warf das Tuch ab und stieg empor. Droben lag die Balancirstange. Sie ergriff dieselbe und machte dem Publicum eine Verbeugung. Jetzt überzeugte sie sich vorher, ob auch die vom Hauptseile nach unten hängenden Halteseile scharf angezogen seien. An diesen Seilen standen ihre Collegen, unter ihnen auch der Bajazzo. Er hatte sich seinen Ort mit Absicht auserwählt. Gerade über ihm war die Stelle, an welcher sie sich frei niederzulegen pflegte. Sie streckte dann Arme und Beine von sich und balancirte die Stange auf der Stirn.

Jetzt schien Alles in bester Ordnung zu sein – sie betrat das Seil. Es begann in einer Höhe von vielleicht fünfzig Fuß und stieg dann bis über achtzig Fuß empor. Sie erklimmte diese Höhe sehr glücklich unter allerlei kühnen Abwechslungen in Schritt und Sprung. Dann schritt sie rückwärts wieder herab. Das Seil ging hier sehr steil empor; es war eine schwierige Partie; ein Fehltritt hätte sie zum Sturze in die Tiefe gebracht, aber es gelang.

Fast in der Mitte des Seiles angekommen, drehte sie sich mit einem verwegenen Sprunge um. Ein rauschender Applaus war zu hören. Sie ließ ihn verklingen und bedankte sich durch eine Verneigung. Dann kniete sie sich langsam nieder, gerade über dem Bajazzo, welcher das Halteseil mit aller Kraft anzog. Seine Augen glühten in einem wilden, teuflischen Entschlusse empor. Jetzt setzte sie sich rücklings auf das Seil und ließ sich dann langsam hintenüber sinken. Als sie, lang ausgestreckt, das Gleichgewicht gefunden hatte, hob sie das eine Ende der Stange auf die Stirn und begann zu balanciren. Sodann streckte sie zunächst die Arme und später die Beine empor, ohne daß die Stange oder sie aus dem Gleichgewicht gekommen wären. Dies erweckte einen dreifach lauteren Beifall als vorher.

Auf diesen Augenblick hatte der Bajazzo gewartet. Gedankenschnell sein Haltesell nachlassend und wieder anziehend, so daß es nur von einem scharfen und aufmerksamen Kennerauge bemerkt werden konnte, theilte er dem Hauptseile eine plötzliche, scharfe Erschütterung mit. Ein schriller Aufschrei der Künstlerin überschmetterte den Applaus des Publikums; die Stange neigte sich, erst langsam und dann schneller, und stürzte herab. Die Künstlerin versuchte, mit den Händen das Seil zu erhaschen – sie griff in die Luft, flog herab und schlug mit einem lauten, dumpfen Krach gerade neben dem Bajazzo auf die Erde nieder.

Dieser stand scheinbar wie vom Donner gerührt, den fürchterlichen Schrei, den tausend anwesende Menschen ausstießen, gar nicht beachtend; dann aber schlug er sich die Hände vor den Kopf und warf sich jammernd neben ihr nieder.

Zugleich aber legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Es war die des Directors.

»Mörder!« rief dieser. »Ich habe es gesehen, es war Absicht. Ich lasse Dich festnehmen!«

Der Bajazzo that, als höre er dies gar nicht. Das Publicum drängte in Massen herbei und schob die Künstler auseinander. Dies benutzte der Mörder. Er ließ sich mit Absicht abdrängen und eilte dann mit dem Rufe »ein Arzt, ein Arzt!« davon.

Er erreichte ganz unangefochten den Gasthof, sprang über den Hof hinüber, zog den Schlüssel aus der Ritze, schloß auf und trat ein. Im Nu hatte er sich die Schminke abgewaschen, eben so schnell flogen ihm die zurechtgelegten Kleider auf den Leib. Dann stülpte er einen Hut auf, ergriff die Kasse und trat aus der Kammer. Er verschloß sie und schleuderte den Schlüssel in das nahe befindliche Jauchenfaß. Dies verschaffte ihm eine Frist, weiter fortzukommen.

Er war schlau genug, den Gasthof nicht durch den Eingang desselben zu verlassen. Er schlich sich in den Garten. Für ihn als Bajazzo war es ein Leichtes, sich mit der Kasse über den Zaun zu schwingen, und nun befand er sich auf einer Wiese im Freien. Er eilte über dieselbe hinüber und erreichte ein Gebüsch, welches ihn den Blicken seiner Verfolger entzog, und sprang sodann beflügelten Schrittes dem nicht sehr fern liegenden Walde zu.

Es hätte dieser Vorsicht und Eile gar nicht bedurft, denn auf Feld und Wiese befand sich heute kein Mensch, da Alles in der Stadt geblieben, oder nach derselben gegangen war, um der Vorstellung beizuwohnen, die nach der verlockenden Ankündigung eine noch nie dagewesene zu werden versprochen hatte.

Auf dem Festplatze war natürlich Alles in der fürchterlichsten Aufregung. Mit echt französischer Lebhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit drängte sich Mensch an Mensch, Masse an Masse. Die drei Mann Stadtsergeanten konnten nichts dagegen thun.

Zahlreiche Angstrufe und Schreie ertönten, ausgestoßen von verletzten Menschen, bis endlich die Militärbesetzung ihre Schuldigkeit begriff, und nach und nach Ruhe stiftete und Ordnung in das Gewühle brachte.

Die Herrschaften von Ortry waren so klug gewesen, dem Rathe Müller's zu folgen. Sie hatten schleunigst die Wagen aufgesucht und die Stadt verlassen.

Noch immer lag die verunglückte Künstlerin auf derselben Stelle, auf welche sie niedergeschmettert war. Ein Haufe Volks umgab sie, und inmitten desselben knieten zwei Männer bei ihr, nämlich Doctor Bertrand und Fritz.

»Wie steht es?« fragte der Letztere.

»Schlecht, wie zu erwarten war,« antwortete der Gefragte.

»Wenn sie überhaupt zu sich kommt, so ist es nur, um sofort für ewig einzuschlafen. Bei einem Sturze aus solcher Höhe kann kein Mensch mit dem Leben davon kommen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so bewahrheiteten sie sich. Die Künstlerin bewegte leise den Kopf und schlug die Augen auf. Ihr starrer, verschleierter Blick fiel auf das ihr nahe Gesicht des Pflanzensammlers. Sie schien ihn doch zu erkennen, denn ihr Auge belebte sich, und ihre Züge machten eine nicht gelingende Anstrengung, ein freundliches Lächeln hervorzubringen. Dann bewegte sie ihre Lippen. Die beiden Männer hielten ihre Ohren näher hin und hörten deutlich die Worte:

»General – Kunz von Goldberg – Vater – Rauben lassen Graf – Jules Rallion – Cousin Hedwig – Bajazzo – bezahlt – ah!«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Ein blutiger Schaum trat ihr vor den Mund; ihre Augen brachen; ein Zittern ging durch ihre zerschmetterten und gebrochenen Glieder; der eine Arm versuchte, sich noch einmal zu erheben, als ob er sich an Fritz anklammern wolle; er sank nieder – ein lautes, leiser werdendes Röcheln, und sie war todt, die noch vor einer Stunde in überstrotzender Lebenslust den Gesetzen weiblicher Anmuth und Sitte schreiend Hohn gesprochen hatte.

Damit waren auch die Umstehenden befriedigt. Die Tragödie war zum Abschluß gelangt. Sie entfernten sich und Keiner von ihnen betrauerte die Künstlerin, der vorhin noch Alle zugejubelt hatten.

»Was müssen die Worte und Namen zu bedeuten haben, welche sie vorhin ausgesprochen hat?« fragte Doctor Bertrand.

»Sie bezogen sich auf mich,« antwortete Fritz.

»Ah, Sie kannten wohl das Mädchen?« fragte Doctor Bertrand.

»Nein, doch sprach ich vor der Vorstellung mit ihr im Gasthofe. Sie wollte mir nach derselben etwas Wichtiges mittheilen. Noch an der Schwelle des Todes hat sie sich an ihr Versprechen erinnert und es erfüllt, unvollständig zwar, aber doch immer so, daß ich zufrieden sein kann. Was wird mit ihrem Leichnam werden?«

»Er kommt in das Todtenhaus; das werde ich jetzt sofort selbst besorgen. Und sodann muß man mit dem Director Abu Hassan sprechen.«

»Der wird im Gasthofe sein. Ich gehe hin, ihn zu suchen.«

Als er den Gasthof erreichte, war der Director mit einigen seiner Mitglieder beschäftigt, die Thür zur Garderobe durch einen Schlosser öffnen zu lassen. Als dies geschehen war, zeigte es sich, daß die Tageskasse fehlte und mit ihr der gute Anzug eines der solidesten Künstler der Truppe.

»Der Bajazzo ist entflohen,« sagte Hassan. »Er ist der Mörder; ich habe es gesehen. Er muß verfolgt werden; ich werde sogleich zur Mairie laufen.«

Auch unserm Fritz war sehr viel daran gelegen, daß man des Flüchtigen habhaft werde. Doch wollte er nicht eher einen Schritt thun, als bis er mit Nanon und seinem Rittmeister gesprochen habe. Und bei diesem Gedanken fiel ihm die Leichengräberei ein, welche für den heutigen Tag festgesetzt war, und wozu er ja die Werkzeuge zu besorgen hatte.

Hierbei bot sich gerade Gelegenheit, mit Müller zu sprechen, und so beschloß er denn, schon im Voraus das Werkzeug hinauszuschaffen und in der Nähe des Grabes zu verstecken, um dann nach dem Schlosse zu gehen und Müller abzulauern. Auf dem Wege zum alten Thurme hatten sie dann Zeit, sich mit Fritzens Angelegenheit zu befassen, welcher Müller sicher seine ganze Theilnahme schenken würde.

Der Wirth des Gasthofes gab sehr gern zwei Hacken und zwei Schaufeln her. Fritz warf sie bereits zur Dämmerungszeit über den Rücken und wanderte hinaus nach dem Walde von Ortry. Es war bereits dunkel geworden, als er diesen erreichte. Er versteckte das Werkzeug neben dem Grabe unter die Büsche und schritt sodann dem Schlosse entgegen.

Als er es erreichte, sah er in Müller's Zimmer Licht brennen. Es war noch lange Zeit bis Mitternacht, und so zog er sich eine Strecke zurück und setzte sich an einer Stelle nieder, an welcher er Müller's Fenster beobachten konnte.

So saß er und überflog mit seinem Auge die Front des Schlosses. Hinter welchem Fenster wohnte Nanon? Dachte sie nur den hundertsten Theil an ihn, wie er an sie? Welch ein Unterschied zwischen ihr, der Reinen, und der Künstlerin, gerade wie zwischen Himmel und Hölle. Welches Glück, welche Seligkeit, die Liebe eines solchen Wesens zu erringen! Wäre doch auch ihm ein solches Glück bescheert! Wie wollte er es bewachen! Aber er, ein armer Unterofficier!

Da kamen ihm die Worte der Sterbenden wieder in den Sinn. Wie hatten sie gelautet? »General – Kunz von Goldberg – Vater – Rauben lassen Graf – Jules – Rallion – Cousin Hedwig – Bajazzo – bezahlt –«

Was hatten diese Worte zu bedeuten? Gab es einen General, welcher Kunz von Goldberg hieß? War er es, dem die beiden Knaben geraubt worden waren? Ja, es hatten ja unter dem Porträt in der Zahnhöhlung die Buchstaben K. v. G. gestanden. War Graf Jules Rallion es gewesen, welcher die Knaben hatte rauben lassen? War dieser Rallion der Cousin von Hedwig? Wer war diese Hedwig? War sie vielleicht die Frau des Generals? Es standen ja unter dem weiblichen Bilde die Buchstaben H. v. G. War der Bajazzo es gewesen, welcher die Knaben geraubt hatte? Von wem war er bezahlt worden? Von diesem Cousin, also von Graf Rallion? Das waren die Fragen, welche Fritz sich vorlegte.

Er sah ein, daß für ihn die Möglichkeit vorhanden sei, daß sein Leben von jetzt an eine ganz andere, ungeahnte Richtung nehmen könne. Am Meisten beschäftigte ihn der Umstand, daß ihm der Name »von Goldberg« nicht unbekannt war.

Sein Herr, der Rittmeister von Königsau, hatte einen Oheim, welcher diesen Namen trug, welcher sogar General war und Kunz hieß, wie Fritz sich besann. Die Generalin von Goldberg war die Schwester der Frau von Königsau. Der General hatte keine Kinder; das wußte Fritz ganz genau, und was die Generalin betraf, so hatte er sie zwar noch nie gesehen, aber es war ihm bekannt, daß sie stets in tiefer Trauer gehe.

Er nahm sich jetzt vor, seinem Herrn Alles zu erzählen. Er konnte von ihm den besten Aufschluß erhalten und wartete darum mit Ungeduld auf das Erscheinen desselben.

Müller saß indessen in seiner Stube und schrieb. Um nicht beobachtet werden zu können, hatte er ein dickes Papierblatt auf das Glas geklebt, durch welches der alte Capitän in das Zimmer zu blicken vermochte. Er ließ es dort auch kleben, als er fertig war, stieg dann zum Fenster hinaus, nachdem er sich umgekleidet hatte, kroch über das Dach hinüber und stieg am Blitzableiter hinab.

Fritz hatte ihn kommen sehen und empfing ihn, indem er leise herbeigeschlichen kam.

»Bist Du bereits lange hier?« fragte ihn sein Herr.

»Eine ziemliche Weile, Herr Doctor,« antwortete der Diener. »Ich kam eher, weil ich glaubte, Ihnen Etwas mittheilen zu dürfen.«

»Etwas Wichtiges für unsere Aufgabe?«

»Etwas Wichtiges? Ja, aber wohl nur für mich, Herr Doctor.«

»Ah, so ist es eine persönliche Angelegenheit?«

»Ja, nichts Anderes.«

»Nun, so wollen wir zunächst die Nähe des Schlosses verlassen, da mir natürlich daran liegen muß, unbemerkt zu bleiben. Hier, nimm aber diese Papiere. Sie gehören zu denen, welche Du über die Grenze zu schaffen hast. Und nun komm!«

Sie schritten mit einander rasch davon. Dann aber, als sie sich im Freien befanden und nun annehmen konnten, daß sie unbeachtet seien, sagte Müller:

»Nun kannst Du beginnen, lieber Fritz.«

»Da muß ich vor allen Dingen bitten, mir nichts übel zu nehmen, Herr Doctor. Ehe ich zur Sache komme, möchte ich erst einige Fragen aussprechen, welche Verwandte von Ihnen betreffen.«

»So frage einmal zu! Ich bin überzeugt, daß Du keine müssigen Fragen aussprichst.«

»Das würde ich gar nicht wagen. Aber es sind hier Dinge passirt, welche eine Erkundigung nothwendig machen, die Ihnen vielleicht zudringlich erscheinen wird. Nicht wahr, der Herr General von Goldberg, Excellenz, ist Ihr Verwandter?«

»Allerdings. Er ist mein Oheim.«

»Die Frau Generalin ist die Schwester Ihrer Frau Mutter?«

»Ja. War Dir dies noch nicht bekannt?«

»Nicht genau. Ich habe Sie ja stets nur in der Garnison bedient und bin mit Ihren Verwandten mehr als ersten Grades also nie in Berührung gekommen. Gestatten Sie mir die fernere Frage, ob der Herr General Kinder hat?«

»Nein.«

»Er hat auch niemals welche gehabt?«

»O doch, nämlich ein Zwillingspaar, zwei Knaben; sie sind ihm aber auf eine höchst unbegreifliche Weise abhanden gekommen. Er glaubte an einen Raub und hat keine Anstrengung gescheut, das Dunkel aufzuklären, doch leider vergebens. Die Tante trägt sich seit jener Zeit nur schwarz, und auch der Onkel hält sich nicht nur von jedem Vergnügen fern, sondern er meldet auch allen Umgang, der nicht ein dienstlich nothwendiger ist.«

Fritz schwieg eine Weile. Welche Perspective öffnete sich ihm da auf einmal! Er liebte seinen Herrn von ganzem Herzen; er hätte für ihn mit Freuden das Leben hingegeben, und nun gab es eine Möglichkeit, sein naher Verwandter zu sein! Dieses Schweigen dauerte Müller zu lange. Er fragte:

»Welchen Grund hast Du zu dieser Erkundigung?«

»O,« antwortete der Gefragte stockend, »ich halte es für möglich, daß die verschwundenen Knaben sich wiederfinden, wenigstens einer von ihnen.«

»Diese Möglichkeit ist natürlich vorhanden,« meinte Müller, erstaunt über die Rede seines treuen Dieners. »Aber wie kommst gerade Du dazu, dies zu betonen?«

»Weil es mir scheint, als ob ich zufälliger Weise Etwas über einen der Knaben erfahren habe.«

»Wirklich? Ist's wahr?« fragte Müller überrascht. »Das wäre nicht nur ein Glück, sondern geradezu ein Wunder zu nennen! Aber Du täuschest Dich. Wie sollte gerade Ortry der Ort sein, wo eine solche Nachricht zu bekommen wäre!

Zwar giebt es Umstände, Zufälle, Gottesschickungen, über welche man geradezu erstaunen muß. Ich habe gerade hier ein Beispiel davon erlebt. Du weißt, daß auch mein Vater vor Jahren spurlos verschollen ist; keine Nachforschung hat uns Nutzen gebracht, und hier in Ortry habe ich etwas erlauscht, was ganz geeignet ist, das erste Licht in dieses Dunkel zu werfen.«

»Finden Sie eine Spur von dem Verschollenen, so will ich dies Ihnen von ganzem Herzen gönnen, Herr Doctor,« sagte Fritz. »Außerordentlich wäre es allerdings, wenn gerade auch hier in Ortry eine Fährte sich öffnete, auf welcher die beiden gesuchten Knaben zu finden sind. Haben sie denn nicht ein Zeichen an sich gehabt, an welchem sie zu erkennen gewesen wären?«

»An ihrem Körper nicht; aber ihre Kleidchen sind gezeichnet gewesen, und am Halse hat jeder ein Kettchen gehabt mit einem Löwenzahn, in dessen Innerem sich die Miniaturbilder der Eltern befanden. Bei Zwillingen läßt sich nicht gut von einem Unterschiede des Alters sprechen, da dieser ja nur Minuten betragen kann, doch Einer ist doch immerhin der Aeltere; dieser hatte den rechten und der Andere, der jüngere, den linken Reißzahn. Der Onkel war nämlich einmal in Algerien gewesen und hat dort einen außerordentlichen männlichen Löwen erlegt. Nebst dem Felle brachte er die beiden Reißzähne mit. Die Araber sind sehr abergläubisch. Sie sagen, ein Sohn werde ein starker und tapferer Mann, wenn man ihm einen Löwenzahn anhänge. Dieser Ansicht ist der Onkel gefolgt, freilich nicht aus Aberglauben, sondern einer unwillkürlichen Eingebung, einer Liebhaberei wegen. Es hat nicht ein jeder das Glück, von sich sagen zu können, daß er den König der Thiere erlegt habe, und darum ist ein solcher Zahn für den Sohn eines Löwentödters ein werthvolles Andenken an den Muth des Vaters.«

»Wo sind die beiden Knaben verloren gegangen?«

»In oder bei Neidenburg in Ostpreußen,« antwortete Müller, fuhr aber rasch fort: »Alle Teufel, da fällt mir ja ein, daß Du aus jener Gegend bist! War es nicht ein Dorf bei Neidenburg im Regierungsbezirke Königsberg, wo Du geboren bist?«

»Ja, in Groß-Scharnau bei Neidenburg; aber ich bin dort nicht geboren, sondern gefunden worden.«

»Wie? Was?« fragte Müller, erstaunt stehen bleibend. »Ah, richtig, Du hast keine Eltern!«

»Ich bin unter einem Berge von Schnee hervorgezogen worden; ich bin ein Findelkind, darum hat man mir ja den Namen Schneeberg gegeben.«

»Ich besinne mich; Du hast mir dies ja bereits erzählt. Aber, um Gottes willen, Du willst doch nicht sagen, daß es zwischen Deiner Auffindung und dem Verluste jener Knaben irgend einen Zusammenhang giebt?«

»Vielleicht ist dieser Zusammenhang vorhanden, Herr Doctor. Eben darum habe ich Sie ja um Verzeihung gebeten, falls ich Ihnen zudringlich erscheinen sollte. Sie kennen mich, ich will kein Aufdringling sein; aber ich wäre ganz glücklich, wenn es mir gelänge, meine Eltern zu finden. Ob diese nun arm oder reich, bürgerlich oder vornehm sind, das ist mir ganz gleich, wenn nur die Sehnsucht, welche ich nach ihnen fühle, befriedigt wird.«

»Aber, Mensch, Fritz, was redest Du da für dummes Zeug! Jeder Vater und jede Mutter wird froh sein, ein verlorenes Kind zu finden, ganz gleich, ob dieses Kind von armen oder wohlhabenden Leuten aufgenommen wurde. Ich weiß in diesem Augenblicke noch nicht, was Du sagen willst und was ich denken soll; aber woraus schließest Du, daß der erwähnte Zusammenhang stattfindet und vorhanden ist?«

»Weil ich einen Löwenzahn trage, und zwar den aus der rechten Kiefer.«

»Großer Gott, ist's möglich? Er ist bei Dir gefunden worden?«

»Ja.«

»Du hast ihn noch?«

»Ja; ich trage ihn hier am Halse.«

»Und die Bilder sind darin?«

»Sie sind drin.«

»Das hast Du gewußt und mir niemals gesagt!«

»O bitte, Herr Doctor, ich habe von den Bildern nichts gewußt, gar nichts; erst gestern hat mich Mademoiselle Nanon auf den Inhalt des Zahnes aufmerksam gemacht.«

»Mademoiselle Nanon? Was weiß sie von dem Zahne?«

»Sie hat in Paris eine Dame gesehen, von welcher erzählt worden ist, daß sie stets in Trauer gehe, weil sie zwei Zwillingsknaben verloren und nicht wiedergefunden habe; ein jeder der Knaben hat an einer dünnen, goldenen Kette einen Löwenzahn getragen. Gestern traf ich sie im Walde. Meine Blouse hatte sich geöffnet und der Zahn hing hervor. Sie erblickte ihn und besann sich sofort auf jene Dame. Als sie hörte, daß ich ein Findling sei, nahm sie sofort an, daß ich einer der beiden Knaben sein müsse. Sie besah sich den Zahn genauer, und da fand es sich, daß er aus der Grafenkrone, in welche er gefaßt ist, herausgeschraubt werden könne. Als sie dies versuchte, gelang es ihr, und nun entdeckten wir die beiden Miniaturporträts.«

»Hat sie die fremde Dame gekannt?«

»Nein. Aber sie hat mir versprochen, sich sogleich zu erkundigen, wer sie gewesen ist. Ich glaube, daß sie bereits heute deshalb nach Paris geschrieben hat.«

»Ja, die Tante ist zuweilen in Paris; das stimmt. Es giebt Verhältnisse, welche ihre Anwesenheit dort zuweilen nöthig machen. Bei einer solchen Anwesenheit mag es möglich sein, daß sie von Nanon gesehen worden ist. Stimmte denn das Bild mit der Dame?«

»Ja. Mademoiselle erkannte sie sofort.«

»Nun, dann ist es nicht nothwendig, nach Paris zu schreiben. Fritz, Fritz, Du weißt, daß ich große Stücke auf Dich halte! Wenn Du mein Cousin wärest!«

Er trat nahe an ihn heran und faßte seine Hände.

»O, Herr Doctor,« meinte der Diener ganz bescheiden, »in einer Beziehung möchte es mir fast leid thun, zu hören, daß meine Eltern vornehme Leute sind, denn ich versichere –«

»Halt, dummes Zeug!« unterbrach ihn Müller. »Ich weiß, was Du sagen willst, und ich verstehe Dich; aber Du bist wenigstens gerade so viel werth als irgend ein Junker oder Edelmann. Sollte sich einer meiner beiden Cousins wirklich wieder finden, so ist es mir doch lieber, Du bist es, als daß es ein Anderer ist. Du kannst also den Zahn öffnen?«

»Ja.«

»Thue es. Ich werde ein Zündholz anbrennen.«

Er strich ein Zündholz an, steckte damit das Licht seiner Laterne in Brand und beleuchtete damit die Porträts, welche Fritz ihm zeigte.

»Es ist kein Zweifel, sie sind es!« sagte Müller. »Es ist Onkel und Tante, der General und die Generalin. Mensch, Du bist wahrhaftig mein Vetter. Komm' her; laß Dich umarmen!«

Er blies aus Vorsicht die Laterne aus, steckte sie wieder in die Tasche und streckte dann die Arme aus, um den Diener an sich zu ziehen. Dieser jedoch trat einen Schritt zurück und sagte:

»Halt, Herr Doctor, warten wir noch! Der Zahn ist zwar recognoscirt, aber es fragt sich doch sehr, ob ich der richtige Findling bin. Der Zahn erklärt und beweist noch nicht genug, obgleich ich dem General, wie er damals gewesen ist, sehr ähnlich sehen muß, da die Seiltänzerin diese Aehnlichkeit sofort erkannte.«

»Die Seiltänzerin? Welche?«

»Die heute verunglückt ist!«

»Ah, wieder ein Räthsel!«

»Ja, und zwar ein ganz außerordentliches. Ich glaube nämlich fast, daß einer der Clowns, einer der Hanswürste, es ist, der mich geraubt hat, mich und den Zwillingsbruder.«

»Geraubt sollst Du worden sein? Also nicht verloren gegangen? Alle Teufel, das wird ja interessanter. Und davon hat Dir hier in Frankreich eine Seiltänzerin erzählt? Das klingt ja gerade wie in einem Romane! Erzähle mir das von der Selltänzerin!«

Fritz berichtete ihm Alles, was geschehen war. Als er geendet hatte, meinte Müller:

»Nun giebt es für mich keinen Zweifel mehr! Du bist mein Vetter, und ich werde Dich von jetzt an als solchen betrachten, obgleich wir uns im Interesse unserer Aufgabe vor Anderen nicht kennen dürfen. Es gilt vor allen Dingen, des entflohenen Seiltänzers habhaft zu werden. Dafür laß mich sorgen. Ich werde die geeigneten Schritte thun. Bis dahin aber wollen wir das tiefste Stillschweigen beobachten. Nur der Entflohene kann Auskunft geben, und ehe wir ihn nicht haben, läßt es sich schwierig beweisen, daß Du der richtige Sohn des Generales bist.«

»Das ist ja auch meine Meinung,« sagte Fritz. »Der Zahn kann verwechselt worden sein, oder durch irgend einen Zufall an den Hals eines ganz anderen Kindes gekommen sein. Ich bitte Sie, zu thun, was Ihnen beliebt. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«

»Ja, das kannst Du, mein braver Fritz. Hier meine Hand. Ich verspreche Dir, mich so zu bemühen und ganz so zu handeln, als ob ich selbst der Findling sei! Nun aber laß uns eilen, an das Grab zu kommen. Wir haben jetzt gezaudert, und dieser Hassan wird wohl bereits auf uns warten.«

»Sollte von ihm nichts über diesen Clown zu erfahren sein?«

»Diese Frage legte auch ich mir soeben vor. Wir werden sehen, ob er Etwas weiß, was wir gebrauchen können. Jetzt komm!«

Sie hatten schon längst den Wald erreicht, auf dessen Hauptwege sie bisher langsam dahingeschritten waren. Jetzt beeilten sie sich nun und bogen in einen schmalen Richtweg ein, der sie rascher in die Nähe des Zieles führte.

Als sie dort anlangten, erhob sich hinter einem Steine eine dunkle Gestalt.

»Wer ist es, der hier kommt?« fragte sie.

Müller erkannte sofort die Stimme des Zauberers und sagte:

»Abu Hassan, Deine Freunde sind es.«

»Gut, ich dachte bereits, daß Ihr das Wort vergessen hättet, auf welches ich mich verlassen habe. Aber nennt hier meinen Namen nicht wieder. Man muß bei einem Werke, wie das unserige es ist, sehr vorsichtig sein. Habt Ihr Werkzeuge mitgebracht?«

»Ja; sie liegen in der Nähe,« antwortete Fritz.

»So hole sie, damit wir beginnen können. Eine Laterne habe ich selbst bei mir.«

Fritz brachte die Hacken und Schaufeln herbei, und dann wurden die Laternen angebrannt. Ihr schwacher Schein fiel auf die Hügel und den dahinter emporragenden Felsen. Es wehte ein leiser Lufthauch, in welchem die Lichter zu fackeln begannen. Dadurch schien es, als ob die Felsen und Bäume der Umgebung Leben empfangen hätten. Die dunklen Schatten und die hellen Reflexe bewegten sich und zuckten durch einander. Die Sträucher nahmen phantastische Gestalten an, welche drohend ihre Arme erhoben, und zornig über die Verwegenheit der drei Männer die Köpfe schüttelten. Es hätte nicht ein jeder dazu gepaßt, zur Mitternachtszeit in der Tiefe des Waldes, in der Nähe eines so verrufenen Gemäuers, wie der alte Thurm es war, ein Grab zu öffnen, um die Gebeine einer Leiche zu entführen.

»Ich hoffe, man soll nicht bemerken, daß das Grab geöffnet worden ist?« fragte Müller.

»Kein Mensch soll es erfahren,« antwortete Hassan in seinem südlichen Dialecte.

»So wird unsere Mühe eine doppelte sein. Wir müssen den Rasen des Hügels vorsichtig abstechen, um ihn wieder anlegen zu können. Und ferner müssen wir alle Erdkrumen und alle Spuren entfernen, welche unser Werk verrathen könnten.«

Sie begannen.

Zunächst wurde der Rasen vorsichtig abgehoben und zur Seite gelegt und dann das Land des Hügels entfernt. Sie schaufelten es auf eine breite Felsenfläche, welche in der Nähe lag und keine Spur von Vegetation trug. Dann erst ging es über das eigentliche Grab her. Sie arbeiteten mit aller Anstrengung, um so bald wie möglich fertig zu werden; aber dennoch währte es fast zwei Stunden, bevor sie in die Tiefe gelangten, in welcher auf Kirchhöfen die Särge zu stehen pflegen. Nun gebrauchten sie die Hacken mit größerer Behutsamkeit, bis endlich ein dumpfer Ton anzeigte, daß sie den Sarg getroffen hatten.

Bald sahen sie das entfärbte, aber noch wohl erhaltene und feste Holz desselben emporblicken. Sie schaufelten die Erde rund um den Sarg hinweg und versuchten sodann, denselben heraufzuheben.

»Lassen wir ihn unten,« meinte Müller. »Es genügt ja, ihn zu öffnen.«

Hassan stimmte bei. Und nun zeigte es sich, daß der Sarg sehr fest zugeschraubt war. Ein Taschenmesser diente als Schraubenzieher, ein mangelhaftes Instrument, aber es genügte doch. Endlich gab der Deckel nach. Müller stand unten, und die beiden anderen Männer leuchteten ihm mit den beiden Laternen von oben herab.

Er befand sich vielleicht in einer eben so großen Erwartung wie Hassan selbst. Er hatte ja vermuthet, es war ihm fast zur Gewißheit geworden, daß der Sarg leer sei. Aber dagegen sprach doch die Schwere desselben.

»Den Deckel auf!« sagte Hassan.

Müller folgte diesem Gebote. Er faßte den Deckel beim Kopfende an und hob ihn empor. Sechs Augen blickten mit gespannter Erwartung nieder. Sie sahen keine Gebeine, sie erblickten halb verfaulte Sägespäne und Steine, mit denen der Sarg gefüllt war.

»Allah akbar – Gott ist groß!« rief Hassan erstaunt. »Was ist das?«

»Ein Betrug, ein großartiger Betrug!« antwortete Fritz. »Die Baronin ist gar nicht begraben worden!«

Müller lehnte den Deckel an die schmale Wand des Grabes, bog sich nieder und wühlte mit den Händen unter die Steine.

»Ich fühle den Boden,« sagte er; »es ist nichts darin als Sägespäne und Steine.«

»So hat man ein Blendwerk getrieben mit Liama, der Tochter unserer Zelte,« sagte Hassan grimmig. »Meine Augen sehen das Verbrechen, und meine Blicke erkennen die Täuschung. Ich schwöre bei Allah, dem allmächtigen und allwissenden Gotte, daß –«

Er hielt erschrocken inne. Ein mächtiger Donnerschlag erschütterte die Erde, und ein blendender Blitz durchzuckte die Nacht mehrere Secunden lang. Die Augen der drei Männer waren von der Helligkeit derselben fast geblendet, und als die Umgebung wieder im Dunkel lag, sahen sie eine hohe, weiße Frauengestalt zu Häupten des Grabes stehen. Sie war tief verschleiert und fragte mit strenger Stimme:

»Wen sucht Ihr hier?«

»Wir suchen Liama, die Tochter der Beni Arab!« antwortete Hassan, indem ihm ein Schauder durch die Glieder ging.

»Sie ist nicht hier; sie ist todt,« antwortete die Gestalt.

Müller hatte sich wieder vollständig gefaßt. Er antwortete:

»Du sagst, daß sie todt sei; aber ihre Gebeine sind nicht im Sarge. Wo liegt sie begraben?«

»Sie ist zu Erde und Stein geworden, von dem sie genommen ist. Laßt sie ruhen, sonst wird Euch der Fluch Allah's treffen!«

Sie erhob gebieterisch den Arm und machte eine Bewegung, als ob sie sich zurückziehen wolle. Da aber faßte Müller den Rand des Grabes mit beiden Händen, schwang sich hinauf und rief:

»Sie ist nicht zu Erde geworden, sie ist noch Fleisch und Blut, sie lebt; ich werde es Dir sogleich beweisen!«

Er streckte den Arm nach ihr aus, um sie zu fassen, aber in demselben Augenblick zuckten hundert Blitze um das Grab herum; ein fürchterlicher Donner erscholl und unzählige Flammen entsprühten dem Erdboden und fuhren wie in allen Farben glänzende Schlangen durch die Luft. Müller war vollständig geblendet.

»Der Scheitan[3] ist da! Flieht, sonst seid Ihr verloren!«

Diese Worte rief Hassan, dann warf er die Laterne weg und verschwand zwischen den Bäumen des Waldes. Die beiden Anderen blieben stehen. Es war wieder still und dunkel geworden; die weibliche Gestalt war verschwunden.

»Was war das?« flüsterte Fritz.

»Glaubst Du an Gespenster?« antwortete Müller.

»Fällt mir nicht ein,« meinte der wackere Ulanenwachtmeister.

»Nun, so mußt Du doch gesehen haben, was es war!«

»Sie meinen Pulver, Colophonium und Bärlappsamen?«

»Ja. Das waren künstliche Blitze, und auch der Donner war imitirt. Der echte Donner rollt; dieser aber bestand aus einzelnen Schlägen. Ich glaube, man hat einige Kanonenschläge angebrannt, das ist Alles.«

»Was thun wir nun? Füllen wir das Grab wieder zu?«

»Nein. Man weiß, daß wir hier sind; man beobachtet uns. Vielleicht hat man uns noch gar nicht erkannt; dies würde aber sicher geschehen, wenn wir länger hier blieben. Lassen wir die Arbeit, das Grab zuzuschütten, denen über, welche es so gut verstehen, ein Feuerwerk abzubrennen. Ich weiß etwas Besseres, was wir thun können. Komm!«

Diese kurze Unterhaltung war so leise geführt, daß man sie in nächster Nähe nicht hätte verstehen können. Müller machte den Schieber seiner Laterne zu und steckte sie ein. Dann faßte er Fritz beim Arme und zog ihn fort. Als sie eine genügende Strecke zurückgelegt hatten, blieb er stehen und flüsterte:

»Hassan ist ein abergläubischer Mohammedaner; er ist fortgelaufen. Wir aber sind Christen und außerdem Soldaten; wir lassen uns nicht in's Bockshorn jagen. Wir kehren jetzt leise und unbemerkt zum Grabe zurück und beobachten, was da geschehen wird.«

Sie schlugen einen Umweg ein und schlichen sich nun von der anderen Seite auf das Grab zu, so vorsichtig, daß man ihr Nahen gar nicht bemerken konnte.

Die Liebe des Ulanen

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