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Grafschaft Vaduz
ОглавлениеDie folgenden Gegenden hat ein anderer deutscher Dichter beschrieben, und keiner der unberühmtesten. Nachdem nämlich der Rhein Graubünden, seine Geburtsstätte, verlassen hat, bespült er links, schon von Pfäfers abwärts, St. Gallen, einen Kanton der Schweiz, rechts eine zum politischen Verband Deutschlands gehörige freie Grafschaft, deren Namen die Überschrift angibt. Sie bildet einen für sich bestehenden Staat, den man mit Unrecht als Fürstentum Liechtenstein aufführt, bloß weil er von dem Fürsten von Liechtenstein beherrscht wird, der diesen Namen von anderen mediatisierten Besitzungen empfing. Als Besitzer der freien Grafschaft Vaduz, die das Glück hat, selbst auf Spezialkarten unbemerkt zu bleiben, ist der Fürst von Liechtenstein souveränes Mitglied des Deutschen Bundes so gut als der König von Preußen und der Kaiser von Österreich und hat wie diese Sitz und Stimme im Plenum der Bundesversammlung.
Der Leser hat sich unterdes besonnen, welcher deutsche Dichter wohl die Grafschaft Vaduz beschrieben habe, und tippt jetzt auf unseren zu früh verstorbenen Wilhelm Hauff, dessen Roman »Lichtenstein« aber in anderen Gegenden spielt. So leicht war auch unser Rätsel nicht zu lösen: der Dichter, den wir meinen, hat dieses Ländchen beschrieben, ohne es zu nennen, und wenn wir seinen Namen hersetzen – er heißt Goethe –, so bleibt dem Leser immer noch zu raten, in welchem seiner Werke sich diese Beschreibung finde. Wir müssen ihm zu Hilfe kommen, denn obgleich wir ihm zutrauen, daß er seinen Goethe aufmerksam gelesen habe, so riete er doch vielleicht auf »Hermann und Dorothea«, auf die »Wahlverwandtschaften« oder ein anderes naturschilderndes Werk des Dichters und verfiele eher auf die Novelle »Wer ist der Verräter?« als auf die namenlose, welche das 15. Bändchen der Ausgabe letzter Hand enthält. Mit dieser noch nicht genug gewürdigten Erfindung hat sich der Dichter viele Jahre lang getragen. Die Idee dazu faßte er bald nach Vollendung seines »Hermann«, wie aus dem Briefwechsel mit Schiller hervorgeht. Er zweifelte aber, ob sich der Gegenstand mehr zur epischen oder zur lyrischen Behandlung eigne, ja einmal äußert er die Besorgnis, das eigentlich Interessante des Sujets möchte sich zuletzt gar in eine Ballade verflüchtigen. Schiller riet ihm zu gereimter, strophenweiser Behandlung. Später enthält der Briefwechsel kein Wort mehr über diese Angelegenheit. Vermutlich hat Goethe erst nach dem Tode seines Freundes den alten Plan wieder hervorgesucht, der sich ihm jetzt zur Novelle gestaltete. Diese spät gezeitigte Frucht des Goetheschen Lebensbaums ist eine der köstlichsten und süßesten. Mehr darüber zu sagen ist hier nicht der Ort; wenn wir aber den Beweis liefern sollen, daß Vaduz der gewählte Schauplatz sei, so müssen wir den Leser ersuchen, einen Blick in die Novelle zu werfen. Wir sehen einen Fürsten und eine Fürstin in einem Schloß residieren, das in einiger Höhe über dem Ort, jedoch tief unter den hohen Ruinen der alten Stammburg liegt. Der Ort wird zwar eine Stadt genannt, da doch Vaduz nicht viel mehr als ein Flecken ist; aber es fragt sich, ob der Dichter nicht Ursache hatte, in diesem einen Punkt, der vielleicht befremdet hätte, von der Wirklichkeit abzuweichen. Alles Übrige stimmt überein. »Der Weg«, heißt es ferner bei dem Lustritt nach der Stammburg, »führte zuerst am Fluß hinan, an einem zwar noch schmalen, nur leichte Kähne tragenden Wasser, das aber nach und nach als größter Strom seinen Namen behalten und ferne Länder belegen sollte.« Wer sieht nicht, daß der Rhein gemeint ist? Sigmaringen, das einzige Fürstentum, das die Donau durchfließt, hat keine Stammburg wie die geschilderte. Wenn aber der Rhein gemeint ist, so liegt kein anderes Fürstentum an dem noch schmalen, nur leichte Kähne tragenden Fluß.
Was ist aber hiermit für den Dichter oder für die Gegend gewonnen? Für den Dichter nichts, als daß wir sehen, wie er eine schöne, durch Natur und Geschichte verherrlichte Gegend in sich aufzunehmen und verschönert wieder hervorzuzaubern verstand. Für die Gegend viel, denn sie kann nur gewinnen, wenn wir sie mit den Augen des Dichters betrachten. Goethes eigentümliche Gabe zu landschaftlichen Schilderungen ist schon öfter bemerkt worden, ein geistreicher Franzose schreibt ihm deshalb ein panoramisches Talent zu; ein Ausdruck, an dem der Dichter seine Freude nicht verbergen konnte. Aber nirgends tritt dieses Talent außer in »Hermann und Dorothea« glänzender hervor als in der fraglichen Novelle. Wie anschaulich wird uns z. B. die alte Stammburg geschildert. Doch wir widerstehen der Versuchung, die Stelle mitzuteilen.