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2. Willerts Sorgen

„Und dann ist das wandelnde Haus losgerannt“, erzählt Primo. „Das war so schnell, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Viel schneller als alles, was es hier bei uns gibt.“

„Sogar schneller als ein Pferd?“, fragt Nano, der seinem Vater begeistert zuhört, obwohl Primo schon zum hundertsten Mal dieselbe Geschichte erzählt.

„Viel schneller als ein Pferd“, behauptet Primo. „Sogar noch schneller als ein Pfeil! Die wandelnden Häuser sind so schnell, dass manche wahrscheinlich fliegen können.“

Golina, die dabei ist, das Geschirr vom Mittagessen abzuräumen, schüttelt den Kopf. Primos Geschichte wird bei jeder Erzählung unglaubwürdiger. Fliegende Häuser, also wirklich!

„Ich will auch in die Kugelwelt!“, sagt Nano. „Können wir nicht zu Ruuna gehen, damit sie noch mal so einen Kugelwelttrank braut?“

Das fehlte gerade noch! Golina denkt daran, was sie alles erdulden musste, um Primo wieder zurück in die Wirklichkeit zu holen: Durch riesige, finstere Höhlen irren, sich mit Monstern herumschlagen und mit einem schrecklichen blinden Wächter verstecken spielen, während Primo in der Kugelwelt seinen Spaß hatte.

„So einfach ist das nicht“, erklärt Primo. „Das war ein Seelentauschtrank. Um damit in die Kugelwelt zu gelangen, musst du neben einem Fremden stehen, der ihn trinkt, so wie ich damals neben Lukas. Aber ich muss zugeben, ich würde auch gern noch einmal dorthin zurückkehren. Zu Anfang war es ziemlich unheimlich und verwirrend, aber auch sehr interessant. Und dann habe ich Lara kennengelernt, die war sehr nett und hat mir geholfen. Vielleicht könnte ich von ihr noch mehr über die Kugelwelt lernen. Zum Beispiel, was ein Komjuta ist und wie die Zauberbilder funktionieren, auf denen man unsere Welt sehen kann. Vielleicht frage ich Lukas das nächste Mal, ob er noch einmal die Seele mit mir tauscht. Dann könnte ich mit Lara ...“

Golina platzt der Kragen. „Jetzt reicht es mir!“, schimpft sie. „Den ganzen Tag redest du nur von der Kugelwelt und von dieser Lara! Ist dir vielleicht schon mal aufgefallen, dass es auch noch eine richtige Welt gibt und dass du dort eine Frau namens Golina hast?“

„Bist du etwa eifersüchtig auf Lara?“, fragt Primo.

„Eifersüchtig? Ich?“ Golina starrt ihn wütend an. „Ich bin nicht eifersüchtig! Außerdem war Lukas auch ziemlich nett, als er in deinem Körper war. Er hat sich riesig gefreut, als ich ihm den Schwertkampf beigebracht habe. Und er hat mir sogar das Leben gerettet, als ein Nachtwandler mich fast erwischt hätte.“

„Ach ja?“, ruft Primo zornig. „Und was ist mit mir? Dass ich dir schon oft das Leben gerettet habe, zählt wohl gar nicht, was?“

„Du hast mich nicht öfter gerettet als ich dich“, behauptet Golina und wahrscheinlich ist das nicht mal übertrieben. „Der Unterschied ist nur, dass ich offensichtlich nicht so viel Spaß dabei hatte wie du.“

„Ach ja? Wenn du eine so tolle Lebensretterin bist, dann kannst du ja die neue Dorfbeschützerin sein!“, ruft Primo.

„Gerne, solange du dich dann um den Haushalt kümmerst“, gibt Golina schnippisch zurück.

„Ähem. Komme ich ungelegen?“

Erschrocken dreht sich Golina um. Willert steht in der Tür. Sie hat ihn gar nicht kommen hören.

„Tut mir leid“, sagt er. „Ich habe mehrmals geklopft, aber ihr habt mich anscheinend nicht gehört. Deshalb bin ich einfach reingekommen. Ich will nicht stören, aber ...“

„Du störst nicht“, sagt Golina schnell. „Wir waren sowieso gerade fertig mit unserer, äh, Unterhaltung.“

„Das stimmt“, gibt ihr Primo recht.

„Hallo, Onkel Willert!“, ruft Nano freudig. „Wo ist Tante Ruuna? Sie muss mir einen Seelentauschtrank brauen, damit ich in der Kugelwelt mit einem Haus herumfliegen und ganz viele tolle Abenteuer erleben kann.“

„Deshalb bin ich hier“, erklärt Willert. „Ruuna ist schon eine ganze Weile fort und ich mache mir langsam Sorgen.“

„Sie ist fort?“, fragt Golina. „Seit wann denn?“

„Seit zehn Tagen.“

„Du kennst doch Ruuna“, meint Primo. „Sie ist ein bisschen eigenwillig. Vielleicht hatte sie Heimweh nach dem Sumpf, in dem sie früher gelebt hat. Sie wird bestimmt bald zurückkommen.“

„Nein, das ist es nicht“, widerspricht Willert. „Ruuna hat vor zehn Tagen Besuch bekommen. Sie hat gesagt, sie muss nur kurz mal weg und ist bald wieder da. Doch sie ist nicht zurückgekehrt.“

„Besuch?“, fragt Golina. „Von wem denn?“

„Von einer anderen Hexe“, erzählt Willert. „Sie kam über den Wald geflogen, ist vor unserer Hütte gelandet und die beiden haben eine Weile geredet. Dann hat Ruuna mir gesagt, dass sie nur mal kurz wegmuss, aber dass sie mir nicht sagen kann, wohin. ‚Geheime Hexensache‘, hat sie gesagt und gekichert. Dann hat sie einen Flugtrank getrunken und ist mit der anderen Hexe davongeschwebt. Erst hab’ ich mir nichts dabei gedacht, ich kenne Ruuna ja und weiß, dass sie gut auf sich selbst aufpassen kann. Aber jetzt mache ich mir doch allmählich Sorgen.“

„Ich will auch einen Flugtrank!“, ruft Nano. „Wenn Birta dann mit mir schimpft, fliege ich einfach weg und strecke ihr die Zunge raus und sie kann mich nicht bestrafen, haha! Kannst du mir einen Flugtrank geben, Onkel Willert? Ich mache auch keinen Unsinn damit, versprochen!“

„Sei still, Nano!“, schimpft Golina. Dann wendet sie sich an Willert. „Diese andere Hexe, kannte Ruuna die vielleicht von früher, aus der Zeit, bevor ihr euch kennenlerntet?“

„Ich weiß es nicht“, antwortet er. „Aber es ist möglich.“

„Soll ich mit dir kommen?“, fragt Primo. „Wir könnten Paul mitnehmen. Vielleicht findet er eine Spur von ihr.“

„Ich fürchte, das wird nicht klappen“, meint Willert. „Ruuna ist doch mit der anderen Hexe davongeflogen. Solange Paul nicht fliegen kann, wird er wohl keine Spur von ihr finden.“

„Vielleicht, wenn wir ihm einen Flugtrank geben ...“, überlegt Primo.

Willert schüttelt den Kopf. „Ich fürchte, das würde nicht funktionieren. Außerdem habe ich keinen Flugtrank. Glaube ich jedenfalls. Es sind noch einige Tränke in Ruunas Zauberlabor, aber ich bin mir nicht sicher, was sie bewirken.“

„Ich kann die Tränke ja alle mal ausprobieren“, schlägt Nano vor. „Vielleicht ist ja ein Flugtrank dabei.“

„Das wäre viel zu gefährlich“, widerspricht Willert.

„Och, schade“, jammert Nano.

„Was ist mit Robinson?“, fragt Golina. „Er ist zwar kein Wolf, aber dafür kann er fliegen. Vielleicht kann er ihre Spur aufnehmen.“

„Ich bin nicht sicher, ob Papageien sowas können“, meint Willert. „Aber das ist ohnehin egal, weil Robinson hinter Ruuna her geflattert ist.“

„Tja, dann können wir wohl nicht viel tun außer abwarten, bis Ruuna zurückkommt“, stellt Golina fest.

„Unsinn!“, widerspricht Primo. „Wenn Ruuna verschwunden ist, dann müssen wir sie eben suchen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass sowas passiert.“

Golina rollt mit den Augen. „Du willst dich bloß vor der Hausarbeit drücken, indem du dich schon wieder in ein Abenteuer stürzt!“

„Ich drücke mich nicht vor der Hausarbeit“, widerspricht Primo. „Aber ich bin nun mal der Dorfbeschützer und muss mich um die Sicherheit der Dorfbewohner kümmern. Das gilt auch für Ruuna, obwohl sie streng genommen keine Dorfbewohnerin ist.“

„Und wie willst du das anstellen? Ruuna könnte überall sein.“

„Wir können ja mal Asimov fragen“, schlägt Primo vor. „Er weiß eine Menge und hat sehr scharfe Augen. Vielleicht hat er gesehen, wohin Ruuna geflogen ist.“

„Das ist eine gute Idee“, findet Willert.

Golina seufzt. Sie ahnt, worauf das wieder hinausläuft: Primo bringt sich in Schwierigkeiten und sie muss ihn retten. Doch sie kann Willert wohl kaum die Bitte um Hilfe abschlagen. Und auch, wenn Ruuna oft Chaos und Verwirrung stiftet, ist sie doch eine gute Freundin.

Trotzdem hat sie ein ungutes Gefühl. Nicht nur, weil Primo sich wieder mal in Gefahr begibt – das ist sie ja schon gewohnt. Es ist schon eine ganze Weile her, dass der fiese Enderman Artrax versucht hat, das Dorf zu zerstören, indem er den fahrenden Händler Anon dazu brachte, Bürgermeister zu werden. Seitdem haben sie nichts mehr von Artrax gehört. Aber irgendwie glaubt Golina nicht, dass er seinen Plan aufgegeben hat, sich an den Dorfbewohnern zu rächen.

Ihr kommt ein düsterer Gedanke.

„Könnte es sein, dass Artrax hinter Ruunas Verschwinden steckt?“, fragt sie.

„Artrax?“, fragt Willert erschrocken. „Wie kommst du denn darauf?“

„Ist nur so ein Gedanke. Der fiese Enderman hat seinen Plan, uns zu vernichten, bestimmt nicht aufgegeben. Vielleicht hat er sich als Hexe verkleidet und Ruuna fortgelockt, damit Primo und du ihr folgen und das Dorf schutzlos ist, so dass er uns angreifen kann ...“

„Wie soll sich Artrax denn als Hexe verkleiden?“, fragt Primo. „Er ist doch ein Huhn!“

Golina kann nur mit den Schultern zucken.

„Außerdem ist das Dorf nicht schutzlos, wenn ich weg bin“, meint er. „Es gibt immer noch Kolle und Asimov. Mit einem Huhn werden die auch ohne mich fertig. Und außerdem bist du ja auch noch da. Schließlich hast du sogar Lukas das Kämpfen beigebracht.“

Er grinst und auch Golina muss lächeln.

„Na schön, sprecht von mir aus mit Asimov“, stimmt sie zu.

„Danke, Golina“, sagt Willert. „Mach dir keine Sorgen. Wir werden keine unnötigen Risiken eingehen.“

Irgendwie beruhigt Golina das nicht. Zwar ist Willert vernünftiger als Primo, aber trotzdem fürchtet sie, dass wieder mal eine Menge Schwierigkeiten auf sie zu kommen.

Warum nur kann sie nicht ein normales, ruhiges Leben führen wie die Bewohner anderer Dörfer?

Das Dorf Band 22: Verhext

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