Читать книгу Erich. Oder: Der Tag, den Angela M. nie vergessen wird - Karsten Flohr - Страница 7
Оглавление2. Kapitel
„Wir müssen jetzt mal die Hose wechseln.“
„Ja“, ruft Trude Kranich, „ich komme gleich! Das wird schon nicht weglaufen.“
„Nein, nicht weggelaufen. Man hat ihn geklaut! Ge-stoh-len …“
„Was soll ich holen?“
Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern geht seufzend in die Knie, um die Vorlagen unten im Küchenschrank zu verstauen. Natürlich ist das unpraktisch, das ist ihr klar, viel besser lägen die Dinger im Schlafzimmerschrank, dann hätte sie einen kürzeren Weg, wenn sie nachts hoch muss, um Hubertus trocken zu legen. Aber er bekommt jedes Mal einen Wutanfall, wenn er an den Kleiderschrank geht, um seine Krawatten zu inspizieren und dabei sein Blick auf die Pakete fällt.
Deshalb ist sie dazu übergegangen, sie in der Küche zu verwahren. Hier kommt er nie hin, denn die Tür ist für seinen Rollator zu schmal. Sicher, mit etwas Geschick und Wendigkeit könnte man ihn hindurch manövrieren, aber darüber verfügt Hubertus nicht mehr. Eigentlich widersinnig, findet Trude, die Küchentür sollte die breiteste in der Wohnung sein! Man würde dann mit dem Essentablett frontal hindurchgehen können, anstatt sich seitlich hindurchzuzwängen. Neubau halt, denkt sie, so ist das heute. Wir hätten in der Altbauwohnung bleiben sollen mit den schön breiten Türen. Aber dort wohnen jetzt die Enkelkinder mit ihren Kindern, sie können den Platz gut gebrauchen.
Wutanfall ist genau genommen nicht das richtige Wort. Hubertus Kranich hat eigentlich noch nie im Leben einen Wutanfall gehabt. Es ist etwas anderes bei ihm, eine Art Starre, bei der er die Fäuste ballt, den Kopf in den Nacken legt und kleine, hohe Töne ausstößt. Das kann bis zu einer Minute dauern. Anschließend ist er vollkommen erschöpft und der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Manchmal lässt er dabei den Rollator los, was dazu führt, dass er das Gleichgewicht verliert und auch schon mal zu Boden fällt.
Abgesehen von diesen „Momenten“, wie Trude Kranich es nennt – Hubertus hat heute wieder einen Moment gehabt, sagt sie, wenn sie jemandem davon erzählt, zum Beispiel abends am Telefon, wenn sie mit ihrer Tochter spricht –, ist er ein durch und durch friedlicher Mann. Deshalb hat sie ihn überhaupt geheiratet, damals gleich nach dem Krieg. Die jungen Männer aus der Nachbarschaft gebärdeten sich laut, großspurig und betont sorglos, wenn sie Heimaturlaub von der Front hatten, so als würden sie für die Wochenschau gefilmt und wollten zeigen, welch ganze Kerle der Krieg aus ihnen gemacht hatte. Anders Hubertus: Er hielt sich still abseits, war höflich und zuvorkommend, sagte Bitte und Danke und rührte keinen Alkohol an.
Dass er der Richtige für sie sein könnte, dämmerte Trude, als sie eines Tages im Luftschutzkeller beobachtete, wie er für mehrere verstörte Kleinkinder aus seiner Pelerine ein Zelt machte, um sie vor dem herabrieselnden Mörtel zu schützen. Trude kommen jedes Mal die Tränen, wenn sie sich daran erinnert, auch heute noch.
Das Zeltbauen wuchs sich dann später zu einer Leidenschaft aus, wenn Hubertus zum Beispiel bei strömendem Regen mit seinen eigenen Kindern im Garten unter der Zeltplane saß und sie zusammen Regen-Lieder sangen, die er selbst erfunden hatte. Es gab Zeiten, in denen die Kinder hofften, am Wochenende würde es regnen, nur damit er wieder mit ihnen das Zelt aufbaute und sang. In Trudes Erinnerung regnete es oft damals.
Auch in den Aufbaujahren war Hubertus anders als die anderen. Während die meisten Männer ihre Energien, die sie zuvor in die Errichtung eines Weltreiches investiert hatten, nun in das Wirtschaftswunder umleiteten und sich dafür mit Autos, Fernsehern und Rasenmähern belohten, erwachte sein Interesse für die Kriegsgräberfürsorge. Gemeinsame Reisen nach Frankreich, Spanien und Nordafrika, aber auch in die deutsche Provinz, wo es französische, spanische und afrikanische Gräber zu pflegen gab, gefielen Trude. Und während sie ehrenamtliche Helferin wurde, die Basare und Spendenaktionen organisierte, stieg er hauptamtlich ein. Nach wenigen Jahren wurde er Vorsitzender des Kriegsgräber-Verbandes.
Und dann kam als nächster, folgerichtiger Schritt die Entwicklungspolitik. Auch hier bekleidete Hubertus in kürzester Zeit wichtige Ämter; Konferenzen überall in der Welt, zu denen er Trude oft mitnahm, wurden Routine. Einmal wurde ihm sogar die Präsidentschaft des Roten Kreuzes angeboten, was er ablehnte. Dort seien zu viele Altnazis untergeschlüpft, fand er.
Sein Name wurde bekannt, Hubertus Kranich war häufig in der Zeitung zu sehen, er avancierte zum neuen guten Gesicht der Deutschen, war überall auf der Welt willkommen und nahm nie auch nur ein einziges Bestechungsgeschenk an. Nur einmal – eine Reise nach Ruanda, an der Trude wegen der ersten Schwangerschaft nicht teilnehmen konnte – brachte er etwas für sie mit: Ein Elefantenhaararmband, das er am Flughafen Köln-Bonn gekauft hatte.
Als Beate, das erste Kind, zur Welt kam, weilte Hubertus in Dänemark bei einer Konferenz über die Bürgerrechte der Grönländer. Er telegrafierte seine sofortige Heimkehr, Trude telegrafierte zurück: Bleib, sie schläft sowieso ständig. Er kam aber trotzdem.
Die rechte Tür des Küchenschrankes geht nicht zu, also nimmt Trude eines der Pakete wieder heraus, richtet sich mühsam auf und geht mit den Vorlagen in der Hand in die Stube. Hubertus spielt inzwischen Tetris. „Also – wer ist geklaut worden?“
„Geklaut? Ich glaube, der Postbote klaut. Mein Päckchen müsste doch schon längst angekommen sein.“
„Was hast du denn schon wieder bestellt?“
„Na ja, heute Morgen, ich weiß nicht mehr. Es war so günstig bei Amazon. Klebeband, glaube ich. Ja, Klebeband!“
„Klebeband.“
„Ja, zum kleben. Ich bin jetzt im siebenten Level!“
„Das ist gut!“
„Jetzt wird’s aber wirklich schwer.“ Seine Finger sausen über die Tasten, und dann ist Schluss – er ist nicht schnell genug gewesen. Er ballt die Fäuste und legt den Kopf in den Nacken. Und dann nässt er ein.
„Nicht ärgern“, sagt Trude, „fang einfach noch mal von vorn an, nachher. Dann schaffst du auch bald das achte Level.“
Sie wartet, bis sein „Moment“ vorüber ist, dann dreht sie seinen Stuhl zur Seite und zieht ihm die Hausschuhe aus. „Wir müssen jetzt mal die Hose wechseln“, sagt sie und stellt das Paket mit den Vorlagen neben sich auf den Boden. Hubertus schließt die Augen und lässt es geschehen.
„Wenn du das Klebeband heute bestellt hast, dann kann es noch nicht da sein, Hubertus. So schnell sind die nun auch nicht. Was willst du denn kleben?“
„Sag nicht Hubertus.“
„Warum nicht?“
„Das sagst du nur zu mir, wenn du böse bist.“
„Ich bin nicht böse. Warum sollte ich böse sein?“
„Das kann man nie wissen.“
Da ist natürlich was dran. Zum ersten Mal hat Trude zu diesem Mittel gegriffen, als sie gemeinsam bei einem Empfang beim Schah von Persien waren – übrigens eine Reise, die Hubertus Kranichs Karriereverlauf einen leichten Knick zugefügt hatte. Aber nur einen leichten, denn kurz danach avancierte er vom Referent im Ministerium für Entwicklungshilfe zum Staatssekretär, nachdem es ihm gelungen war, den Potentaten einer gerade in die Unabhängigkeit entlassenen afrikanischen Republik davon abzubringen, 100 Schulkinder mit der Machete zerstückeln zu lassen, um damit der Welt seine Unabhängigkeit zu beweisen. Hubertus, der wegen eines Brunnenbauprojektes in diesem mit Bodenschätzen reich gesegneten Land weilte, deretwegen die CIA und der französische Militärgeheimdienst rivalisierende Einheimische mit Waffen versorgten und aufeinander hetzten, hatte ihm in einem Vier-Augen-Gespräch klar gemacht, dass vermutlich mehr als jedes zweite der hundert Schulkinder sein eigen Fleisch und Blut war. Der Potentat hielt sich daraufhin an Hühnern schadlos, was der Bevölkerung in den höher gelegenen Regionen des Landes eine Hungersnot bescherte. Aber darüber stand nichts in der Zeitung, und Hubertus wurde in der Presse als Kindesretter gefeiert.
Noch zwei Wochen zuvor war seine Persien-Reise als äußerst fragwürdig angeprangert worden, weil der Mann auf dem Pfauenthron sich offen als Anhänger Hitlers zu erkennen gegeben hatte. Ja, so ist sie, die Presse, hatte Hubertus gesagt.
Für Trude jedoch war etwas anderes vollkommen inakzeptabel, nämlich dass Hubertus während der zweiminütigen Audienz beim Schah die Stirn besessen hatte zu sagen: „Das mit Soraya muss aber noch mal auf die Agenda.“
„Hubertus!“, hatte sie gezischt, ihren Mann am Ellenbogen gepackt und außer Hörweite des Herrscherpaares verbracht, das mittlerweile schon zwölf anderen Besuchern die Hände geschüttelt hatte. Trotzdem befürchtete Trude, dass Farah Diba gehört haben könnte, was Hubertus da gesagt hatte, und erst als das Flugzeug auf der Rückreise nach Bonn abgehoben hatte, legte sich ihre Angst vor einer Last-Minute-Verhaftung. Sie stellte die Rücklehne zurück und entspannte sich. „Du bist mir einer, Kranich“, sagte sie, „sowas kann man da doch nicht sagen!“ Und er atmete tief aus vor Erleichterung darüber, dass sie ihn wieder mit seinem gewohnten Namen ansprach.
„Und was ist mit diesem Hund?“, fragt sie nun. „Wer hat den gestohlen?“
„Der Hund der Kanzlerin – du weißt schon, diese Frau da, wie heißt sie noch? Egal: Kaum waren sie im Kanzleramt eingetroffen heute Morgen, sie und der Hund, da war er weg. Es gab eine riesige Suchaktion.“
„Aber das muss doch nicht heißen, dass er gestohlen wurde. Vielleicht hat er sich verlaufen. Oder er ist in einen Reißwolf gefallen, davon haben die viele im Kanzleramt.“
„Aber dann wäre keine Lösegeldforderung eingegangen …“
Trude erwidert nichts, räumt im Stillen ein, dass das eine gewisse Logik hat, und zieht ihrem Mann die Trainingshose hoch. „So!“, sagt sie, mit kurzem „o“: „So!“
„Was?“
„Alles wieder trocken.“
„Wenn ich doch nur die Klebebänder schon hätte“, greint Hubertus.
„Die kommen morgen. Unser netter Postbote, der macht das“, beruhigt Trude ihn und schlägt sein Bett auf. Es ist ein Krankenhausbett, angenehm hoch. Um aufzustehen, braucht man nur von der Bettkante zu gleiten und schon steht man senkrecht. Und mit Herausfall-Schutz: Ein umlaufendes, abnehmbares Gitter verhindert das Herausfallen des Schlafenden. Es steht im Wohnzimmer mit Blick zum Balkon. „Und jetzt ist Schlafenszeit. Noch eine Runde Tetris, dann wird das Licht ausgemacht.“
„Eine Million wollen die.“
„Wer?“
„Die Entführer.“
„Das muss ja ein toller Hund sein“, sagt Trude und verlässt das Zimmer, nicht ohne ihm eine Kusshand zuzuwerfen.
„Morgen kommt das Klebeband“, murmelt er müde und nimmt Tetris in Betrieb.
Trude setzt sich an den Küchentisch und greift zu ihrer Lieblingszeitung, ein kostenloses Anzeigenblatt mit einigen redaktionellen Beiträgen über Ortsausschusssitzungen, Bebauungspläne und Änderungen der Müllabfuhrzeiten. Sie wendet sich nicht sofort der Rubrik „Verschiedenes“ zu, sondern studiert zunächst die Stellengesuche sowie -angebote, dann die Immobilien und Gebrauchtwagen. Ja, sie will es ein wenig spannend machen. Natürlich möchte sie wissen, ob die Anzeige erneut geschaltet worden ist, aber nicht sofort. Ein wenig Spannung hat sie ganz gern. Erst nach fünf Minuten schlägt sie die Seite auf und entdeckt die Anzeige sofort, wenngleich sie nicht ganz oben in der Rubrik steht, sondern erst an zehnter oder elfter Stelle. Diese Gabe ist Trude schon immer zu eigen. Wenn sie zum Beispiel im Telefonbuch eine Nummer sucht, die zu einem bekannten und also häufigen Namen gehört, findet sie sie auf Anhieb. Oder wenn sie in dem dicken Wörterbuch etwas sucht, muss sie selten öfter als dreimal blättern.
So auch diesmal. „Beagle-Welpe abzugeben, stubenrein, familientauglich, kinderfreundlich, nicht haarend“, liest sie und sieht das kleine Tier prompt vor sich, wie es ihr zu Füßen sitzt und sie mit schräg gelegtem Kopf und feuchten Augen ansieht. Sie bekommt eine Gänsehaut. Es ist klar, dass sie die Nummer des Züchters nicht anrufen wird. Natürlich nicht, wie soll das denn wohl gehen: Hubertus’ Hinfälligkeit gebietet, die Außer-Haus-Zeiten so kurz wie möglich zu halten – nur schnell einkaufen oder zum Friseur und dann zurück nach Haus. Ein junger Hund hingegen verlangt das genaue Gegenteil: Am liebsten den ganzen Tag draußen sein. Das schließt sich diametral aus! Aber die Vorstellung, die wärmt ihre Seele.
Seit sie sich erinnern kann, wünscht sie sich einen Hund. Als Kind – klar, da wäre er der ideale Partner zum Toben gewesen. Aber später ging es um etwas anderes. Lange wusste Trude nicht, um was. Bis ihr klar wurde, dass weder ihre Kinder noch ihr Mann sie je mit diesem Blick bedacht hatten, den ein Hund zu jeder Zeit mühelos hervorzaubern kann. Dieser Blick voller Liebe, Dankbarkeit, Hingabe und Selbstlosigkeit.
Findet sie ihre Kinder undankbar? Natürlich nicht. Sie sind Kinder gewesen wie alle Kinder – der Mutter nah und im nächsten Moment so weit weg, als wären sie auf einem anderen Stern. Es brauchte dafür nicht viel, eine kleine Verlockung nur, ein Erdbeereis vielleicht, das das Nachbarkind in Aussicht stellte, und schon war die Mutter vergessen. Aber waren sie deshalb undankbar oder gar selbstsüchtig? Das zu sagen wäre zweifellos ungerecht. Aber – sie stillten Trudes Zuwendungsbedarf nie zur Gänze, immer blieb ein kleiner, nagender Rest, so wie der Resthunger in den schlimmen Zeiten, dem einfach nicht beizukommen war.
Und Hubertus? Er hatte Trudes Erwartungen übererfüllt, die im Luftschutzkeller geweckt worden waren. So wie er die Welt im Laufe der Jahre mit seiner Hilfs- und Opferbereitschaft für sich einnahm, so umhüllte seine Fürsorge lückenlos seine Familie. Aber auch hier fehlt etwas, Hubertus hat einfach – ja, man muss es so sagen: Er hat keinen Hundeblick.
Sie schüttelt den Kopf über dieses ungehörige aber nagende Gefühl des Fehlens von Irgendetwas. Sie lächelt über die verrückte Hunde-Geschichte, die Hubertus da im Internet gelesen und sicherlich in den falschen Hals bekommen hat, und blättert die „Herzenswünsche“-Anzeigen auf. Hier herrschen noch klare Verhältnisse: Rüstige Rentner bieten ihre starken Schultern an, Witwen mit guter Figur preisen ihre Kochkünste, und hin und wieder sucht eine bezaubernde Krankenschwester nach einer schweren Enttäuschung doch noch den Richtigen, Hauptsache, er ist ehrlich und häuslich.
Trude fällt es nicht schwer, sie sich alle vorzustellen, sie sieht sie förmlich in der Küche stehen und die Hand nach dem Partner ihrer Träume ausstrecken. Nein, da hat sie schon wirklich einen Volltreffer gelandet, sie hat keinerlei Grund zur Klage! Hubertus Kranich – sollte es jemals soweit sein, werden in den Zeitungen Nachrufe stehen, die sich gewaschen haben. Und doch würde keiner der Verfasser wissen, um wen es sich da wirklich handelte: um einen wunderbaren Mann, der sich zum Schluss nichts mehr wünschte, als einmal Level acht zu erreichen.
Sie überfliegt noch schnell den Artikel über die Neugestaltung des Parkplatzes am Wochenmarkt, der gerade lang genug ist, um ihre Vorfreude auf den krönenden Tagesabschluss nicht überzustrapazieren: Das Schlückchen Schlehenlikör, das ihr zuverlässig und ohne Nebenwirkungen wunderbaren Schlaf beschert. Zuerst horcht sie noch kurz in Richtung Stube, wobei sie den Kopf so schräg legt, wie es der Beagle-Welpe vermutlich auch tun würde, um sich davon zu überzeugen, dass Hubertus sich bereits seinem Unterbewusstsein anvertraut hat. Das scheint der Fall zu sein, sein gleichmäßiger Atem spricht dafür, und dem Schlehenlikör steht nichts mehr im Wege.
Als Trude zehn Minuten später im Bett liegt, steif ausgestreckt auf dem Rücken mit auf dem Bauch verschränkten Händen, sitzt das Hundchen auf ihrer Brust und die Partnersuchenden stehen dicht gedrängt in der Tür, die Trude nächtens offen lässt, falls Hubertus nach ihr ruft, und strecken ihr die Hände entgegen.