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DIE LEHRERIN

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Gestern habe ich ein ganz nettes, bedeutungsvolles Genrebildchen gesehen. Da steht in der Gasse gegenüber meinem Fenster ein etwas baufälliges Haustor weit offen. Dahinter gähnt ein dunkler Flur. Vor dem Tor steht ein kleines, etwa vierjähriges Bübel, an dem man es wieder einmal so recht deutlich sehen konnte, daß der Mensch aus Erde und Lehm gemacht ist. Der Kleine benützt das Tor als Schreibtafel. Der rechte Zeigefinger dient ihm als Feder. Auf dem Boden in einem Grübchen ist Straßenkot zu Brei gerührt; das ist die Tinte, in die der Junge dann und wann die Feder taucht. Er hat im Eifer des Schreibens die Zunge ängstlich zwischen die Zähne geklemmt und schielt immer wieder kleinverzagt nach hinten.

Ein etwa fünfjähriges Mägdlein sitzt ängstlich zusammengeduckt auf dem Wehrstein nebenan und hält die Hände, zwei liebweichpatschige, schmutzige Pfötchen, nach braver Schülerart schön flach auf einen umgestürzten blechernen Margarinkübel. Auch sie wendet gleich dem Knaben immer wieder ihr herziges Köpfchen in halber Wendung furchtsam nach rückwärts. Denn die Kinder spielen Schule, und hinter ihnen lauert die gestrenge Lehrerin. Es ist ein barfüßiges Mädel von etwa sieben Jahren, mit einem dünnen, semmelblonden Zöpfchen. Sie hatte neben sich ein Strickzeug liegen, aber weiß Gott, sie kommt nicht dazu, eine einzige Masche zu fassen. Immer wieder springt sie auf und langt nach dem Haselstäbchen. Bemüht sich auch, als Lehrerin ein gutes Schriftdeutsch zu sprechen:

»Was? Dös soll ein Haarstrich sein?« schreit sie den Knaben vor der Tafel an. »Du Fratz! Ich werde es dir lernen!« Und das Haselstäbchen saust unbarmherzig über die kleinen Finger.

Armes Bübel! Mit solcher Feder und solcher Tinte soll er auf dem alten Tor Haarstriche machen. Nichts ist der Lehrerin recht. Sie sitzt da und lauert auf Fehler und Ungehörigkeiten, wie ein Jäger auf den Fuchs. Das Stäbchen in ihrer Hand sucht nach lebendiger Betätigung. »Habe ich es dir nicht alm gesagt, du sollst die Hände gerade halten!« herrschte sie das brave Kleine auf dem Wehrstein an. »Wart, Fratz! Ich werde dich learnen!« Und das Stäbchen saust auf den Margarinkübel nieder, daß es dröhnt. Die Kleine hat ihre Pfötchen zum Glück noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht und befleißigt sich jetzt nur noch ängstlicher einer musterhaften Haltung. Die Lehrerin nimmt nun summarisch die ganze Klasse vor:

»Ihr unkulidivierten Fratzen! Ihr verbütert mir mein ganzes Löben!« Kein lieber Zug ist an dieser Kleinen, alles streng und mitleidlos. Ich kenne das Mädel. Es ist sonst gut und sanft, aber es kopiert da offenbar seine eigene Lehrerin. So tat sich mir in dem simplen Spiel der Kinder ein getreues Widerbild einer kleinen Tiroler Dorfschule auf mit seiner ganzen trostlosen Dürre und Härte.

Die zwei kleinen Schüler haben sich ebenso wie die Lehrerin mit der ungeheuren Kraft der Kinderphantasie ganz und voll in das Milieu hineingelebt. Ganz devot und unterwürfig lassen sie alle Schelte und Schläge über sich ergehen, trauen sich nicht zu mucksen und zucken jedesmal schmerzlich zusammen, wenn die Lehrerin wieder nach dem Stäbchen langt. Sie versuchen alles ja nur recht gut und schön zu machen, aber was hilft’s? Wer sucht, der findet! Die Lehrerin hat schon wieder einen Anhaltspunkt gefunden, das schmutzige Händchen der Kleinen. Gott sei Dank, das Haselstäbchen bekommt wieder Arbeit. Die Lehrerin besah vorerst ihre eigene Hand, die auch nicht gerade sauber war. Sie spuckte heimlich darauf und wischte sie an ihrem Röcklein verstohlen aus dem gröbsten Schmutz heraus. Dann stürzte sie auf das Kleine los und riß ihr das Patschhändchen in die Höhe:

»Du Schmutzfink! Ich werde dir learnen, die Hände waschen!«

Dann schalt sie wieder mit dem Knaben vor der Tafel:

»Tut man mit der Hand die Tafel abwischen? Siechst du nicht den Schwamm, du Racker?«

Sie wies auf einen alten, rotwollenen Fetzen, der an dem Tor hing:

»Du hast den Schwamm nicht amal ausgewascht? Marsch zum Brunnen und mache den Schwamm guet naß! Und du, Schmutzfink, wasche dir die Händ, sonst schlage ich dich mausgageltot!«

Sie stieß die Kleinen mit harter Faust gegen den Brunnen zu und gab jedem noch einen Streich mit auf den Weg.

Die beiden watschelten mit ihren kurzen Beinchen furchtsam enge aneinandergeschmiegt dem Brunnen zu und wuschen und scheuerten und hatten ja gut acht, nur alles recht gut zu machen! Wohl zwanzigmal taucht die Kleine ihre Patschhändchen tief in den Brunnen, bis sie ganz rotblau waren vor Kälte. Aber was half’s? Wer sucht, der findet! Die Lehrerin stand unter dem Tor und schrie ihnen zu:

»Macht man es so? Zehn Minuten von der Schule ausgeblieben! Ihr Fratzen! Ich werde enk learnen!«

Und sie schwang viel verheißend das Haselstäbchen den angstvoll näher kommenden Kindern entgegen.

Aber da langte plötzlich ein langer, dürrer, brauner Schicksalsarm aus dem Dunkel des Hausflurs nach der Lehrerin, faßte sie hinten beim blonden Schopf und zog sie hinter das Tor. Ich hörte eine kreischende Stimme, sie gehörte wohl der Mutter an:

»Hab i nit gsagt, du sollst stricken?«

Dann vernahm ich ein dumpfes Pitsch-Patsch und das gellende Geschrei der Lehrerin.

Im Nu war die kleine Schulwelt zerstört, die sich die Kinder unter dem Haustor aufgerichtet hatten.

»O je«, lachten die beiden Kleinen. »Die Lehrerin kriegt Schlag!« Und liefen lachend davon.

Ich aber mußte lange Zeit noch an die wirkliche Lehrerin der kleinen Lehrerin denken. Ich kenne sie nicht und kenne sie doch!

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