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Dienstag, 11. Dezember
ОглавлениеGegen halb acht Uhr morgens rollte Thomas neben das Bett seiner Frau, lehnte sich über die Bettkante und rüttelte sachte an ihrer Schulter: »Ria, du musst allmählich …«
Ria richtete sich abrupt auf. »Hab ich verschlafen?«, fragte sie und rieb sich die Augen. »Ist Emma schon auf? Heute ist Kitatag, oder nicht?«
»Nur mit der Ruhe«, meinte Thomas. »Mama ist schon mit ihr unterwegs. Und deine Leute wissen Bescheid, dass du später kommst. Du bist ja erst gegen halb drei ins Bett gekommen, oder?«
»Kann schon sein«, erwiderte sie, sprang aus dem Bett und huschte ins Badezimmer.
Thomas rollte in die Küche. Mit dem Geschick eines Artisten bewegte er sich in seinem Rollstuhl zwischen Anrichte, Kühlschrank und Küchentisch und deckte einhändig, die andere Hand am Rad seines Vehikels, Rias Frühstück auf. Die Küche war so umgebaut worden, dass er das meiste aus dem Rollstuhl erreichen und bedienen konnte. Als Ria fertig geduscht hatte, stand ihr Müesli mit selbstgeschrotetem Getreide, gehackten Nüssen und frisch geraffelten Äpfeln auf dem Tisch, daneben die Tasse mit dem dampfenden Cappuccino.
»Was war eigentlich los, heute Nacht?«, fragte Thomas, als Ria ihr Müesli löffelte. »Zwei Tote, eine in Münster und eine sonst irgendwo im Goms, habe ich das richtig mitgekriegt?«
Thomas hatte keine Hemmungen, Fragen zu stellen. Er wusste natürlich, dass seine Frau als Postenchef der Walliser Kantonspolizei Goms eigentlich nichts sagen durfte. Aber nachdem er im vergangenen Sommer als Computertüftler und IT-Freak die entscheidenden Hinweise zur Aufklärung des Mordfalls Imfang geliefert hatte, hatte Ria ihre Zurückhaltung abgelegt. Auch die Staatsanwältin, Kriminalinspektor Gsponer, Chefinspektor Fux und alle Kriminaltechniker hatten Thomas in den höchsten Tönen gelobt. Ria betrachtete ihren Mann deshalb fast als einen Berufskollegen, der wie sie der Schweigepflicht unterstand.
»Richtig«, bestätigte sie und wischte sich den Milchschaum von den Lippen. »Eine seit Mittwoch vermisste Langlaufinstruktorin wurde am Sonntagabend tot unter der Enggä Briggä bei Münster gefunden.«
»Fabienne Bacher, nicht wahr? Dass sie verschwunden ist, hat sich im ganzen Goms herumgesprochen. Das habe ich am Loipentreff gehört.«
»Das kann ich mir vorstellen. Die andere ist eine ambitionierte Langläuferin, die offenbar wie vergiftet trainierte. Sie ist gestern auf der Loipe tödlich gestürzt. Am Baawaldschtuzz.«
»Die Loipe war total vereist. Wer geht denn unter solchen Bedingungen auf die Rennloipe?!«
»Eben. Offenbar hat Carlo Steffen seine Schüler gestern sogar ausdrücklich davor gewarnt, die Baawald Loipe zu befahren. Das hat mir dr Chüzz erzählt. Die Frau hat sich nicht darum geschert – und jetzt ist sie tot«, seufzte Ria.
Thomas rieb sich die Stirn, dann ließ er die Hände sinken.
»Schrecklich«, sagte er. »Aber Unfälle passieren«, fuhr er fort. Seine Hände glitten über die im Rollstuhl festgezurrten gelähmten Beine.
Ria sah auf und warf ihm einen halb traurigen, halb vorwurfsvollen Blick zu. Mir brauchst du das nicht zu sagen, sollte der Blick wohl heißen.
»Noch einen Cappuccino?«, fragte Thomas rasch.
»Danke, Thomi. Nein, ich muss los«, sagte sie, stand vom Küchentisch auf und stellte ihr Geschirr in den Spültrog.
»Lass nur. Ich mache das«, sagte Thomas. »Dü, noch etwas: Stimmt es, dass dr Chüzz Fabiennes Leiche gefunden hat? Ist er irgendwie in den agT verwickelt?«
Wie ein Insider benützte er gern den Juristen- und Polizistenjargon. So auch das Kürzel agT.
Ria winkte ab. »Später«, sagte sie, schlüpfte in die dicke Uniformjacke, beugte sich über ihren Mann und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann setzte sie die Polizeimütze auf, warf einen Blick in den Wandspiegel, rückte die Mütze zurecht und ging aus der Wohnung.
Unter der Tür drehte sie sich kurz um. »Bis heute Abend«, rief sie. »Und gib der Kleinen einen Kuss von mir.«
»Klar«, sagte Thomas.
Thomas Abgottspon war einmal nahe daran gewesen, bei der Walliser Kantonspolizei als IT-Spezialist Karriere zu machen. Die Stelle in der Abteilung Wirtschafts- und Internetkriminalität war ihm schon zugesichert, denn er brachte als IT-Experte und mit einem Bachelor der Rechtswissenschaften die besten Voraussetzungen mit. Der Gleitschirmunfall machte ihm dann einen dicken Strich durch die Rechnung. Ria war kurz zuvor zum Postenchef ad interim befördert worden. Nur dank der Hilfe ihrer Mutter war es möglich, Beruf und Mutterrolle unter einen Hut zu bringen. Emma war mittlerweile vierjährig und wurde zweimal die Woche in die Kindertagesstätte gebracht. Vom Haushalt war Ria dispensiert, den besorgte Thomas zusammen mit Mama Ritz, die im Obergeschoss des Mehrfamilienhauses wohnte. Um die kleine Emma kümmerten sie sich alle drei.
Heute war Thomas fürs Aufräumen und Putzen zuständig, denn für Emma war gesorgt, und an den Tagen, an denen sie in der Kita war, bereitete Mama Ritz in der Regel das Abendessen für die Familie vor. Rias Mutter war nach Thomas’ Unfall mit dem nicht ganz pflegeleichten Ehemann nach Fiesch gezogen, um die junge Familie zu unterstützen. Das Familienhaus in Niederwald stand seither leer. Ria träumte davon, irgendwann wieder in Niederwald zu wohnen, aber einstweilen war daran nicht zu denken.
Als Ria gegangen war, räumte Thomas die Küche auf, staubsaugte die Wohnung und putzte anschließend das Badezimmer. Dann zog er seine Langlaufsachen an, fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage, in welcher der für ihn umgebaute Familienwagen stand, hievte sich ins geräumige Auto – sein Paraplegikerschlitten war schon darin verstaut – und fuhr los.
Es war kurz nach Mittag, als er auf dem Parkplatz von Steffen Sport ankam. Er stellte den Wagen auf einem für Paraplegiker reservierten Parkplatz gleich neben der Loipe ab. Ein Paar, das sich eben für den Langlauf bereitmachte, half ihm, aus dem Auto in den Schlitten umzusteigen. Sie schoben ihn auf die Loipe, und Thomas stieß sich mit kräftigen Stockstößen Richtung Münster.
Es herrschte kein ideales Langlaufwetter. Der Himmel war bedeckt, kein Sonnenstrahl drang durch die Wolkendecke, und nach Schneefall sah es auch nicht aus. Die Wettervorhersagen hatten wieder einmal danebengelegen. Doch die Loipen waren gut präpariert, und wenn man die steilen Stellen mied, gab es keine Probleme mit Vereisungen. In der Rottenebene schaute Thomas zur Enggä Briggä hinüber. Es hätte ihn gereizt, sich dort umzusehen, aber das war natürlich ausgeschlossen. In seinem Schlitten musste er sich strikt in der Spur der klassischen Loipe halten, sonst gab es für ihn kein Vorwärtskommen. Der Aufstieg nach Münster, für Langläufer mit gesunden Beinen keine große Sache, forderte ihn sehr. Knapp unterhalb des Dorfrands führte die Loipe wieder zum Rotten hinunter. Thomas fuhr weiter, über Geschinen hinaus Richtung Ulrichen. Beim Loipentreff, einer alten Militärbaracke, vor der ein paar Holztische und Bänke aufgestellt waren, machte er Halt und gesellte sich zu den Hartgesottenen, die im Freien Pause machten, statt sich in die geheizte Baracke zu setzen. Es waren drei einheimische Langläufer, zwei junge und ein älterer. Thomas kannte sie, und sie kannten ihn. Doch wurde bei der Begrüßung kein großes Aufheben gemacht.
»Salü«, sagte Thomas und sah kurz in die Runde.
»Salü«, erwiderte einer. Auch wer sich kannte, nannte bei der Begrüßung kaum je den Namen des andern. Salü, das musste genügen. Sprach man jedoch von einem, klatschte man über einen, dann konnte dessen Name gar nicht oft genug fallen.
»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«, fragte ein anderer.
»Nein, danke, ich habe was dabei«, sagte Thomas und griff nach seiner Thermosflasche, die er im Schlitten verstaut hatte.
»Geets güät?«, fragte der erste.
»Güät«, bestätigte Thomas. »Und sälber?«
»Jaja. Güät«, lautete die Antwort, und damit war der Austausch von Höflichkeiten beendet.
»Chaalt hittä, gäll?«, meinte ein dritter.
»Äs geet. Chennti cheltär sii.«
»Weischt dü äppäs?«
»Was meenscht?«
»Ä, va denä zwei tootä Fröwwä.«
Ob er etwas von den zwei toten Frauen wisse, war die Frage. Da er der Ehemann der obersten Polizistin im Goms war, müsste er doch mehr wissen …
»Was denn für Frauen?«, stellte sich Thomas dumm. Er wisse nur, dass Ria die halbe Nacht auf gewesen war.
Es wüssten doch alle, dass die vermisste Fabienne Bacher tot aufgefunden worden sei. Unten, bei der Enggä Briggä. Nicht erfroren, sondern verblutet. Das habe der Imwinkelried Ruedi gesagt, der beim Loipendienst arbeite.
Die drei kamen jetzt richtig in Fahrt mit dem Doorffä. Der Imwinkelried Ruedi habe in der Nacht vom Sonntag die Polizisten auf seinem Schneemobil zur Brücke gefahren. Er habe gehört, die Frau sei an Hals und Brust verletzt gewesen und wohl verblutet. Das Verrückte sei, dass auch die andere tote Frau, eine Langläuferin aus der Üsserschwiiz, die man vergangene Nacht am Baawaldschtuzz tot aufgefunden habe, eine Verletzung in der Brustregion aufgewiesen habe und daran verblutet sei. Auch das habe der Imwinkelried Ruedi gesagt, der habe nämlich auch gestern Nacht mit der Rettungskolonne ausrücken müssen. »Das gibt’s doch nicht!«, habe der Rechtsmediziner gerufen, »schon wieder so eine Verletzung!«, so etwas habe er noch nie erlebt. Ob er, Thomas, sagen könne, ob eine der Frauen oder vielleicht beide ermordet wurden?
»Keine Ahnung«, sagte Thomas. »Ich wusste nicht einmal etwas von diesen Verletzungen. Nur, dass man zwei tote Frauen gefunden hat, das wusste ich.«
Heute Abend weiß ich mehr, dachte er, und machte sich auf den Heimweg.
»Ade!«, rief er den andern zu und fuhr wieder los.
Wieder zu Hause, erfuhr er am Abend tatsächlich mehr: Laut Gerichtsmediziner seien Unfälle zwar nicht ausgeschlossen, aber genauso viel deute darauf hin, dass die Frauen umgebracht wurden.
»Hat Alain Gsponer gesagt«, so lautete Rias Rapport, als die kleine Emma endlich im Bett war.
Mama Ritz hatte für die kleine Familie das Abendessen zubereitet. Sie setzte sich aber nicht mit ihnen an den Tisch. Die Hälfte der Mahlzeit trug sie in einem Geschirr ins Obergeschoss. Ihr nicht ganz pflegeleichter Ehemann bestand darauf, gemeinsam mit ihr zu essen, und außerdem sollte die junge Familie auch ein Eigenleben haben.
»Tee?«, fragte Ria und setzte schon das Wasser auf.
»Ja«, sagte Thomas, »aber keinen Verveine.«
»Weiß ich doch«, sagte sie, goss sich selber einen Verveine- und ihm einen Abendkräutertee auf. »Dafür mit Honig, oder?«
Sie ging zur Sitzgruppe hinüber, stellte die Tassen aufs Beistelltischchen, ließ sich aufs Sofa fallen und fläzte sich hin.
Thomas rollte neben sie.
»Und was ist mit dem Chüzz?«, fragte er.
»Der hat die Leiche von Fabienne Bacher bei der Enggä Briggä gefunden.« Sie erzählte ihm die Geschichte von seinen Schwarz-Weiß-Fotos. »Hätte er sie nicht entdeckt, so hätten wir jetzt nur eine Tote – und würden wahrscheinlich von einem spektakulären Unfall ausgehen. Aber gleich zwei Frauen mit offenen Verletzungen an Hals und Brust und beide in der Kälte verblutet oder am eigenen Blut erstickt, das war für den Rechtsmediziner und auch für den Kriminalinspektor eine zu seltsame Duplizität der Ereignisse.«
Den Terminus, den Kauz gebraucht hatte, hatte sie gegoogelt.
»Eine was?«, fragte Thomas.
»Duplizität der Ereignisse.«
»Ach so«, lachte Thomas. »Du meinst, wenn etwas gleich zweimal passiert?«
»Zwei gleiche oder ähnliche, eher außergewöhnliche Ereignisse, gleichzeitig oder kurz hintereinander«, dozierte Ria.
»Eben. Und wie geht’s jetzt weiter?«
»Ermittelt wird in alle Richtungen: Unfall, bei Fabienne auch Suizid, und Mord. Die Leichen wurden heute auf die Rechtsmedizin nach Bern gebracht. Die untersuchen nicht nur die Todesursache, sondern auch die Natur der Verletzungen. Die Forensiker finden schon raus, ob die selbst beigebracht wurden, ob sie von einem Sturz in den eigenen Stock oder einem Ast herrühren oder ob sie von einem Dritten zugefügt wurden.«
»Klar finden die das raus«, meinte Thomas, der Computertüftler. »Mit 3D-Röntgen- und Computeraufnahmen von der Leiche, von den Verletzungen, von den Holzstöcken oder Ästen. Aber sag mal, wissen die Angehörigen Bescheid?«
»Die von Fabienne schon.«
Björn und die Eltern Bacher hatten die Tote noch am späten Montagabend auf der Rechtsmedizin in Sitten identifizieren müssen. Kurz danach wurde die Leiche von Sue Brongg gebracht. Doch wer sollte die identifizieren? Den Teilnehmern ihrer Rennklasse konnte man das wohl kaum zumuten. Sue war die letzten zehn Tage allein im Hotel Galenblick einquartiert gewesen. Björn, ihr Klassenlehrer, kannte sie von allen am besten, er trainierte sie schon die längste Zeit, ihn musste man wohl oder übel mit der Identifizierung beauftragen.
»Himmel noch mal!«, rief Thomas. »Björn wird nachts von Münster nach Sitten gerufen, um seine tote Frau zu identifizieren, fährt dann wieder nach Münster zurück – und wird in derselben Nacht noch mal nach Sitten zitiert, um eine Tote aus seiner Rennklasse zu identifizieren?! Was für eine Zumutung!«
»Das war tatsächlich zu viel für ihn«, gab Ria betreten zu. »Aber die Sache war etwas anders.«
Björn war in Tränen ausgebrochen, als der Rechtsmediziner das Leichentuch zurückschlug und seine tote Frau vor ihm lag. Dann fasste er sich wieder und kümmerte sich um die untröstlichen Schwiegereltern. Es war mittlerweile Nacht geworden, die drei beschlossen deshalb, nicht nach Münster zurückzufahren, sondern in Fabiennes und Björns Wohnung in Glis zu übernachten, um die Tote am nächsten Morgen nochmals besuchen zu können. Vielleicht ließen sich die Rechtsmediziner von Björns äußerlich gefasster Haltung täuschen. Und so fragte ihn am nächsten Morgen Bivinellis Assistentin, ob er auch die vermisste Langlaufschülerin identifizieren könne.
»Ist sie denn wieder aufgetaucht?«, fragte er zurück.
Irgendwie hatte er die Frage missverstanden. Es überstieg wohl seine Vorstellungskraft, dass er nochmals eine Tote identifizieren sollte. Er hatte am Vorabend selbst noch die Rettungskolonne alarmiert, als Sue gegen Abend nicht vom Training zurück war. Da wusste er noch nichts vom Tod seiner Frau.
Mittlerweile hatte man ihn schon in einen benachbarten Raum geführt.
»Nein, sie ist nicht aufgetaucht«, sagte die Assistentin. »Die Rettungskolonne hat sie gefunden. Am Baawaldschtuzz. Können Sie …«, und damit schlug sie das zweite Leichentuch zurück.
Björn sah den Leichnam und erstarrte.
»Kennen Sie die Frau?«
»Ja, das ist Sue«, sagte er tonlos.
Man führte ihn hinaus, setzte ihn im Korridor auf eine Bank, brachte ihm ein Glas Wasser und holte schließlich die Schwiegereltern. Aber auch die brachten kein Wort mehr aus ihm heraus. Björn stierte nur noch vor sich hin ins Leere.
»Was ist jetzt mit ihm?«, fragte Thomas.
»Er liegt im Spital«, sagte Ria. »Er steht unter Schock.«