Читать книгу Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte. - Karl Reiche - Страница 9
ОглавлениеDer Luchs
Plötzlich war ein grauer Schatten über dem sich ängstlich duckenden Welpen. Er packte ihn mit dem Maul, sprang mit ihm durch die Flammenwand, erreichte den noch nicht brennenden Teil des Waldes und trug ihn in rasenden Sprüngen davon. Sein Vater war gerade noch rechtzeitig gekommen.
Die Wölfin folgte dem Rüden auf dem Fuß, packte die kräftigere der beiden kleinen Wölfinnen ebenfalls mit dem Maul, warf noch einen letzten, schmerzlichen und verzweifelten Blick auf ihre beiden kleinsten Welpen und raste hinter dem Rüden her.
Gegen jeden anderen Feind hätte sie gekämpft, um das Leben ihrer Welpen zu schützen, aber sie wusste, gegen diesen Feind konnte sie nicht kämpfen. Da half nur schnelle Flucht.
Auf diese Weise konnten die Altwölfe wenigstens zwei ihrer Welpen retten.
Die beiden erwachsenen Wölfe rannten, so schnell sie konnten, vor den sich immer weiter und schneller ausbreitenden Flammen davon. Der Rüde übernahm die Führung und führte sie instinktiv im rechten Winkel zu der Richtung, in die sich das Feuer ausbreitete, nach Südwesten.
Trotzdem wurde es knapp, denn angefacht von dem kräftigen Nordwestwind entwickelte sich ein starker Funkenflug, der die Flammen über die Wipfel der Bäume vorantrug. Manches Mal rasten sie durch Waldstücke, wo sie am Boden gerade noch durchkamen, über ihnen die Baumkronen aber bereits brannten.
Doch sie hatten Glück. Gerade als das Feuer sie überholte und die Flammen sie fast eingeschlossen hatten, fing es endlich an, wolkenbruchartig zu regnen und die Ausbreitung des Feuers verlangsamte sich.
Der bereits in Flammen stehende Wald aber brannte größtenteils nieder und damit auch ihr bisheriges Jagdrevier.
Sie mussten weiter und sich ein neues Revier suchen.
Zunächst aber machten sie eine Rast, um sich von dem schnellen Lauf zu erholen und auch, damit die Wölfin die beiden Welpen säugen konnte. Da die Wölfin Milch für vier Welpen hatte, jetzt aber nur noch zwei versorgt werden mussten, reichte ihre Milch, um die beiden Kleinen satt zu bekommen, ohne ihnen zusätzlich Fleisch anbieten zu müssen.
Nach einer Weile wurde der Rüde unruhig. Er hatte vor einiger Zeit an einer markanten Stelle die Duftmarke eines fremden Alpharüden bemerkt und wusste, dass sie sich im Revier eines anderen Rudels befanden. Sie mussten dieses Gebiet schleunigst verlassen.
Als sich die Altwölfe etwas erholt hatten, eilten sie deshalb weiter, ohne den beiden Welpen etwas Schlaf zu gönnen.
Die Gefahr, von dem anderen Rudel entdeckt und angegriffen zu werden, war zu groß. Langsam aber stetig zogen sie weiter. Die Welpen wurden jetzt nicht mehr im Maul getragen, sondern trotteten hinter den beiden Altwölfen her. Sie verlangsamten aber natürlich das Tempo und ermüdeten bald.
Notgedrungen legte die kleine Wolfsfamilie deshalb bereits am frühen Abend eine weitere Rast ein.
Die Wölfin säugte noch einmal die vollkommen ausgepumpten Welpen und die konnten sich endlich hinlegen und von den Schrecken und Strapazen dieses Tages erholen.
Im frühen Morgengrauen ging es bereits weiter und wieder bestimmten die langsamen Welpen das Tempo.
So kam es, dass die Wölfe, in deren Revier sie sich befanden, sie einholten.
Plötzlich versperrten ihnen sechs ausgewachsene Wölfe den Weg. An ihrer Spitze ein großer Rüde.
Drohend knurrend näherten die sich der kleinen Gruppe. Während die Wölfin sich breitbeinig über ihre beiden am Boden kauernden Welpen stellte und kampfbereit die Zähne fletschte, stelzte der Rüde hoch aufgerichtet, mit steil aufgestellter Rute, drohend geöffnetem Maul und gezeigten Zähnen auf den fremden Leitwolf zu. Er machte dem fremden Rüden damit eindeutig klar, dass er um das Leben seiner Wölfin und seiner beiden Welpen kämpfen würde.
Der Leitwolf des fremden Rudels hatte jedoch eigentlich keine große Lust auf einen Kampf. Durch das Feuer in der Nachbarschaft waren viele Tiere in ihr Revier geflohen und sie hatten reichlich Beute gemacht. Sein Rudel war satt und zufrieden. Sie waren zwar den beiden in ihr Revier eingedrungenen Wölfen zahlenmäßig weit überlegen, aber so wie die beiden sich darstellten, würde es ein harter Kampf werden. Dabei würde sicherlich auch sein Rudel nicht ungeschoren davonkommen.
An der Körperhaltung des fremden Leitwolfes erkannte der Rüde, dass dieser nicht unbedingt kämpfen wollte. Also signalisierte auch er, dass er nachgeben würde, senkte seine Rute und bog seinen Hals mit gesenktem Kopf und angelegten Ohren zur Seite.
Dann drehte er sich um, schnappte sich einen der Welpen und rannte davon; die Wölfin mit dem anderen Welpen im Maul rannte hinterher.
Das fremde Rudel ließ sie ziehen, auch wenn die Drohung ihres Auftauchens unmissverständlich war:
Verschwindet auf der Stelle aus unserem Revier.
Und so rannten die Altwölfe wieder. Nach einer Weile setzten sie die beiden Welpen auf den Boden und liefen in zügigem Trab vor ihnen her. Die Kleinen folgten keuchend. Auch sie spürten die Gefahr, mobilisierten ihre letzten Reserven und hielten das Tempo der Altwölfe durch.
Erst gegen Abend, als der Rüde sicher war, das Gebiet des anderen Rudels verlassen zu haben, machten sie die nächste Rast. Sie waren in den letzten Stunden ständig bergauf gelaufen und befanden sich jetzt in einem kleinen Tal in den Bergen. Die beiden Altwölfe waren müde und ausgepumpt und die beiden Welpen vollständig am Ende ihrer Kräfte. Immer noch keuchend tranken sie noch etwas Milch und fielen dann sofort in einen tiefen Schlaf der völligen Erschöpfung.
Es war klar, für die beiden Welpen reichte die Milch nicht, um sie für diese Strapazen bei Kräften zu halten und auch die Altwölfe mussten dringend etwas fressen.
So war es unvermeidlich, dass die beiden Altwölfe in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages die beiden Welpen allein ließen, um auf die Jagd zu gehen. Die Wölfin drückte sie vorher in ein Versteck und befahl ihnen damit, dort zu verharren.
Wolfswelpen sind aber neugierig, übermütig und tatendurstig. Schon nach einer kleinen Weile krochen sie aus ihrem Versteck heraus und begannen, die Umgebung zu erkunden.
Von der Erschöpfung des Vortages hatten sie sich einigermaßen erholt und so spielten sie miteinander, jagten und balgten sich und waren, trotz der Abwesenheit ihrer Eltern, bester Laune.
Der kleine Rüde fand ein altes abgenagtes Stück Kochen, zeigte es seiner Schwester und lief mit ihm im Maul davon. Seine Schwester rannte hinterher, um ihm das Stück abzujagen. Und beide ahnten die Gefahr nicht, die auf sie zu schlich.
Ohne jede Vorwarnung sprang plötzlich ein Luchs von einem Felsen hinunter, packte die kleine Wölfin und biss ihr das Genick durch.
Noch während seine Schwester starb, rannte der kleine Rüde wieder um sein Leben. Er wusste genau, dass nur noch schnelle Flucht ihn retten konnte. Als er nach einer Weile merkte, dass er nicht verfolgt wurde, hielt er an und suchte sich ein Versteck, kroch hinein und blieb dort keuchend liegen.
Erst nach einer ganzen Weile beruhigte er sich wieder und versuchte, sich zu orientieren. Zu dem Versteck von heute Morgen konnte er nicht zurück. Aber wie sollte er seine Eltern wieder finden? Zu heulen, um sie auf sich aufmerksam zu machen, wagte er nicht:
Der Luchs konnte ja noch in der Nähe sein und sein Heulen würde ihn unweigerlich zu ihm führen.
So irrte er eine Zeit lang im Tal umher. Als die Sonne immer tiefer sank und schließlich unterging, wühlte er sich einen Eingang in ein dorniges Gestrüpp und kroch hinein. Hungrig und einsam verbrachte er eine unruhige Nacht. Immer wieder schreckte er hoch, lauschte und sehnte sich nach der Wärme und der Nähe seiner Mutter und nach der Sicherheit, die sie und der Rüde für ihn bedeuteten.