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Montag, 10. Dezember
Оглавление»Passt auf, Sportsfreunde!«, rief Carlo den Kursteilneh- mern zu. »Das Wetter spielt verrückt. Gestern war es, entschuldigt den Ausdruck: seikkwarä, die Loipen waren weich und matschig. Aber in der Nacht ist die Temperatur auf minus fünfzehn Grad gefallen. Die Loipen sind jetzt stellenweise vereist. Für den Unterricht gibt’s keine Probleme, hier im Umkreis der Schule sind sie perfekt präpariert. Aber wenn ihr am Nachmittag trainieren geht, passt bitte auf! Und geht auf keinen Fall auf die schwarze Rennloipe! – Habt ihr gehört?!«, doppelte er zur Sicherheit nach, denn nicht alle hörten zu, wenn er im Freien zu der siebzig-, achtzigköpfigen Gruppe sprach. »Geht nicht auf die schwarze Rennloipe, klar?! Nicht einmal die Topläufer. Am Baawaldschtuzz hat es schon dumme Unfälle gegeben. Geht heute also anderswo trainieren. Capito?«
Ein paar Aufmerksame nickten oder gaben mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie ihn gehört hatten.
»Gut, Sportsfreunde«, schloss Carlo. »Allen einen guten Tag!«
Es ist also nichts durchgesickert, dachte Kauz, sonst hätte er etwas gesagt. Kauz hatte von anderen Kursteilnehmern gehört, wie Carlo am Samstagabend die Gäste, die im Galenblick logierten, informierte: Die Skilehrerin Fabienne Bacher werde seit Mittwochnachmittag vermisst. Es gebe Anhaltspukte dafür, dass sie mit dem Zug weggefahren sei. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass sie zu Fuß unterwegs gewesen und vom Weg abgekommen oder dass ihr sonst etwas zugestoßen sei. Man habe sie deshalb bei der Polizei als vermisst gemeldet. Die Suchtrupps und Rettungskräfte täten alles, um sie zu finden. Björn würde seine Klasse weiterbetreuen, auch wenn er begreiflicherweise tief besorgt sei. Man solle aber bitte so viel Feingefühl haben, ihn nicht mit Fragen zu löchern. Das alles sagte Carlo, ohne dass Björn oder die anderen Skilehrer dabei waren. Die Gerüchte über einen Streit zwischen dem Paar hatte er nicht kommentiert.
Tatsächlich verstummten die Tuscheleien über Fabiennes Verschwinden allmählich, und Björn blieb von Fragen unbehelligt. Dies wiederum führte dazu, dass er aus freien Stücken zu reden begann. Vor allem sprach er mit den anderen Skilehrern, aber auch mit seiner Klasse und überhaupt mit allen, die ihm in der Mittagspause zuhören mochten. Das bekam Kauz mit, als er einmal in seiner Nähe stand.
»Ich mache mir selber enorme Vorwürfe«, hörte er ihn sagen. »Es stimmt, wir hatten am Mittwoch Streit«, »Ja, sie reagiert manchmal impulsiv«, »Nein, sie ist nicht depressiv«, »Ihr mache ich sicher keinen Vorwurf«, »Bestimmt taucht sie heute wieder auf« und ähnliche Dinge. Es war spürbar, dass er der Verzweiflung nahe war und dass er jede Gelegenheit nutzte, sich selbst zu erklären und damit auch ein bisschen zu entlasten.
Björn war der Instruktor der am weitesten fortgeschrittenen Skater. Die sogenannte Rennklasse bestand nur aus sechs Teilnehmern, alles routinierte Skater, die jedes Jahr mit ihm trainierten, um sich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Björn selbst war ein ehemaliger Spitzenathlet, war sogar bei internationalen Wettkämpfen ganz vorne mitgelaufen, bis er seine Rennkarriere wegen einer Verletzung beenden musste. Er stammte aus der Üsserschwiiz, war von Beruf Elektroinstallateur, verbrachte aber jeden Winter als Langlauflehrer im Goms. Hier hatte er die Gommerin Fabienne Bacher kennengelernt. Sie waren seit vier Jahren liiert, seit einem halben Jahr verheiratet. Das junge Paar wohnte in Glis, wo beide ihren ursprünglichen Berufen nachgingen. Von Dezember bis März waren sie bei Steffen Sport angestellt und logierten bei Fabiennes Eltern in Münster.
Kauz warf einen Blick zu Björn hinüber, der eben seine neue Klasse begrüßte. Er versuchte, sich nicht vorzustellen, wie es Björn ergehen würde, wenn er die Nachricht vom Tod seiner Frau entgegennehmen musste. Denn dass es sich bei der Toten von der Enggä Briggä um Fabienne Bacher handelte, stand für Kauz so gut wie fest.
»Hallo, Kauz! Du gehörst doch zu uns, oder nicht?«, rief eine Stimme. Kauz drehte sich um. Da stand Nik und winkte mit dem Skistock.
»Ich komme!«, rief Kauz.
Er stand bereits auf seinen Skiern, stieß sich mit den Stöcken ab und gliederte sich bei seiner neuen Klasse der Fortgeschrittenen ein. Da die Skilehrer für jeden Kurs neu zugeteilt wurden, hatte Claire dieses Mal die Anfänger und Nik die Fortgeschrittenen. Kauz war es mehr als recht. Einzig bei der Rennklasse der Skater gab es keinen Wechsel, die wurde immer von Björn geleitet. Die meisten Gäste kamen in der Vorsaison für drei, vier Tage ins Goms, um sich in der Langlaufschule auf die Wintersaison vorzubereiten, und kehrten dann in der Hauptsaison für ein bis zwei Wochen zurück.
»Was hab ich gesagt?«, meinte Nik am Schluss des Vormittags zu Kauz. »Du läufst schon recht gut, dir fehlt einfach die Routine. Üben, üben, üben, heißt jetzt die Devise.«
Kauz ging nach dem Unterricht sofort in seinen Speicher. Gerade angekommen, klopfte es: Kriminalinspektor Gsponer stand vor der Tür. Er trug eine braune Wildlederjacke mit breitem Kragen, die er trotz der Kälte nicht zugeknöpft hatte. Üppiges Lammfellfutter quoll hervor. Seine Füße steckten in gefütterten Wildlederstiefeln mit Ziernähten. Er kam auch im Winter stets schick daher. In einem Mundwinkel glomm eine Zigarette, er grinste filmstarmäßig. Doch dann drückte er die Kippe aus, trat ein und wurde ernst. Kauz setzte sich mit ihm an den Küchentisch, und die Befragung konnte beginnen. Kauz führte ihm seine digitale Spiegelreflexkamera vor, Gsponer hatte einen Stick dabei, auf den sie die Fotos herunterluden. Dann gab er Gsponer einen Abriss seiner Suchaktion.
»Wenn wir dich brauchen, kommen wir auf dich zu, Kauz«, sagte der Kriminalinspektor, der seit dem Sommer ein Freund geworden war. »Und wenn du etwas für uns hast, melde dich bitte.«
Den Nachmittag verbrachte Kauz wieder auf der Loipe. Zwar langweilte es ihn bereits, ständig die gleichen Runden auf der kurzen Hundeloipe zu drehen, während alle andern das ganze Loipennetz zwischen Oberwald und Niederwald zur Verfügung hatten, aber so war das nun mal mit einem Hund. Die Loipe war stellenweise vereist. Wenn sie an diesen Stellen ein Gefälle aufwies, kam Kauz rasch in Schwierigkeiten. Einmal geriet er prompt in Rücklage. Wild mit den Stöcken fuchtelnd fiel er hin und schlug hart auf.
Glück gehabt, dachte er, als er sich hochrappelte. Wenn es hier richtig steil und eisig gewesen wäre, hätte es mehr als ein paar blaue Flecken am Hintern abgesetzt.
Mit den Loipen stand es wirklich nicht zum Besten, mit der Winterlandschaft auch nicht: Die Schneedecke war nach dem starken Regen zusammengesunken und jetzt durch die neuerliche Kälte hart und karstig. Bereits waren die Beschneiungsanlagen wieder in Betrieb, Kunst- und Echtschnee war am frühen Morgen auf den heiklen Stellen verteilt worden. Die meisten Langläufer waren mit den präparierten Loipen zufrieden. Aber wenn es nach Kauz gegangen wäre, so hätte es jetzt Neuschnee gegeben, schon allein der Optik wegen.
Auf dem Rückweg ging er wieder über Reckingen. Nik hatte gesagt, er brauche ein Schnellwachs, um die leicht strapazierten Skier zu pflegen. Bei Steffen Sport wurde er von Noldi bedient, der ihm drei Artikel zur Auswahl auf die Theke legte.
»Welchen empfiehlst du mir?«, fragte Kauz.
»Deer ischt güät«, erklärte Noldi lakonisch und tippte mit dem Mittelfinger auf eine von drei Dosen, die er auf den Ladentisch gelegt hatte. Damit war das Verkaufsgespräch beendet. Kauz zahlte, und Noldi verschwand in seiner Werkstatt. Kauz sah sich im Geschäft um.
»Kann ich behilflich sein?«, fragte, weder freundlich noch unfreundlich, eine Stimme in seinem Nacken.
Er blickte über die Schulter.
»Danke, Zara. Ich schau mich bloß um.«
»Ach so, du bist’s?«, machte sie. Sie sah ihn mit ihren etwas eng stehenden, braunen Augen unter kräftigen Brauen aufmerksam an, ohne eine Miene zu verziehen. »In Ordnung«, sagte sie und wandte sich wieder ab.
Was hat sie bloß?, fragte sich Kauz. Ist sie depressiv oder was? Irgendwie reizte es ihn, das herauszufinden.
Zara wirkte frisch geduscht, ihr Haar war noch etwas feucht. Vermutlich hatte sie ihre freie Zeit auf der Loipe verbracht und sich dann für die Nachmittagsschicht umgezogen. Sie ging ins Kursbüro hinüber, das mit dem Laden verbunden war, und stellte sich hinter der Theke an ihren Computer. Nur ganz kurz hob sie den Blick und sah ihn noch einmal an.
Kauz schaute auf die Uhr: vier Uhr nachmittags. Er überlegte, ob er den Zug nehmen oder mit Max zum Speicher spazieren sollte, da kamen Claire und Björn herein. Sie hatten wohl gerade die Privatlektionen beendet.
Claire kam auf ihn zu.
»Wie geht’s?«, fragte sie aufgeräumt. »Du bist ja jetzt bei Nik. Der ist prima, oder?«
»Das stimmt«, bestätigte Kauz. »Mir fehlen nur die frisch verschneiten Loipen.«
»Das kommt schon noch, keine Sorge. Für die nächsten Tage ist Schneefall angesagt. Du bleibst doch noch länger?«
Kauz nickte.
»Da kannst du dich freuen.«
»Salü«, sagte Björn, der jetzt hinzutrat. »Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht begrüßt. Ich bin Björn«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus.
»Ich kenne dich natürlich«, lächelte Kauz und nahm die Hand des Skilehrers. Björn hatte einen kräftigen Händedruck, Kauz erwiderte ihn. »Ich heiße Kauz.«
»Kauz?«, fragte Björn zurück.
»Ja, Kauz. – Tut mir leid, das wegen Fabienne«, fuhr er fort. »Ich habe davon gehört, war letzte Woche schon da, weißt du.«
»Ich glaube, ich habe dich gesehen«, erwiderte Björn. »Ja, das ist schlimm«, nahm er die Bemerkung auf und erzählte ungefragt, wie Fabienne nach einem heftigen, aber in seinen Augen unbedeutenden Streit davongelaufen sei. So etwas sei schon oft vorgekommen, fuhr er fort und erging sich dann in weiteren Einzelheiten. Kauz hörte geduldig zu, bis Björn schließlich sagte: »Ich hoffe einfach, sie taucht heute wieder auf.«
»Klar«, murmelte Kauz. Er spürte einen Kloss im Hals.
»Also dann«, sagte Björn und nickte Claire und Kauz zu. Damit drehte er sich um und rief ins Kursbüro hinüber: »Zara, hast du Sue gesehen?«
»Ja, auf der Loipe. Sie trainiert wie wild.«
»Seit wann?«
»Seit etwa halb eins, schätze ich.«
Björn schaute auf die Uhr. »Seit mehr als drei Stunden? Nach der Doppelstunde am Vormittag? Sie übertreibt wirklich«, meinte er und sah kopfschüttelnd Claire an.
»Sie hat eben einen Riesenehrgeiz«, meinte die.
»Schon. Aber so baut sie ihre Form ab, nicht auf.«
»Sie hat gesagt, sie macht die ganze Tour«, hörte man Zara aus dem Kursbüro rufen.
Das würde heißen, dachte Kauz, nach Oberwald rauf, dann nach Niederwald runter und wieder zum Ausgangspunkt zurück. Das ist in etwa die Marathondistanz. Donnerwetter!
Fünf Stunden später, als Kauz eben den Abwasch gemacht hatte und sich die Hände trocknete, summte sein Handy.
»Du glaubst es nicht, Kauz«, rief Ria ins Telefon. »Schon wieder wird jemand in Reckingen vermisst. Und wieder eine junge Frau!«
»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, sagte Kauz. »Aber nicht noch einmal eine Skilehrerin, oder doch?«
»Nein, eine Kursteilnehmerin. Eine Top-Skaterin, heißt es. Da sie bei Dunkelheit noch nicht von der Loipe zurück war, schlug Carlo Steffen Alarm. Das wollte ich dir sagen, weil …«, sie sprach nicht weiter.
»Ja? Weil?«
»Weil es so merkwürdig ist. So … so …«
»So unwahrscheinlich? Gleich zwei vermisste junge Frauen aus dem gleichen Umfeld – da gebe ich dir recht. Duplizität der Ereignisse nennen das, glaube ich, die gescheiten Leute.«
»Dupli… was?«
»Duplizität. Das heißt, dass manchmal zwei gleiche, eher unwahrscheinliche Ereignisse gleichzeitig oder kurz hintereinander eintreffen. – Geht ihr sie suchen?«
»Die Rettungsleute sind schon unterwegs. Diesmal wissen wir ja, wo wir suchen müssen: auf der Loipe. Das ganze Loipennetz ist aber weit über hundert Kilometer lang! Sie fahren es jetzt mit zwei Snowmobilen ab. Das kann dauern.«
»Gibst du mir Bescheid, wenn ihr sie gefunden habt?«, fragte Kauz, obschon er wusste, dass Ria das eigentlich nicht durfte. »Und wenn ihr sie nicht findet, bitte auch.«
»Wieso? Ich …«
»Wieso hast du dann überhaupt angerufen?«, fragte er zurück. »Ich behalte es für mich, Ria, das weißt du doch genau.«
Ich Trottel, dachte er, kaum dass er die rote Taste gedrückt hatte. Jetzt muss ich aufbleiben. Oder ich werde mitten in der Nacht geweckt.
Er holte die Flasche mit dem Drahtbügelverschluss vom Regal und genehmigte sich einen Schluck Heidelbeerlikör. Frau Imfang, Wendels Mutter, hatte sie ihm wie immer in den Speicher gestellt, ehe er anreiste.
Für einen Augenblick dachte er an Zara.
Depressiv? Melancholisch veranlagt oder ganz einfach ein missmutiger Mensch?, fragte er sich. Er geriet nun selber in eine etwas melancholische Stimmung. Er tippte das Chopin-Album an, das er sich im letzten Sommer heruntergeladen hatte. Er wählte die Nocturnes und stellte auf »endlos«. Unter den wehmütigen, unbeschreiblich schönen Klängen, die der russische Pianist aus seinem Flügel zauberte, schlummerte er ein.
Geweckt wurde er um halb zwei Uhr morgens.
»Entschuldige, Chüzz«, sagte Ria. »Aber du wolltest es so.«
Kauz richtete sich auf. Er war sofort hellwach. »Hat man sie gefunden?«
»Ja.«
»Tot?«
»Ja.«
»Wo?«
»Am Baawaldschtuzz. Im Bannwald, weißt du. Eine sehr gefährliche Stelle auf …«
»… auf der Rennloipe, ich weiß.«
»Die kennst du?«, staunte Ria.
»Nein, aber Carlo hat am Morgen davor gewarnt. Deshalb weiß ich von der Stelle. Ein Unfall?«
»Sieht so aus, ja. Sie muss schrecklich gestürzt sein und hat sich dabei wohl mit dem eigenen Skistock verletzt. Oder ist in einen Ast hineingerast.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nein. Ich weiß das von den Rettungsleuten. Die sagten, sie habe eine offene Verletzung an der Brust, ich weiß nicht, was genau. Es scheint, dass sie auf der Loipe verblutet ist.«
»Das ist ja furchtbar!«
Kauz musste an seinen eigenen Sturz auf der nur leicht abschüssigen, vereisten Loipe vom Nachmittag denken. Aber es erstaunte ihn doch, dass ein Sturz auf der Langlaufloipe tödlich ausgehen konnte.
»Weiß man mittlerweile mehr über den agT Enggi Briggä?«
»Ja, leider«, sagte Ria: »Es ist tatsächlich Fabienne Bacher. Sie wurde noch am späten Abend von Björn identifiziert.«
»Ach, der tut mir wirklich leid. – Wo ist sie? Beim Bestatter?«
»Nein, auf der Rechtsmedizin in Sitten.«
Die Rechtsmedizin hatte Kauz selbst kennengelernt. Er hatte mit Doktor Bivinelli im Sommer intensiven Kontakt gehabt.
»Und die zweite Tote?«
»Bivinelli hat noch am Baawaldschtuzz entschieden, dass sie auch auf die Rechtsmedizin müsse.«
»Heißt sie Sue?«, fragte Kauz.
»Woher weißt du das jetzt schon wieder?«, Ria klang etwas irritiert. »Ja, sie heißt Sue. Sue Brongg.«
»Ich habe gehört, wie Björn Zara heute Nachmittag nach einer Sue fragte. Der Name ist mir hängen geblieben. Es schien ihn zu wundern, dass sie noch nicht vom Training zurück war.«
»Björn? Hmm. Wirklich? Und wer ist Zara?«
»Die Frau von der Kursadministration.«
»Ach so, ja, stimmt. Hör zu, Chüzz«, sagte sie dann, »ich muss Schluss machen. Drei, vier Stunden Schlaf brauche ich schon noch, ehe es morgen weitergeht.«