Читать книгу Erich. Oder: Der Tag, den Angela M. nie vergessen wird - Karsten Flohr - Страница 8
Оглавление3. Kapitel
„Ich weiß alles über Sie.“
Mit einem so großen Paket hat Trude nicht gerechnet. Der Postbote lehnt mit dem Rücken an ihrer Haustür, nachdem er zuvor geklingelt hat, und ringt um Atem, als Trude öffnet.
„Für wen ist das denn?“, fragt sie und deutet auf das mannshohe Paket.
„Wie’s aussieht, hat er wieder was bestellt“, erklärt der Postbote, „der Herr Professor mein’ ich, Ihr Mann.“
„Klebeband“, sagt sie leise.
„Soll ich es in den Flur tragen?“
„Oh ja, also das wäre …“, sagt Trude in der für sie typischen Art, das Verb eines Satzes wegzulassen. Dafür betont sie das Wort davor, in diesem Fall also das „das“. Dies verleiht der Aussage eine spezielle Note, eine besondere Dankbarkeit schwingt darin mit. „Für den Herrn Professor machen wir das doch gern!“, sagt der Postbote, während er starr in Trudes Augen blickt, als sie ihm das Trinkgeld in die Hand legt. So hat man es ihn bei der Post gelehrt: Nie gleich hingucken, um zu sehen, wieviel es ist! Erst, wenn der Kunde nicht mehr guckt. Da es ein Schein ist, ist ihm klar, dass es mindestens fünf Euro sein müssen.
Kurz beschäftigt ihn der Gedanke, was die alten Leutchen wohl in der Wohnung mit dem Riesenpaket machen und wie sie es öffnen werden. Und was sie anschließend mit der Verpackung machen. Alles das sind wichtige Fragen, zweifellos, aber er muss weiter.
Seit er und seine Kollegen mit Autos ausgestattet worden sind, hat die Schlepperei erheblich zugenommen. Ein solches Paket wie das für die Kranichs wäre auf dem Fahrrad nicht transportabel und somit ein Fall für den Paketboten gewesen. Heute machen die Briefträger diese Arbeit nebenbei mit und viele sind ganz und gar nicht damit einverstanden. Ahmed hingegen stört es nicht, er fährt gern das gelbe Elektroauto und hat den Fahrerraum wie ein Wohnzimmer eingerichtet: Am Rückspiegel hängt seine Gebetskette, am Armaturenbrett sind Fotos seiner Mutter, seines Vaters und seiner Schwester angebracht, die zwar noch in Marokko leben, die er aber spätestens im nächsten Jahr nachholen will.
Ahmed hat den Postjob nicht nur, um sein Ingenieurstudium zu finanzieren, sondern auch, um Geld für die Reise seiner Familie zu sparen. Seine Zwei-Zimmer-Souterrain-Wohnung ist geräumig genug für sie alle, bietet mehr Platz als das baufällige Loch in Marrakesch, in dem er seine ersten 20 Lebensjahre verbracht hat.
Und man muss auch sagen: Die Trinkgelder haben sich deutlich erhöht, seit Pakete dazu gehören, zumindest bei bestimmten Kunden wie den Kranichs. Die meisten geben natürlich gar keines – wozu auch, die Post ist irgendwie selbstverständlich, da braucht man nichts zu geben. Aber ältere Herrschaften sehen das manchmal anders.
Und Ahmed gefällt es, dass er sicher vor Pöbeleien oder Zurechtweisungen ist, wenn er mit seinem Auto quer auf dem Bürgersteig parkt, die schmalen Einbahnstraßen versperrt oder lange Staus verursacht. Schließlich ist er der Postbote! Man kann sagen, dass die Tage des Postaustragens – Ahmed arbeitet von Dienstag bis Donnerstag – ihn für das Gefühl entschädigen, nicht zu den tonangebenden Personen der Stadt zu gehören. Er ist assimiliert, keine Frage. Sein Deutsch ist flüssig, wenn auch hart und guttural, seine Bekleidung westlich. Nur der Gebetskranz, den er stets in der Hand dreht, fällt aus dem Rahmen und manchen auf die Nerven.
Auch dafür, die vorgeschrieben Gebete gen Mekka abzuhalten, ist das Auto sehr geeignet. Ahmed macht einfach für einen Moment von innen die Tür des Laderaums zu, rollt seinen Gebetsteppich aus, kniet nieder und verneigt sich Richtung Süd-Osten. Er hat dafür einen Kompass in der Hosentasche, denn es ist schwierig, in den Häuserschluchten die genaue Himmelsrichtung zu bestimmen. Aber Ahmed ist ein Pedant, Richtung und Uhrzeit der Gebete stimmen immer.
Deshalb hat er es eilig, von der Wohnung der Kranichs zu seinem Auto zu kommen: Es ist ein Gebet fällig. Aber noch etwas anderes treibt ihn an: Er will auf keinen Fall nach elf Uhr bei IHR sein, er hat schon gesehen, dass ein Briefumschlag für SIE dabei ist, und den will er ihr eigenhändig überreichen, wenngleich er natürlich auch in den Briefkasten gepasst hätte. Aber seit er sie vor zwei Monaten in ihrem Morgenrock gesehen hat, als sie die Tür einen Spalt breit öffnete, um ein Päckchen entgegenzunehmen, ist er getrieben von dem Wunsch, dieses Erlebnis zu wiederholen. Aber er weiß seit ihrer ersten Begegnung, dass er sie nach elf nicht antreffen wird. Denn dann geht sie aus dem Haus.
War es wirklich eine Begegnung? Für Ahmed auf jeden Fall. Es waren fünf Sekunden gewesen, in denen er sie sah – sie war ungekämmt, ungeschminkt und ihr Gesicht war noch vom Kopfkissen gezeichnet, auf dem sie offenbar zuvor gelegen hatte –, aber was für fünf Sekunden! Ihre Augen, die zuerst auf das Päckchen gerichtet waren, das er ihr entgegen hielt, und dann für einen Moment in sein Gesicht blickten, hatten ihm signalisiert, dass sie etwas Besonderes war: in seinem Alter, also Mitte zwanzig, vielleicht ebenfalls Studentin – wieso schlief sie sonst so lange? –, vielleicht ebenfalls auf der Suche. Aber das brauchte sie jetzt nicht mehr zu sein: Ihre Augen hatten ihm innerhalb von fünf Sekunden verraten, dass sie füreinander bestimmt sind. Sie wusste es zwar noch nicht, aber er wusste es.
Fünfmal hat er sie seither gesehen, allerdings nicht mehr im Morgenmantel und ungeschminkt, und es war immer vor elf Uhr gewesen. Nach elf ist niemand mehr zuhause und er muss die Post in ihren Briefkasten werfen. Aber er ist sich sicher, dass sie lächelt und an ihn denkt, wenn sie sie später herausnimmt.
Nun also erst einmal ein schnelles Gebet im Postauto und dann den Häuserblock zu Ende bedienen, bevor es zu ihr geht. Es sind noch elf Treppenhäuser, und gleich im ersten lebt unten links die ägyptische Familie, die ihre Haustür stets eine Handbreit offen lässt. Anfangs hatte Ahmed geglaubt, das Schloss sei kaputt, aber es hat einen anderen Grund. „Meine Schwiegermutter glaubt, ersticken zu müssen“, hatte ihm die Frau des Hauses einmal erklärt, nachdem er geklopft hatte und die Tür dabei leicht aufschwang, „sie stammt vom Lande, sie braucht das Gefühl, jederzeit ins Freie zu können.“ Die Frau hatte Ahmed gleich in ihre Küche gezogen, wo die Schwiegermutter am Tisch saß und Kartoffeln schälte. „Ich bin ihre dritte Schwiegertochter“, sagte die Frau, „ihre sechs Söhne sind alle gut verheiratet. Ich habe nur eine Tochter, aber insgesamt hat sie vierzehn Enkelkinder. Alle leben hier in der Stadt.“
Ahmed hatte höflich genickt und nicht gewusst, was er mit dieser Information anfangen sollte. Er schickte sich unter Verbeugungen an, den Weg zurück zum Treppenhaus anzutreten, wurde aber am Ärmel festgehalten. Es war die Alte, die eine Hand ausgestreckt hatte und sagte: „Sie ist die schönste meiner Enkelinnen. Du solltest sie mal sehen.“
„Ja gern“, hatte Ahmed gesagt, „im Moment bin ich in Eile. Ich komme darauf zurück.“
Das hatten die beiden Frauen ernst genommen, denn jedes Mal, wenn er nun ihren Hauseingang betrat, winkten sie ihn herein. Wenn er darauf hinwies, dass er diesmal keine Post für sie hatte, sagten sie: „Das macht nichts, wer erwartet schon jeden Tag Post, nicht wahr? Fatima müsste gleich kommen, wenn Sie eine Tasse Tee möchten …?“
Er hatte es nicht über sich gebracht, sie einfach stehenzulassen, und war ihnen in die Küche gefolgt, aber Fatima erschien nicht. „Sie wird aufgehalten worden sein“, entschuldigten sich die Frauen und schlugen vor, einen Termin zu vereinbaren, eine Verabredung sozusagen, damit er und Fatima sich nicht ständig verpassten. Bisher war es ihm gelungen, dies zu vermeiden.
Heute jedoch steht sie vor der angelehnten Tür und scheint auf ihn zu warten: Fatima. Die Großmutter hat nicht übertrieben. Die dunklen Augen, die ihn aus dem Kopftuch hervor ansehen, verraten ihre Schönheit. „Ich habe eine Bitte“, sagt sie und winkt ihn zu sich heran, „wenn Sie mich kurz anhören würden …“
Die Höflichkeit verbietet Ahmed, die Bitte auszuschlagen.
„Ich weiß alles über Sie“, sagt sie, als er vor ihr steht. „Meine Mutter und meine Großmutter erzählen mir täglich von Ihnen, sie schwärmen von Ihnen. Ich weiß nicht, was Sie ihnen alles erzählt haben, aber Sie sollten damit aufhören. Dass Sie in Marokko aus einer der ersten Familien stammen und in dieses Land gekommen sind, um eine treue und ergebene Braut zu finden. Und dass Sie eigentlich nicht zu arbeiten bräuchten, weil Sie genug Geld haben, es aber trotzdem tun, um das Leben der einfachen Menschen zu studieren. Und dass Sie glauben, ich sei die Richtige für Sie. Bitte erzählen Sie den beiden keine weiteren Dinge dieser Art …“
„Aber“, unterbricht Ahmed sie, „ich versichere Ihnen, ich habe nur …“
„Auch das haben sie mir erzählt – dass Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen und nicht möchten, dass alles über Sie bekannt wird, weil es wichtig ist, dass Ihre künftige Braut Sie um Ihrer selbst Willen …“
Ahmed hebt beide Hände. „Ich bitte Sie, nichts von dem habe ich je gesagt! Sie glauben doch nicht …“
„Ja, Sie sind genauso, wie meine Mutter und meine Großmutter mir erzählt haben. Sie brennen darauf, dass wir uns kennen lernen. Aber ich möchte, dass wir es bei dieser Begegnung bewenden lassen, ich bin nicht …“
„Ich weiß, ich weiß“, sagt er, „mir haben sie auch von Ihnen vorgeschwärmt. Wie tugendhaft und folgsam Sie sind, wie häuslich und ergeben. Aber das ist nicht das, was ich …“
„Dann sind wir uns ja einig“, sagt sie, verschränkt die Arme und legt den Kopf in den Nacken. „Bitte beschränken Sie Ihre Anwesenheit in diesem Haus künftig auf das Verteilen der Post.“
Erleichtert pflichtet er ihr bei. Sie wendet ihm den Rücken zu, geht in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich.
Ahmed steigt hinten in den Postwagen ein und verneigt sich besonders tief gen Mekka. Diese Augenblicke helfen ihm immer, wenn er verwirrt ist. Der Glaube selbst gibt ihm nicht viel, aber die Augenblicke der Kontemplation beim Niederknien wirken Wunder. So kommt er voller Energie nach zwei Minuten wieder aus dem Postauto heraus und holt die versäumte Zeit mühelos auf, sodass er noch vor elf Uhr IHR Treppenhaus erreicht.
Aber welch ein Aufruhr erwartet ihn hier! Die Bewohner des Hauses stehen im Treppenhaus und sind in heller Aufregung. Sie recken die Hälse und sehen nach oben. Es sind, wie Ahmed nachzählt, vierzehn Mieter, die von irgendetwas daran gehindert werden, die Treppen hinaufzugehen. „Tja, Mohammed, kannst wieder umkehren, hier geht nix vor und nix zurück“, sagt der alte Herr Kammertöns, der im zweiten Stock wohnt. Er hat eine Brötchentüte sowie die Zeitung in der Hand. „Mein Frühstück dürfte heute ausfallen.“ Ahmed ist nicht in der Stimmung, Herrn Kammertöns darauf hinzuweisen, dass er nicht Mohammed heißt. Er beschließt, es zu übergehen. Heute gibt es Wichtigeres zu tun.
„Wenn’s das nur ist“, zetert die junge Mutter aus der dritten Etage. „Mein Baby ist allein in der Wohnung, ich hab nur kurz den Wagen umgeparkt, und jetzt kann ich nicht mehr rauf.“
Von oben ertönen jetzt schabende Geräusche, untermalt von Ächzen und Stöhnen. „Die sind jetzt im zweiten, in den fünften müssen sie noch“, erklärt Herr Kammertöns und faltet seine Zeitung auf. „Das mit dem Hund ist ja wohl das Allerletzte …“, sagt er, nachdem er eine Weile gelesen hat
„Was ist denn da oben?“, fragt Ahmed.
„Die Bertolds kriegen ein Klavier“, erklärt eine ältere Dame. „Und jetzt steckt das Ding auf der Zwischenetage fest.“
Wie zur Bestätigung erklingt ein gespenstischer Akkord und übertönt die Flüche eines der Möbelpacker, dem das Instrument offenbar aus der Hand gerutscht ist. „Mein Bein, mein Bein“, jammert er, „Scheißding!“
Ein Handy klingelt. Einer der Möbelpacker meldet sich. „Nein, Chef“, sagt er, „nein, geht nicht. Völlig verkeilt. Und Igor hat sich gerade das Schienbein aufgehauen. Es müssen mehr Leute her.“
„Oh nee, nä?“, stöhnt die junge Mutter, „jetzt schreit er auch noch!“ Man hört von oben das zarte Meckern eines Säuglings.
„Also, der Hund heißt tatsächlich Erich“, sagt Herr Kammertöns und blickt über den Rand der Zeitung. „Wussten Sie, dass die Frau überhaupt einen hat? Ich nicht.“
„Musste erst entführt werden“, sagt jemand, den Ahmed nicht sehen kann, weil er etwas weiter hinten steht. „Wieviel wird denn verlangt?“
„Eine Million“, erwidert Herr Kammertöns, „oder der Hund stirbt.“
„Was ist das denn für einer?“
„Ein Beagle. War doch gestern schon in den Tagesthemen zu sehen. Hübsches Tier. Aber eine Million …?“
Ahmed räuspert sich. „Ich müsste da mal nach oben“, sagt er, „Einschreiben.“ Er hält einen Briefumschlag in die Höhe.
„Hast du keine Augen im Kopf, Mohammed?“, fragt Herr Kammertöns, „nichts geht mehr! Gib ihn mir, ich händige ihn später aus. Für wen ist er denn?“
Jetzt wird Ahmed doch etwas ärgerlich. Er schüttelt den Kopf, presst dem Umschlag gegen seine Brust und sagt: „Erstens ist mir nicht bewusst, dass ich Ihnen das Du angeboten habe, und zweitens heiße ich nicht Mohammed!“
Herr Kammertöns hört ihm gar nicht zu. „Und hier!“, ruft er, stößt ein gurgelndes Lachen aus und wedelt mit der Zeitung, als wolle er Sand herausschütteln, „Erich ist nur sein Kosename! Er heißt Randolph von dem Knesebeck. Ein echter Rassehund!“
„Wie alt ist er?“, fragt jemand.
„Elf.“
„Das kann doch nicht sein, dass man jetzt erst davon erfährt! Elf Jahre lang hat die den schon?“
Nun ertönen Rufe von oben, eine Frauenstimme.
„… ist mir doch egal“, sagt sie. „Ich muss da rüber. Jetzt! Ich hab’s eilig.“
„Nicht drüberklettern!“, ruft der Träger, der eben mit dem Chef telefoniert hat. Aber dafür ist es offenbar zu spät: Man hört Getrappel auf den Stufen, und wenige Augenblick später erscheint SIE und drängt sich durch die Menschenmenge. „Sorry“, ruft sie, „sorry! Aber ich muss wirklich los! Ist schon elf.“
Ahmed hält den Atem an, als sie sich an ihm vorbeidrängt und zur Haustür stürmt. Er läuft hinter ihr her. „Einschreiben!“, ruft er, „für Sie!“
Sie ist schon auf dem Bürgersteig, als sie sich umdreht. „Ich weiß, was drin ist, hab’ was anderes vor heute Abend“, antwortet sie. „Kannst du behalten. Ich schenk sie dir.“ Dann läuft sie über die Fahrbahn und verschwindet um die Straßenecke.
Ahmed ist verwirrt. Woher weiß sie, was drin ist? Was tun? Den Brief trotzdem in ihren Briefkasten werfen? Aber sie will ihn nicht, das haben ja alle gehört. Grübelnd dreht er den Brief in den Händen. Dann reißt er ihn kurzentschlossen auf und sieht hinein: Eine Konzertkarte. Und ein Zettel, „Viel Spaß!“ steht darauf. Er nimmt sie heraus. Bob Dylan, liest er. Und das Datum von heute. Eine Konzertkarte für das Dylan-Konzert, das seit Wochen ausverkauft ist!
Von wem mag die Karte sein? Es steht kein Absender auf dem Umschlag und kein Name unter der Notiz. Von ihrem Vater, denkt er, wer sonst kann sich sowas leisten. Oder ein Freund? Sollte sie etwa einen Freund haben? Ein abstoßender Gedanke. Sicher, die jungen Frauen hier in Deutschland leben freizügiger. Viel freizügiger! Zuhause ist es undenkbar, dass eine unverheiratete Frau von Mitte 20 allein lebt. Und dass sie einen Freund hat, mit dem sie vielleicht sogar … Ahmed mag sich das nicht ausmalen. Er kann es sich auch nicht von ihr vorstellen.
Er weiß natürlich ihren Namen von den Briefen, die er ihr zugestellt hat. Bella Blume – welch eine Verheißung! Mit Bella Blume verheiratet zu sein, würde bedeuten, endlich richtig dazuzugehören, wirklich angekommen zu sein in diesem Land!
Fatima dagegen – in diesem Namen schwingt alles mit, was er hinter sich gelassen hat. So schöne Augen die Tochter der Ägypterin auch haben mag – in ihnen spiegelt sich nichts als die Wüste, wenn man genauer hinsieht. All die Augen, die ihn aus Kopftüchern oder Burkas heraus angesehen haben, zuhause in Marrakesch, diese traurigen Augen! Augen, die sich nach etwas ganz anderem sehnen als dem, was die Eltern, Großeltern, Brüder, Onkel, Tanten, Lehrer und Imame für sie entschieden haben.
Ich bin ungerecht!, denkt Ahmed und schämt sich. Wie kann ich so etwas über mein Land, meine Leute, meine Familie denken! Andererseits: Seine Schwester hat ihm in den heißen Sommernächten, wenn sie auf ihren Matratzen lagen und versuchten, Schlaf zu finden, oft genug zugeflüstert, dass sie genug hat. Genug! Genug! Es ist ungerecht, dass du gehen kannst, wohin du willst, hat sie gesagt. Sogar in fremde Länder. Ich hasse das! Er hatte sie angezischt, den Mund zu halten und damit gedroht, es dem Vater zu sagen. So etwas dürfe sie nicht einmal denken, hatte er gesagt. Die Familie sorgt für die Frauen. Frauen sind nicht wie Männer, sie brauchen Schutz, Führung und Anleitung.
Vor wem denn Schutz, hatte seine Schwester gefragt. Vor dir vielleicht? Frauen sind wie Kinder, auch wenn sie selbst Kinder bekommen, hatte er geantwortet. Und du wirst eine Frau sein. Also sei jetzt still.
Er ist sich jetzt nicht mehr sicher, ob er das wirklich selbst geglaubt hatte, was er sagte, als er seine Schwester ausschimpfte, oder ob er sich nur dazu verpflichtet gefühlt hatte. Jetzt hätte er sie gern hier, und wenn auch nur aus Neugier. Er würde gern sehen, wie sie sich hier entwickeln würde. Könnte sie jemals so sein wie Bella Blume?
Ahmed steht immer noch auf dem Bürgersteig, kann sich noch nicht entschließen, in sein Postauto zu steigen. Ist vielleicht das Leben aller Frauen vorbestimmt, auch das von Bella Blume?, denkt er. Er hatte nie gewagt, seine Mutter darauf anzusprechen. Sie war eine gute Mutter, sanft und einfühlsam. Er hat sie sehr geliebt, damals als er noch klein war. Sie fand im richtigen Moment die richtigen Worte, um ihn zu trösten und aufzubauen, wenn er weinend aus der Schule kam, weil der Lehrer ihn verprügelt hatte, weil er wieder mal nicht zugehört hatte. Das war sein großes Problem gewesen: Er konnte sich nie lange konzentrieren, vor allem nicht auf Dinge, die ihn nicht interessierten. Und dann gab es eben Prügel. Aber er hat der Mutter immer angesehen, dass sie ihr wahres Ich tief in ihrer Seele eingekapselt hatte und niemanden an sich heranließ, auch Ahmed nicht, selbst wenn sie ihn in dem Arm nahm.
Sie hatte ihm leid getan, und sie tut ihm immer noch leid – und trotzdem möchte er sie in Wahrheit nicht hier haben, seine Schwester ebenso wenig. Vermutlich würden sie sich noch mehr als sonst in sich zurückziehen, würden all das Fremde und Unbekannte, dass sie ängstigt, weit von sich fernhalten und ihre Kopftücher fester ziehen. Sie sind nicht wie Bella und werden es nie sein. Sie können nichts dafür, natürlich nicht! Aber es ist so. Bella ist frei, das ist der Unterschied. Und trotzdem ist sie rein und unberührt und wartet nur auf ihn. In dem kurzen Moment des Erkennens – seines Erkennens – hat er in ihrem Blick gesehen, dass sie für ihn bestimmt ist. Ebenso wie er für sie, aber vor allem sie für ihn – mit ihr wird er den letzten Schritt schaffen, den Schritt, der ihm noch fehlt, um in dieser Kultur wirklich dazuzugehören. Ohne dass ihn jemand duzt und Mohammed nennt.
Ahmed betrachtet die Eintrittskarte. Er mag Dylan nicht. Bella mag ihn anscheinend auch nicht. Das gefällt ihm: Sie haben den gleichen Musikgeschmack. Oder sollte sie die Karte deshalb nicht angenommen haben, weil sie ihr von jemandem geschickt worden ist, von dem sie nichts geschenkt haben möchte? Mit dem sie nicht ins Konzert gehen will, egal in welches? Mit dem sie nichts mehr zu tun haben möchte? Das ist natürlich das Risiko mit den Frauen in diesem Land, denkt Ahmed – sie tun, was ihnen gefällt!
Trotzdem: „Ich schenk’ sie dir!“, hatte sie ihm zugerufen – das ist doch was! Wohin muss sie so eilig? Jeden Tag um elf? Irgendwann wird er es erfahren, da ist er sich ganz sicher.