Читать книгу Und es jubeln die Rachegeister: Ein Regio Mystery Krimi aus Österreich - Karl Plepelits - Страница 5

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Aber jetzt bleibt Eduard stumm und versinkt in seinen Erinnerungen. Sie reichen zurück bis zu jenem Tag im November des Jahres 1948, als seine Mutter mit ihm von Wien nach Melk an der Donau zum Stiefvater übersiedelte. Sein richtiger Vater war im Krieg gefallen.

Ein Mitschüler in seiner neuen Schule hieß Florian Zeilinger. Und es dauerte nur wenige Tage, bis Eduard auf dem gemeinsamen Heimweg Florian in kindlicher Unbekümmertheit fragte, ob er sein Freund sein wolle. So freundeten sich die beiden an und wurden unzertrennlich. Das blieben sie auch, als sie später gemeinsam das Gymnasium des Melker Klostergymnasiums besuchten (und darin zu frommen und gläubigen Katholiken erzogen wurden).

Allmählich stellte sich freilich heraus, dass sie in manchen Dingen trotzdem höchst unterschiedliche Ansichten vertraten. Florian war, offensichtlich unter dem Einfluss seiner Eltern, noch immer ein begeisterter Anhänger der Lehre vom „Deutschtum“ und vom „Urgermanentum“. Überdies fand er, dass Hitlers Tyrannei durchaus ein Segen für die Menschheit war, zumindest für die „Übermenschen“, und äußerte wiederholt tiefe Verachtung für die Völker der „Untermenschen“; und dazu gehörten nicht nur die Russen, von denen es Melk mit seiner Kaserne bis 1955 nur so wimmelte, sondern vor allem auch die Juden (von denen es in Melk kaum mehr einen zu geben schien). Trotz heftigster Bemühungen gelang es Eduard nie, ihm diesen verhängnisvollen Ungeist auszutreiben. Eduard selbst hingegen neigte trotz seiner damaligen Frömmigkeit mehr zur Lehre von Karl Marx, vielleicht beeinflusst von der Flut an Propagandaschriften, die die sowjetische Besatzungsmacht verbreiten ließ, solange sie im Lande stand. Und zur sowjetischen Zone zählte eben auch Niederösterreich.

Darum war zum Beispiel auch das Passagierschiff mit dem schönen Namen Kaukasus bis 1955 ein gewohnter Anblick für Eduard und Florian. Das Ufer der Donau war nämlich einer ihrer Lieblingsaufenthalte, insbesondere im Sommer beim gemeinsamen Badevergnügen; ein Schwimmbad gab es damals in Melk noch nicht. Ein Hauptspaß war es übrigens, sich in die Nähe der Kaukasus oder eines der Schlepper zu wagen und sich in den von ihnen ausgehenden Wellen schaukeln zu lassen. Und wenn man sich schon in der Flussmitte befand, dann schwamm man natürlich gleich bis ans andere Ufer und marschierte dort anschließend weit genug stromaufwärts, um wieder an den Ausgangspunkt zurückzugelangen; denn die Strömung ist so stark, dass man dabei kilometerweit abgetrieben wird.

Wie man sieht, konnten ihre so unterschiedlichen Ansichten ihre Freundschaft nicht gefährden. Im Gegenteil, die Diskussionen, um nicht zu sagen, Streitgespräche, die sie führten, banden sie nur umso enger zusammen. Dies mag zwar unglaubhaft klingen, bestätigt aber nur die in Österreich oft geäußerte Weisheit: Beim Reden kommen die Leut zusammen. Doch irgendwann kam eine Zeit, da bewirkte ausgerechnet die Gleichheit ihrer Ansichten zu einem bestimmten Thema das genaue Gegenteil, sprich, drohte sie zu entzweien.

Unterdessen waren die Besatzungsmächte längst abgezogen, Österreich war wieder ein souveräner Staat, und die zwei Freunde waren entsprechend älter geworden und verliebten sich beide ausgerechnet in dasselbe Mädchen, in Maria Kisely. Eine zusätzliche Schwierigkeit bestand darin, dass sich die Mitzi, wie sie allgemein genannt wurde, zwar nicht entscheiden konnte, wen sie mehr liebte, Eduard oder Florian, ihre noch immer heimlich faschistisch gesinnten Eltern aber Letzteren deutlich bevorzugten und Eduard als einen, der sich unverblümt zum Marxismus bekannte, sogar kategorisch ablehnten. Und das war deshalb ein Problem, weil die Lebensregel, der sie anhingen und die sie Mitzi einbläuten, lautete: Verliebst du dich in einen Mann, so musst du ihn heiraten, und damit basta. Aber natürlich nicht sofort. Zuvor müsst ihr lang genug miteinander „gehen“, wohlgemerkt, unter Bewahrung der heiligen Jungfräulichkeit.

Diese Lebensregel befolgte Florian getreu. Schließlich war er ein frommer Katholik und damit ein Verehrer der heiligen Keuschheit. Und vor allem war er noch gänzlich unaufgeklärt.

Eduard dagegen war mittlerweile nicht mehr gar so fromm, zudem schon längst bestens aufgeklärt. Aufgeklärt hatte ihn seine ältere Schwester. Sie hatte ihn ganz einfach verführt, sobald sein kindliches Schwänzlein zu gebrauchen war. Und sie gebrauchte es, indem sie sich und bald auch seinem Eigentümer (dem solche Aktivitäten anfangs alles andere als angenehm waren) heimlich damit Freude spendete, offenbar inspiriert von dem berühmtesten inzestuösen Geschwisterpaar der Weltgeschichte, Zeus und Hera.

In einer herrlichen Szene der Ilias erzählt Homer, wie Hera ihren Bruder und Gemahl Zeus auf dem „höchsten Gipfel des quellenreichen Ida-Gebirges“ sitzen und den Kampf der Griechen und Trojaner beobachten sieht und, um ihm Schlaf über die Augenlider zu gießen, ihn zu verführen beschließt. Und da beschreibt der Dichter, wie sie badet, sich salbt, sprich, parfümiert, sich kämmt und Zöpfe flicht, ein „ambrosisches“ Gewand anlegt, sich mit Juwelen schmückt und sich obendrein von Aphrodite deren Zaubergürtel ausleiht; und in diesem „wohnte Verführung, welche sogar die Weisen betöret“.

Hera aber stieg eilig hinauf zum Gargaron-Gipfel des hohen Ida-Gebirges. Da sah sie der Wolkensammler Zeus, und als er sie sah, umhüllte ihm süßes Verlangen die Sinne, so wie damals, als sie sich zum ersten Mal in Liebe vereinigten, ins Bett steigend, heimlich vor den lieben Eltern.

Und da tut sie so, als würde sie sich dagegen wehren: Es sei doch alles offen sichtbar, einer der Unsterblichen könnte sie sehen. „Schön peinlich wäre das.“ Zeus aber verspricht, beide mit einer dichten Wolke zu umhüllen, sodass niemand sie sehen werde.

Sprach's und packte sie mit den Armen. Unter ihnen aber ließ die göttliche Erde frisch sprossendes Gras wachsen und tauigen Lotos und Krokos und Hyacinthos, dicht und weich, der sie vom Boden emporhob. Auf dieser Unterlage legten sich die beiden hin und umhüllten sich mit einer Wolke, einer schönen, goldenen, und aus dieser fielen funkelnde Tautropfen herab.

Um aber wieder zu Eduard und Mitzi zurückzukommen. Also: Durch seine ältere Schwester war er bereits bestens aufgeklärt (was in den Fünfzigerjahren alles andere als selbstverständlich war). Nur, mit bloßer Frömmigkeit hätte er niemals eine Chance gehabt, bei Mitzi zu landen, zumal seit sie mit Florian zwar noch nicht offiziell verlobt war, aber doch mit ihm „ging“ und damit als ihr zukünftiger Bräutigam galt. Also versuchte er (Eduard) sie eben zu verführen. (Seine Schwester war unterdessen längst verheiratet). Und es gelang. Es gelang ihm, sich heimlich mit Mitzi zu treffen, übrigens ausgerechnet im Klosterpark. Der war zwar für Außenstehende tabu; doch seine Umfassungsmauer war an einer bestimmten Stelle für geschickte Jugendliche leicht zu übersteigen. Es gelang ihm, Mitzi, „heimlich vor den lieben Eltern“, unbemerkt von Florian und allen anderen, heillos in ihn verliebt zu machen. Und es gelang ihm, Mitzi zu verführen, im Klosterpark, bei sich zu Hause, bei ihr zu Hause, ja sogar beim Baden an der Donau.

Unterdessen ging Florian nicht mehr ohne Mitzi baden, und Eduard ging nicht ohne Florian baden. Und da fragte sie ihn eines schönen Tages in einem unbelauschten Moment, ob er nicht Lust hätte, sie auf der Luftmatratze ein Stückchen flussabwärts zu steuern. Na, und ob er Lust hatte. Also stiegen sie gemeinsam ins Wasser, sie legte sich auf die Luftmatratze, und er bugsierte diese auftragsgemäß hinaus in die freie Strömung und dann, wie gewünscht, ein Stückchen flussabwärts. Und wie weit war „ein Stückchen flussabwärts“? Nun, jedenfalls so weit, dass sie erst hinter der Mündung eines Seitenarms der Donau wieder an Land gingen, in einem ausgedehnten und menschenleeren Auwald. Und was taten sie dort, fern von jedem menschlichen Auge oder Ohr? Richtig: Aufseufzend fielen sie einander um den Hals und rissen sich gegenseitig die Badesachen herunter und feierten auf der Matratze ein rauschendes Liebesfest und jubilierten in den höchsten Tönen und boten den Vöglein des Waldes nicht nur das entzückendste Schauspiel, sondern auch einen überwältigenden Hörgenuss. Zwar, mit einer Wolke, einer schönen, goldenen, aus der funkelnde Tautropfen herabfielen, hatten sie sich nicht umhüllt. Es war auch nicht unbedingt notwendig, denn gesehen wurden sie nicht. Aber dafür gehört. Denn ihre Lustschreie blieben leider nicht unbelauscht. So fern von jedem menschlichen Ohr, wie sie glaubten, waren Eduard und Mitzi doch nicht.

Florian war zwar nicht dabei gewesen, als die beiden einträchtig ins Wasser stiegen, sah sie dann aber im Fluss treiben und sprang ihnen augenblicklich nach. Einholen konnte er sie zwar nicht; ihr Vorsprung war doch zu groß. Aber er sah aus der Ferne, wo sie an Land gingen, ging in der Nähe ebenfalls an Land und konnte sie zwar nicht sehen; aber hören konnte er sie deutlich genug. Sie zu stören (oder sich gar als Dritter an ihrem lustvollen Treiben zu beteiligen) wagte er nicht, sondern wanderte, total verstört, zurück an den gemeinsamen Badeplatz und wartete. Und als er nach langem Warten die zwei zurückkommen sah, wagte er noch immer nichts zu sagen, hörte sich kommentarlos ihre natürlich frei erfundenen Begründungen an, warum und wo sie so lang geblieben seien. Aber dann forderte er Eduard auf, mit ihm ans andere Ufer zu schwimmen und sich wieder einmal von den Wellen eines Passagierschiffes, das gerade in Sicht gekommen war (es hieß natürlich nicht mehr Kaukasus), schaukeln zu lassen. Mitzi beteiligte sich an solchen Vergnügungen nicht. Sie war keine so gute Schwimmerin; daher auch die Luftmatratze.

Also verabschiedeten sie sich von ihr, Florian mit einem keuschen Küsschen, Eduard mit wissenden und zugleich sehnsuchtsvollen Blicken, und stürzten sich ins Wasser. Aber während sie dann, am anderen Ufer angelangt, stromaufwärts wanderten, legte Florian los und überhäufte Eduard mit Vorwürfen und Beschimpfungen, und im Nu war ein erbitterter Streit entbrannt. Der Streit verstummte nicht einmal, nachdem sich die beiden abermals ins Wasser gestürzt hatten, um zurückzuschwimmen. Es wurde nur schwieriger, mühsamer, ihn auszutragen. Zugleich wurde er noch erbitterter, und man begann, ihn nicht so sehr mit Worten als vielmehr mit Taten auszutragen. Im Klartext: Man wurde handgreiflich. Nun war zwar Florian der wütendere, Eduard aber der kräftigere der beiden. Und da beschloss Letzterer in der Hitze des Gefechts, die Gelegenheit zu nutzen und ein Fait accompli, also vollendete Tatsachen, zu schaffen. Er drückte Florian kurzerhand so lange unter Wasser, bis dieser nicht mehr auftauchte.

Natürlich herrschte größte Bestürzung, als Eduard allein zurückkam und Florian nirgendwo zu finden war. Aufs Höchste bestürzt war Eduard selbst. Es war ja niemals seine Absicht gewesen, seinen besten Freund in den gläsernen Palast des Donaufürsten am Grund des Stromes zu schicken und diesem ein Menschenopfer darzubringen. Und er konnte nur hoffen, dass Florian den Wassergeistern dort nur einen Kurzbesuch abgestattet habe und bald wieder lebendig, munter und fidel auftauchen werde.

Natürlich hoffte er vergeblich. Tage später und viele Kilometer unterhalb von Melk wurde Florians Leiche angetrieben und ausgerechnet von spielenden Kindern entdeckt. Und nun geschah dasselbe, was im Krieg hundert- und tausendfach geschehen war: Eine werdende Mutter betrauert den gefallenen Vater ihres ungeborenen Kindes, hat aber (angeblich) wenigstens den Trost, in diesem ein Abbild des Verstorbenen zu besitzen.

Ja, Mitzi war schwanger. Nur wusste sie es damals selbst noch nicht. Und sobald sie es wusste, verriet sie keiner Menschenseele, dass nicht Florian der Kindesvater ist. Das Kind, eine Tochter, Evelines zukünftige Mutter, wuchs auf in der Überzeugung, dass ihr Vater Florian schon vor ihrer Geburt vom Donauweibchen zu sich in den Palast des Donaufürsten geholt worden war, vermutlich in den von einem großen Schiff erzeugten Wellen. Den wahren Kindesvater kannte nur Maria selbst. Und sie erriet auch ohne weiteres die Ursache für den Tod ihres Verlobten. Natürlich leugnete Eduard hartnäckig, auch nur das Geringste damit zu tun zu haben. Doch Maria glaubte ihm nicht. Sie erstickte ihre Leidenschaft für ihn, verheimlichte ihm sogar ihre Schwangerschaft und wies die Möglichkeit, ihn zu heiraten, damit ihr Kind einen lebendigen Vater habe, weit von sich. Mit einem Mörder verheiratet zu sein, das war für sie ein unerträglicher Gedanke. Außerdem war ihr klar, dass ihre noch immer faschistisch denkenden und klerikal gesinnten Eltern sie garantiert verstoßen hätten. Sie hätte sich ja als „gefallenes Mädchen“ und „untreues Luder“ entpuppt.

Eduard selbst hatte nie die Absicht gehegt, Maria zu ehelichen, und war über Marias Zurückweisung keineswegs bestürzt. Bestürzt war er über das, was in der Donau geschehen war. Florian war ja immer noch sein bester Freund gewesen, und seine Trauer über dessen Tod war durchaus echt. Er hatte niemals vorgehabt, ihn zu töten. Schuld war die Erregung, die Wut, der Streit, Florian selber. Was musste er mir auch nachspionieren?, fragte sich Eduard immer wieder voll Bedauern. Was musste er mich auch so zur Schnecke machen? Was kann ich dafür, wenn die Mitzi auf mich steht? Hätte ich sie abweisen, enttäuschen, vor den Kopf stoßen sollen? Bin ich ein Unmensch? Bin ich ein Heiliger?

Aber nicht nur Bedauern, Bestürzung, Trauer hatte ihn erfasst, sondern auch die nackte Angst: Wie, wenn ihn jemand beobachtet hat und es der Polizei meldet? Wenn er festgenommen und verurteilt und ins Gefängnis geworfen wird? Was dann? Hinzu kam, dass seine Tat die grausigen Erinyen aus der Unterwelt heraufbeschworen hatte. Und diese folterten mit ihren Peitschen und brennenden Fackeln sein Gewissen, jedenfalls solange er wach war. Aber auch die Nächte waren von nun an der reinste Horror. Da lernte er nämlich etwas kennen, womit er noch nie konfrontiert gewesen war, nämlich Alpträume. In ihnen traten Florians Rachegeister auf und begannen seine auch im Schlaf noch wache Seele mit allen möglichen Folterwerkzeugen zu bearbeiten, sodass er am Morgen danach verschwitzt und quasi durchgedreht erwachte.

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