Читать книгу Das Dorf Band 12: Schleim - Karl Olsberg - Страница 4

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2. Eine schöne Bescherung

Am übernächsten Tag wird auf der Wiese neben der Schlucht das Fest vorbereitet. Birta, die inzwischen schon Übung damit hat, kommandiert alle anderen herum und sorgt dafür, dass Tische und Stühle aufgebaut werden. Auf einem extragroßen Tisch, der etwas abseits steht, können die Dorfbewohner ihre Geschenke ablegen. Bald quillt der Tisch über von ihren Gaben: Gegrillte Steaks, Brote, Kuchen und gebratene Fische, deren Urheber leicht zu ermitteln sind. Auch die bunten Wollknäuel, die Jarga dort hingelegt hat, Porgos Gartengeräte und der Stapel mit Büchern, den Kolles Vater spendiert hat, könnten von niemand anderem stammen.

Primo und Kolle haben sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie sind in die Höhle unter dem Dorf gegangen und haben nach Gold gesucht, das sie im Schmiedeofen von Primos Vater eingeschmolzen und in kleine Nuggets gegossen haben – für jeden im Dorf eines. Nur Margi und Golina bekommen jeweils das Kleid, das Ruuna ihnen gegeben hat.

„Müsste nicht eigentlich jeder von uns jedem Dorfbewohner etwas schenken?“, fragt Kolle, als sie die Nuggets auf den Tisch legen.

„Tun wir doch. Wir haben gemeinsam nach Gold gesucht. Ich habe dir den Rücken freigehalten, als du gegen den Knallschleicher und die beiden Nachtwandler gekämpft hast. Dafür hast du mich festgehalten, als ich beinahe in die Tiefenschlucht gefallen wäre. Wir sind ein gutes Team, findest du nicht?“

„Ja, schon.“

„Na, dann ist es doch nur fair, dass wir auch als Team jedem was schenken.“

„Na, wenn du meinst ...“

In diesem Moment kommen Ruuna und Willert hinzu. Letzterer trägt eine große Kiste.

„Was ist denn da drin?“, fragt Primo. „Und wieso hast du die Kiste in buntes Papier gewickelt?“

„Das ist mein Überraschungsgeschenk“, erklärt die Hexe. „Es ist von Willert und mir für euch alle zusammen. Ich habe es eingepackt, damit man nicht gleich sieht, was es ist. Also, erst morgen aufmachen!“

Willert stellt die Kiste auf den Gabentisch, dann verschwinden die beiden wieder im Wald.

„Hm, keine schlechte Idee, das Geschenk in buntes Papier zu packen“, findet Kolle. „Das sieht hübsch aus! Meinst du, wir sollten unsere Goldnuggets auch einpacken? Und die Kleider?“

„Ach was“, meint Primo. „Die sehen auch so hübsch aus.“ Er grinst. „Und Golinas Kleid wird eine wirkliche Überraschung! Das sieht man nämlich gar nicht.“

„Stimmt. Wo hast du es denn hingelegt?“

„Da drüben ... glaube ich ...“

Primo betastet den Geschenkestapel. Hier irgendwo muss das Kleid doch liegen! Er gerät in Panik, als er es nicht findet. Doch dann ertastet er schließlich den unsichtbaren Stoff, der genau auf Olums Fischen liegt, die schon länger in der Sonne liegen und bereits etwas streng riechen. Erleichtert atmet er aus.

„Hast du die vielen Geschenke gesehen?“, fragt Golina ihn abends.

„Klar“, sagt Primo.

„Von wem wohl diese kleinen goldenen Körnchen sind? Die sind wirklich hübsch, und sie sehen richtig wertvoll aus.“

„Äh, keine Ahnung.“

„Und dann habe ich da ein wunderschönes rotes Kleid gesehen ... Hach, so eins hätte ich auch gerne! Aber das ist ja ganz bestimmt nicht für mich.“ Sie blickt ihm tief in die Augen. „Oder?“

„Äh, nein, ich ... ich glaube nicht.“

Golina wirkt enttäuscht. Primo verkneift sich ein Grinsen, als er daran denkt, was sie für Augen machen wird, wenn sie ihr noch viel tolleres unsichtbares Kleid bekommt.

„Hach, ich bin so aufgeregt“, sagt sie. „Ich weiß gar nicht, ob ich heute Nacht schlafen kann!“

Doch sie fällt schon bald in tiefen Schlaf. Primo dagegen liegt noch lange wach. Immer wieder stellt er sich vor, wie ihn Golina glücklich anlächelt und ihn zärtlich küsst, nachdem er ihr das Geschenk überreicht hat. Wer weiß, vielleicht entsteht bei diesem Kuss ja noch ein kleiner Dorfbewohner, ein süßes Mädchen vielleicht, so wie Maffi ...

Mitten in der Nacht schreckt Primo aus dem Schlaf. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er hatte einen schlimmen Alptraum: Golina hatte ihr neues unsichtbares Kleid an und lief damit stolz durchs Dorf, doch alle Dorfbewohner zeigten mit dem Finger auf sie und lachten sie aus! „Die ist ja ganz nackt!“, riefen sie.

Ein eisiger Schreck durchfährt ihn, als ihm klar wird, dass der Alptraum wahr ist: Wenn Golina ein Kleid trägt, das man nicht sieht, dann sieht es wirklich so aus, als wäre sie nackt! Das war es wohl, was Kolle ihm zu sagen versuchte, als sie bei Ruuna waren. Aber Primo hat wieder mal nicht zugehört.

Oh nein! Was soll er jetzt bloß machen? Er kann ihr auf keinen Fall so etwas Unnützes schenken wie ein unsichtbares Kleid!

Leise steht er auf und schleicht sich aus dem Haus. Der Mond steht hoch am Himmel und wirft sein fahles Licht auf das Dorf, das friedlich daliegt. In der Ferne stöhnt ein Nachtwandler, doch Asimov, der Golem sorgt dafür, dass sich kein Monster in die Nähe wagt.

In den Schatten der Häuser huscht Primo in Richtung der Schlucht, wo das vermaledeite Kleid auf dem Gabentisch liegt. Er hat vor, es vom Tisch zu nehmen und in die Schlucht zu werfen, damit Golina es auf keinen Fall findet. Aber was dann? Alle im Dorf bekommen von jedem etwas geschenkt, nur er hat nichts für Golina!

Das ist bloß Ruunas Schuld! Die Hexe und ihre vermaledeiten Ideen! Erst schlug sie vor, dass er Golina Gesichtsfarbe schenken soll, und dann auch noch ein unsichtbares Kleid! Wie konnte er nur so dumm sein, auf sie zu hören?

Was wohl in der bunt verpackten Kiste ist, die Ruuna und Willert gestern gebracht haben? Bestimmt auch bloß wieder irgendein Unfug! Womöglich sogar etwas Gefährliches, das vielleicht explodieren kann oder so. Das würde zu der Hexe passen! Vielleicht sollte er lieber mal nachsehen, was in der Kiste ist, bevor es morgen zu einer Katastrophe kommt. Schließlich ist er der offizielle Dorfbeschützer und trägt die Verantwortung für die Sicherheit des Dorfes.

Eine Bewegung reißt ihn aus seinen Gedanken. Da vorn huscht eine Gestalt die Dorfstraße entlang in Richtung der Schlucht. Wer mag das sein? Kolle vielleicht? Womöglich hat er auch Zweifel wegen des roten Kleides, das er Margi schenken wollte ...

Nein, das ist nicht Kolle. Als die Gestalt ins Mondlicht tritt, erkennt Primo die violette Robe des Priesters. Was macht Magolus mitten in der Nacht hier? Hat er vielleicht vergessen, seine Geschenke für die anderen auf den Tisch zu legen?

Vorsichtig schleicht Primo hinter Magolus her und versteckt sich hinter ein paar Erdblöcken, von wo aus er den Priester beobachtet.

Magolus bleibt vor dem Gabentisch stehen. Er scheint mit sich selbst zu reden, denn er murmelt leise Worte, die Primo nur mit Mühe verstehen kann.

„Das ist ja eine schöne Bescherung! Das sollte doch mein Ehrentag sein, und jetzt kriegen die anderen auch alle Geschenke ... Vielleicht sollte ich ihnen erzählen, dass Notch mir im Traum erschienen sei und gesagt habe, dass alle Geschenke nur mir gehören ... Aber was soll ich mit dem ganzen Krempel? Schnitzel, Eier, Kuchen, Brot, stinkende Fische, das gibt es doch auch sonst einfach so ... Moment, was ist das? Eine Kiste, in buntes Papier gepackt! Das ist hübsch! Und es gibt nur eine davon, also ist sie nur für mich! Bestimmt ist sie von der guten Birta. Hach, wie lieb! ... Was da wohl da drin ist? Ob ich mal reinschauen sollte?“

Magolus scheint eine Weile mit sich zu ringen, doch schließlich siegt seine Neugier, und er packt das Geschenk vorsichtig aus. Eine Holzkiste kommt zum Vorschein, aus der eine Menge spitzer Objekte herausragen, die so ähnlich aussehen wie Pfeile.

„Was ist denn das für ein Unsinn?“, murmelt Magolus. „Was soll ich denn mit einer Kiste voller Pfeile? Aber vielleicht ist ja noch mehr in der Kiste ... Wenn ich nur besser sehen könnte ...“

Magolus holt eine Fackel hervor und zündet sie an. Dann beugt er sich über die Kiste, um hineinzusehen.

Primo bekommt plötzlich ein mulmiges Gefühl. Er springt aus seinem Versteck hervor.

„Magolus!“, ruft er. „Geh lieber nicht so nah mit der Fackel an die ...“

„Waaah!“, macht Magolus vor Schreck und lässt die Fackel los, die genau auf die Kiste fällt.

Es beginnt zu zischen, und Funken sprühen hervor. Der Priester schlägt erschrocken nach der Kiste und wirft sie zu Boden.

Im nächsten Moment schießt ein waagerechter Feuerstrahl daraus hervor, und etwas Buntes kommt genau auf Primo zugeflogen. Er kann sich gerade noch zu Boden werfen. Zischend schießt eine leuchtende Kugel über ihn hinweg, trifft einen Baumstamm und explodiert in einer Wolke von bunten, glitzernden Sternen. Sofort geht der Baum in Flammen auf.

Immer mehr Feuerstrahlen schießen aus der Kiste, und brennende Kugeln fliegen in alle Richtungen, bevor sie auf Sträucher, Bäume und Hausdächer prallen und explodieren. Entsetzt muss Primo mit ansehen, wie mehrere Häuser in Flammen aufgehen.

„Feuer!“, schreit Magolus. „Hilfe! Es brennt! Es brennt!“

Als die Kiste endlich aufhört, Feuerstrahlen zu spucken, kommt Asimov den Dorfweg entlang gerannt.

„Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt, ihr Unglücksnasen?“, ruft er.

Der Golem schnappt sich einen Eimer, der neben dem brennenden Haus von Kaus, dem Bauern steht, und rennt zum Brunnen. Dort füllt er den Eimer mit Wasser und rennt zu einem der brennenden Häuser, wobei er ein jaulendes Alarmgeräusch ausstößt, das klingt wie „Tatütata“. Als er das Wasser auf das Hausdach spritzt, hören einige der Blöcke auf, zu brennen.

„Was steht ihr da rum und glotzt?“, ruft Asimov Primo und Magolus zu. „Los, weckt die anderen! Und dann schnappt euch einen Eimer und helft mir!“

Das reißt Primo endlich aus seiner Schreckensstarre. Er rennt durch die Dorfstraße und brüllt: „Feuer! Feuer! Kommt alle aus den Häusern! Es brennt! Es brennt!“

Nach und nach stolpern schlaftrunkene Dorfbewohner auf die Straße. Als sie die Flammen aus den Hausdächern schlagen sehen, laufen sie in Panik umher und rufen wild durcheinander.

„Hilfe! Mein Haus brennt!“

„Artrax hat das Dorf angegriffen!“

„Quatsch, Artrax ist doch im Ende gefangen!“

„Tut doch was! Meine Bücher! Meine schönen Bücher!“

Primo rennt zur Schmiede und weckt Golina und Nano. Dann nimmt er sich einen Eimer, füllt ihn mit Flusswasser und hilft dabei, die Bibliothek zu löschen, die lichterloh brennt.

Als die Sonne aufgeht, wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Zwar wurde nicht das ganze Dorf zerstört wie beim Angriff der Knallschleicher, die Artrax aus Rache angelockt hatte. Doch mehrere Häuser sind schwer beschädigt, und die Bibliothek, in der Kolle mit Margi, Maffi und seinen Eltern Nimrod und Delfina gewohnt hat, ist nur noch eine verkohlte Ruine. Primos einziger Trost ist, dass auch das unsichtbare Kleid verbrannt ist, zusammen mit all den anderen Geschenken.

In diesem Moment kommen Willert und Ruuna aus dem Wald. Die Hexe sieht sich um. Dann ruft sie empört: „Habt ihr etwa ohne uns angefangen?“

Das Dorf Band 12: Schleim

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