Читать книгу Und es jubeln die Rachegeister: Ein Regio Mystery Krimi aus Österreich - Karl Plepelits - Страница 6

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Dies geschah im Juni 1958, nachdem gerade beide erfolgreich die Matura abgelegt hatten und feierlich für „reif“ (nämlich fürs Hochschulstudium) erklärt worden waren. Eduard stand nun also vor der alles entscheidenden Frage: Wie soll es weitergehen? An und für sich hatte er geplant, an der Wiener Universität zu inskribieren, um Anglistik und Romanistik (mit Spezialgebieten Spanisch und Französisch) zu studieren. Doch nach allem, was geschehen war, konnte er unmöglich so tun, als wäre alles in bester und schönster Ordnung. Der Schock saß tief, und er hatte nur das eine Bedürfnis, sich so weit wie möglich von Melk zu entfernen, sprich, aus Melk zu fliehen. Denn an allen Ecken und Enden, überall, wo er mit Florian gewesen war, gelernt, gespielt, gelacht, gesprochen hatte, sah er diesen einen anklagenden Finger gegen ihn ausstrecken.

Welch ein Glück, dass Eduard in Frankreich Verwandte hatte. Also auf nach Frankreich! Für das geplante Studium konnte das nur von Vorteil sein.

Eine Schwester seines im Krieg gefallenen Vaters hatte in Wien während des Krieges einen sogenannten Fremdarbeiter aus Frankreich, der im selben Betrieb arbeitete wie sie selbst, kennen und lieben gelernt. Nun war es zwar strengstens verboten, sich mit Fremdarbeitern zu „fraternisieren“, und noch strenger, sich mit ihnen „einzulassen“, und eine zweite Schwester (aus der inzwischen eine alte Jungfer geworden war) hatte auch die ärgsten Bedenken und machte ihr deswegen schreckliche Vorwürfe. Und in der Tat war Hitlers Terrorregime ein solcher Segen für die Menschheit, dass aus einem solchen lächerlichen Anlass die ganze Familie unter die Räder hätte kommen können, und das hätte sehr wahrscheinlich Hinrichtung, Liquidierung, Ausrottung bedeutet. Aber die Liebe ist, wie man weiß, stärker als die Angst, stärker auch als die Macht einer menschenverachtenden Despotie. Der Gott der Liebenden hielt seine schützende Hand über die zwei, und sobald der Krieg und damit die Despotie vorüber waren, heirateten sie und schlugen sich, nicht ohne Mühe und Gefahren, nach Frankreich durch.

All dies hatten sie Eduard längst erzählt. Vor einigen Jahren hatten sie ihn nämlich schon einmal zu sich eingeladen. Damals lebten sie noch in einem Vorort von Paris. Unterdessen waren sie mit ihren zwei Kindern an die Côte d'Azur übersiedelt, nach Cagnes-sur-Mer, jenem malerischen Städtchen, in dem sich einst auch Renoir niedergelassen hatte, und zwar aus demselben Grund wie sie: Das Mittelmeerklima tat einfach ihrer Gesundheit gut. Sie hatten Eduard auch für diesen Sommer eingeladen, gewissermaßen als Belohnung für das Bestehen der Matura. Doch er hatte abgelehnt. Auch in seinem Fall war die Liebe stärker gewesen.

Doch nun war dieses Argument hinfällig geworden, und er beeilte sich, der Einladung von Tante Lisi und Onkel Roger Folge zu leisten. Die Zugfahrt war zwar kein billiger Spaß, aber es gelang, die lieben Eltern zu dessen Bezahlung zu überreden, und das Sparbuch musste nicht angeknabbert werden.

Hier, an der Côte d'Azur, bedurfte es nun keiner Schiffe mehr, um sich beim Schwimmen von Wellen schaukeln zu lassen. Hier genießt der Schwimmer pausenlos das Schaukeln. Und bläst der Wind einmal besonders wütend, wachsen ihm, dem Schwimmer, die Wellen sogar über den Kopf und bemühen sich, ihn statt in den Palast des Donaufürsten ins Reich Neptuns zu locken und diesem wieder einmal ein Menschenopfer darzubringen.

Der unendlich lange, breite Kiesstrand von Cagnes-sur-Mer wurde Eduard allerdings nach einiger Zeit langweilig, und er begann schönere Strände aufzusuchen. Dorthin war es zwar ein bisschen weiter. Aber der Onkel lieh ihm ja sein Fahrrad, und da spielte das überhaupt keine Rolle. Wenn man auf der Küstenstraße etwa eine halbe Stunde in Richtung Süden fährt und das Städtchen Antibes durchquert, erreicht man die Halbinsel Cap d'Antibes, einen Traum aus Pinienhainen, Villengärten und winzigen, einsamen Felsenbuchten mit wunderschönen kleinen Stränden aus feinstem Sand, dahinter das azurblaue Mittelmeer. Gleich die erste einsame Felsenbucht war Eduards Ziel.

Als vollkommen einsam erwies sie sich freilich nicht. Drei Badenixen tummelten sich hier bereits. Wie peinlich! Eduard wollte schon die Flucht ergreifen, um die drei Grazien, Mädchen etwa seines Alters oder eher noch darunter, nicht in Verlegenheit zu bringen. Aber sie riefen ihm frisch und fröhlich zu, er solle doch nur bleiben, sie fürchteten sich nicht vorm schwarzen Mann. Und während er zögernd näher kam und sich in ihrer Nähe niederließ, überhäuften sie ihn mit so viel Frohsinn und Gekicher, dass er mit der Zeit den Eindruck gewann, als habe sein Auftauchen ihnen einen geheimen Wunsch erfüllt. Als Erstes verrieten sie ihm ihre Vornamen: Madeleine, Denise, Juliette – in dieser Reihenfolge. Juliette war nämlich die Stillste und Schüchternste der drei. Zugleich war sie die eine, die den nachhaltigsten Eindruck auf ihn machte.

Vollkommen ungestört, verbrachten die vier einen höchst angenehmen (und für Eduards Französischkenntnisse segensreichen) Nachmittag mit lieblichen Beschäftigungen wie um die Wette schwimmen, sich gegenseitig unter tollem Gekreische anspritzen, Sandburgen bauen, in der Sonne braten und wohl auch dem drohenden Hungertod vorbeugen. Zu diesem Zweck teilten sie sich wie selbstverständlich ihre mitgebrachten Fressalien. Und weil's so schön und lustig war, vereinbarten sie beim fröhlichen Abschied vor der Behausung der drei Grazien, einer großen Villa inmitten eines prachtvollen Gartens, sich tags darauf um zwei Uhr hier zu treffen und wieder gemeinsam baden zu fahren.

Am nächsten Tag versteckte sich die liebe Sonne hinter einer dichten Wolkendecke. Als Eduard die Villa erreichte, wartete schon Juliette auf ihn und begrüßte ihn freudig, doch ausgesprochen schüchtern. Und sie war allein.

Und Madeleine und Denise?

Kommen nicht mit. Sind nach Nizza gefahren. Einkaufen. Morgen vielleicht wieder. Enttäuscht?

Aber nein. Ganz im Gegenteil.

Und er glaubte in Juliettes schmalem Gesicht eine leichte Rötung zu entdecken.

In der Bucht angekommen, stürzten sie sich wegen des kühlen Wetters sofort in die warmen Fluten. Leider artete dies sofort wieder in ein Wettschwimmen aus. Doch während Eduard unter Aufbietung aller Kräfte hinter Juliette her schwamm und sich krampfhaft bemühte, wenigstens nicht allzu weit zurückzufallen, merkte er zu seiner Verwunderung, dass der Abstand zwischen ihnen plötzlich rapide abnahm. War Juliette in Schwierigkeiten? Sie schlug nur noch hilflos um sich und hatte offensichtlich Mühe, sich überhaupt über Wasser zu halten. Und da war Eduard auch schon bei ihr und konnte sie gerade noch packen, möglicherweise im letzten Moment. Er packte sie mit beiden Händen, drehte sich selbst in Rückenlage, schlüpfte unter sie. Und so gelang es ihm, sie heil zur nächsten Bucht zu schleppen. Dort trug er sie an Land und bettete sie behutsam in den Sand, damit sie sich von ihrem Schwächeanfall erholen konnte. Ein solcher war es ja vermutlich, ausgelöst wohl durch Überanstrengung und vor allem durch Missachtung des elementaren Gebotes, dass man mit vollem Magen nicht ins Wasser gehen soll. Wie oft, wie eindringlich war es Eduard in seiner Kindheit eingetrichtert worden! Und es gilt bestimmt nicht nur für die Donau.

Gottlob, allmählich begannen Juliettes Augen wieder zu leuchten und blieben an den seinen hängen, ihre Lippen wurden wieder rot und flüsterten: „Édouard, mein Retter! Danke!“ Hierauf stützte sie sich auf und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Und das kam so überraschend, und der Kuss selbst war so süß, dass es Eduard den Atem verschlug.

„Mein Retter!“, wiederholte sie. „Ich bin so froh ... Sag doch, bist du wirklich nicht enttäuscht, dass Madeleine und Denise ...“

„Aber nein. Mit dir allein bin ich viel lieber ...“

„Ich ja auch mit dir. Aber Madeleine und Denise sind doch viel hübscher ...“

„Aber wo. Du bist viel hübscher als die zwei zusammen.“

Sie öffnete ihren Mund, ohne etwas zu sagen, richtete sich mit einem Ruck auf, fiel Eduard um den Hals und küsste ihn mit einer Heftigkeit, dass ihm Hören und Sehen verging. Dabei merkte er jedoch, dass sie eine Gänsehaut hatte.

„Dir ist ja kalt“, sagte er.

„Aber deine Hände sind warm.“

„Trotzdem. Du musst dich umziehen.“

Also standen sie auf, nahmen einander bei der Hand, stapften zurück und entledigten sich der nassen Sachen.

An diesem Tag gingen sie nicht mehr ins Wasser, sondern verbrachten ihre restliche Zeit am Strand abwechselnd mit Plaudern und mit Küssen. Und Eduard erfuhr, dass Madeleine und Denise Juliettes beste Freundinnen waren, dass sie alle drei nicht in Cagnes, sondern in Rouen in Nordfrankreich wohnten und bei Madeleines Großeltern nur die Ferien verbrachten.

Am nächsten Tag lud das Wetter noch immer nicht zum Baden ein, zumal junge Mädchen, die erst tags zuvor um ein Haar dem Meeresgott Neptun als Menschenopfer dargebracht worden wären.

Tatsächlich hatte Juliette keine Lust, ans Meer zu radeln. Als Eduard ankam, stand sie schon mit einem großen Lächeln in ihrem lieblichen Gesicht, aber ohne Fahrrad vor dem Gartentor. Unverweilt ergriff sie seine Hand, führte ihn wortlos ins Haus, schloss die Eingangstür, fiel ihm um den Hals und küsste ihn zärtlich. Und ehe er sich noch von seiner süßen Überraschung erholt hatte und ein Wort herausbrachte, sagte sie, süß lächelnd: „Bist du mir sehr böse, wenn ich heute nicht mit zum Strand fahre?“

„Böse nicht“, stammelte er. „Aber traurig.“

„Traurig?“

„Ja, sicher. Weil ich nicht mit dir zusammen sein kann.“

Juliettes Lächeln wurde noch süßer. „Und wenn du hier bei mir bleibst?“

„Sind denn die anderen ...“

„Alle außer Haus. Wir sind ...“

Sie konnte offenbar nicht weitersprechen. An ihrem fliegenden Atem erkannte Eduard, dass in ihrer Brust ein heftiger Sturm tobte. Stattdessen umarmte sie ihn neuerlich, legte ihr gerötetes Gesicht auf seine Schulter und flüsterte: „Ach, Édouard, ich liebe dich. Ich habe mich sofort in dich verliebt, nicht erst, als du mir das Leben gerettet hast. O mein Édouard, wie ich dich liebe! Tag und Nacht kann ich nur noch an dich denken. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen. Soll ich dir die Wohnung zeigen? Ich meine, das ganze Haus?“

Und sie zeigte ihm das ganze Haus, führte ihn durch alle Räume und ließ ihn Schönheit und Eleganz der Einrichtung bewundern und küsste ihn feierlich in jedem Raum. Und ungeachtet des süßen Verlangens, das ihm allmählich „die Sinne umhüllte“, bewunderte er eifrig, um Juliette eine Freude zu bereiten. Am meisten bewunderte er jedoch im Stillen, was er in einem schönen Raum mit gewaltigem Schreibtisch und hohen Regalen, voll mit Büchern, sah: eine dicke Brieftasche, die gut sichtbar auf besagtem Schreibtisch lag.

Die Führung endete in einem Zimmer mit drei ungemachten Betten.

„Ihr schlaft hier?“, stieß Eduard mit Mühe hervor. In der Tat, das Reden bereitete ihm auf einmal Mühe. Das süße Verlangen war mittlerweile auf einen Gipfelpunkt gestiegen und umhüllte bereits das Befehlszentrum seiner Sprechorgane (während andere Organe dafür umso einsatzbereiter waren).

Juliette konnte nur noch nicken. Sie presste sich heftig an ihn. Dass sie auf diese Weise sein süßes Verlangen spüren konnte, war unvermeidlich.

„Und welches ist dein ...“

Wortlos zeigte Juliette auf eines der drei Betten und drängte sich noch heftiger an ihn. Und ohne eigentlich zu wissen, was er tat, begann er die Knöpfe ihrer Bluse auf ihrem Rücken zu öffnen. Und in der Folge geschah alles, was der Gott der Liebenden für diese vorgesehen hat, und sogar noch mehr. Denn wie sich herausstellte, war Juliette noch Jungfrau gewesen. Und post festum, also nach dem Liebesfest, war sie eben keine Jungfrau mehr, aber dafür, so sagte sie, „deine Frau für immer und ewig“.

Eduard selbst empfand nicht ganz denselben Enthusiasmus. Mit einer gewissen Sehnsucht dachte er an Mitzi zurück. Sie war keine Jungfrau mehr gewesen und besaß entsprechend mehr Erfahrung (ohne dass sie ihm je verraten hätte, wer der Bösewicht war, der ihr die Jungfräulichkeit geraubt hatte; Florian war es jedenfalls nicht; das stand fest). Jedenfalls hatten sich die Liebesfeste mit ihr als bei weitem vergnüglicher erwiesen als jetzt das mit Juliette. Aber das würde sich ja vielleicht noch ändern. Nur, „für immer und ewig“? Dem fühlte sich Eduard kaum gewachsen, dafür war er, wenn er zu sich ganz ehrlich sein wollte, noch nicht bereit. Außerdem, sollte er zuvor nicht auch die anderen zwei ausprobieren, Madeleine und Denise?

Aber diese Gedanken verriet er Juliette natürlich nicht. Umso eifriger liebkoste er zu ihrem wachsenden Entzücken weiterhin ihren zarten Körper. Neuerlich „umhüllte ihm süßes Verlangen die Sinne“, und neuerlich vereinigte er sich mit ihr. Aber auch dieses zweite Liebesfest war kein besonderer Erfolg; denn jetzt tat es Juliette noch mehr weh als beim ersten Mal, was freilich ihrer Begeisterung für „meinen Édouard“ keinen Abbruch tat.

Als die beiden, wieder züchtig gekleidet und um „züchtiges Benehmen“ bemüht, nachher in den Garten hinausgingen, um in diesem noch ein wenig ihre traute Zweisamkeit zu genießen, erklärte Eduard, kurz zurück ins Haus zu müssen; er wolle noch einmal das Bad aufsuchen. Es war aber nicht das Bad, welches er aufsuchte, sondern jener Raum, den er im Stillen am meisten bewundert hatte, der mit dem Schreibtisch und den Bücherregalen. Das Bild der dicken Brieftasche ging ihm nicht aus dem Kopf, und die Frage nach ihrem Inhalt hatte ihn die ganze Zeit beschäftigt. Nun, die Antwort, die er fand, lautete: Fünftausend- und Zehntausend-Franc-Noten, eine ganze Menge davon. Was lag also näher, als diese Menge ein kleines bisschen zu verkleinern und dieses kleine Bisschen rasch in die eigene Badetasche zu stecken?

Danach plagten ihn jedoch sofort das schlechte Gewissen und vor allem die Angst, als Dieb entlarvt zu werden, und ihm war klar, dass er Cagnes möglichst rasch verlassen musste. Nun war für ihn der Genuss der trauten Zweisamkeit getrübt. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die Uhr und stellte fest, es sei leider an der Zeit, nach Hause zu fahren; was, wenn plötzlich die anderen daherkommen?

Dem hatte Juliette nichts entgegenzusetzen. Mehr als einmal hatte sie betont, vorläufig müsse man vorsichtig sein. Die anderen dürften auf keinen Fall etwas merken. Das wäre ein unaussprechlicher Skandal.

Also verabschiedete sich Eduard unter vielen Küssen und mit dem heiligen Versprechen, morgen um dieselbe Zeit wieder zur Stelle zu sein, wohl wissend, dass er dieses Versprechen nicht halten konnte. Er bestieg sein Fahrrad und fuhr unter heftigem Winken zurück zu Tante und Onkel. Dort angekommen, erklärte er, er werde sie schon morgen von seiner Gegenwart befreien, und stellte fest, dass diese Ankündigung auf kein großes Bedauern stieß. Und er ahnte auch, warum. Die finanzielle Belastung durch einen Esser mehr war eine starke Herausforderung für den Familiensinn, das heißt, für die Liebe zu den armen Verwandten in Österreich. Natürlich suchte Tante Lisi ihre Erleichterung zu kaschieren, indem sie pro forma fragte, wieso er denn schon wieder nach Hause fahren wolle.

„Nein, nein, nicht nach Hause. Sondern nach Spanien. Zu meiner zweiten Familie.“

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