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Der Todesberg

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»Dösbaddel!«

»Eingebildete Ziege!«

»Angeber!«

»Hosenschisser!«

»Gar nicht.«

»Dann zeig’s mir doch!«

»Und wie?«

Die achtjährige Greta Bubendey fuhr stur mit ihrem Fahrrad geradeaus, während Finn Janssen mit seinem Rad in großen Bögen um sie herumkurvte. Es war ein freundlicher Tag im Mai, Greta trug eine kurze Hose und ein geringeltes T-Shirt und sie war auf dem Weg nach Hause von ihrer besten Freundin Mareike.

Unterwegs geriet sie mit Finn aneinander. Das war jetzt bereits das dritte Mal in dieser Woche.

Angefangen hatte alles, weil Finn in der Schule von ihr bei der Deutscharbeit abschrieb. Die Lehrerin bestrafte beide, Finn mit einer Fünf und Greta mit einer Ermahnung, die sie zu Hause vorlegen musste.

»Wieso lässt du andere Kinder abschreiben?«, fragte ihre Mutter. »Du strengst dich an und lernst ordentlich und sie kassieren dafür die Lorbeeren. Das ist dumm von dir, Greta.«

»Was hast du mit diesem Jungen zu schaffen?«, fragte ihr Vater und unterschrieb den Brief der Lehrerin nur widerwillig. »Ich denke, du sitzt neben deinen Freundinnen?«

»Wir sind bei der Klassenarbeit alle auseinandergesetzt worden«, sagte Greta und konnte nur mühsam die Wut und Enttäuschung darüber verbergen, dass sie bestraft wurde, obwohl sie nichts Unrechtes getan hatte. Sie hatte diesem blöden Finn nämlich keineswegs ihr Heft rübergeschoben, sondern zwischendrin sogar die Hand davorgehalten. Als sein Blick immer wieder zu ihr herüber wanderte, hatte sie ihn schließlich sehr laut und vernehmlich angefahren.

»Lass das, du Faulpelz!«

Ja, und da war auch schon die Lehrerin aufgesprungen und hatte misstrauisch gefragt, was es da zu tuscheln gab. Und Greta hatte wahrheitsgemäß geantwortet, dass Finn sie beim Arbeiten störe.

Am nächsten Tag stimmte Finn einen Singsang an, sobald Greta in der Pause den Schulhof betrat.

»Petze, Petze ging in Laden,

Wollt fürn Dreier Käse haben.

Dreier Käse gab es nicht,

Petze, Petze ärgert sich.«

Seine Freunde lachten und fielen grölend in den Spottreim mit ein.

Greta standen Tränen in den Augen, aber sie ließ sich nicht kleinmachen. Nicht von diesem Finn Janssen, der ein echter Prolet war, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Dabei hatte sie überhaupt keine Ahnung, was ein Prolet war. So was wie ein Arbeiter wohl, wenn sie das richtig verstanden hatte. Finns Vater war Schmied, ein einfacher Mann im Vergleich zu ihrem Vater, dem die Apotheke am Marktplatz gehörte.

»Wir sind Akademiker«, pflegte er zu sagen, und was das bedeutete, wusste Greta ebenfalls nicht genau. Aber an der Stimme ihres Vaters erkannte sie, dass es etwas Bedeutendes sein musste. Akademiker waren wichtige, angesehene Leute, so viel stand fest. Sie waren besser als andere.

Tapfer reckte sie das Näschen in die Höhe.

»Lern nächstes Mal ordentlich, dann bist du nicht auf die Hilfe von schlaueren Leuten angewiesen«, sagte sie zu Finn Janssen.

»Hochnäsige Kuh«, entgegnete Finn. Er steckte die Hände in die Vordertaschen seiner Jeans und schaute sie drohend an.

Wütend drehte Greta sich fort. Am liebsten hätte sie diesem Spacken eine runtergehauen. Aber erst letzte Woche hatte sie beobachtet, wie er auf dem Bolzplatz hinter der Turnhalle einen Jungen aus der Parallelklasse verdrosch. Finn war sehr stark und Greta hatte keine Lust, sich von ihm in den Schwitzkasten nehmen zu lassen, wie es dem anderen Kind passiert war.

Und jetzt musste sie sich schon wieder über ihn ärgern, weil er mit seinem Rad ihren Weg kreuzte, sodass sie gezwungen war, zu bremsen und ihm auszuweichen.

»Du willst mir beweisen, dass du kein Hosenschisser bist?« Er sah sie herausfordernd an. »Dann fahr freihändig den Todesberg hinunter.«

Greta riss die Augen auf. »Spinnst du?«

Der Todesberg war die höchste Erhebung in der Gegend, ein bewaldeter Hügel, der so aussah, als habe ein Riese einen gewaltigen Felsbrocken mitten in die flache Landschaft geworfen.

Im vergangenen Winter, in dem Norddeutschland monatelang im Schnee versunken war, waren alle Kinder am Todesberg rodeln gegangen. Die Erwachsenen sprachen von einer Schneekatastrophe, aber für die Kinder war es das Paradies. Es gab mehrere recht steile Abfahrten an dem Hügel, wobei die gefährlichste unmittelbar vor einem See endete. Wer nicht rechtzeitig bremste oder abdrehte, bekam schon mal nasse Füße. Vor vielen Jahren war sogar ein Junge mit dem Schlitten im See ertrunken. Vermutlich hatte der Hügel damals seinen Namen erhalten, aber das wusste niemand mehr so genau. Gretas Eltern hatten ihr jedenfalls strengstens untersagt, an diesem Hang zu rodeln.

»Also bist du doch ein Schisser«, feixte Finn Janssen.

»Nein!« Jetzt wurde Greta richtig wütend. »Ich bin nur nicht lebensmüde. Das ist ein Unterschied.«

Aber Finn forderte sie immer weiter heraus. »Feigling, Feigling!«, rief er und sie ärgerte sich mehr und mehr.

Sie war kein Feigling, da täuschte dieser Finn sich aber gewaltig. Bloß weil sie ein Mädchen war, hieß das noch lange nicht, dass sie sich nichts traute.

»Also gut, ich mach’s«, erklärte sie mit grimmiger Entschlossenheit.

Und dann fuhren sie gemeinsam zum Todesberg, der ein Stückchen außerhalb der kleinen Stadt Travenstedt lag, in der sie lebten. Ein paar befestigte Wanderwege führten hinauf, und auf der Spitze gab es einen Grillplatz, den Ausflügler aus den größeren Städten manchmal für ein Picknick nutzten. Die Leute aus dem Ort gingen hier mit ihren Hunden spazieren, und gelegentlich kämpfte sich mal ein Radfahrer einen asphaltierten Wirtschaftsweg hinauf, der am Grillplatz endete.

Finn fuhr sehr schnell, und Greta, die mit ihm mithalten wollte, geriet gehörig ins Schwitzen. Sie war bereits außer Atem, als sie den Asphaltweg erreichten, der zum Grillplatz führte. Es ging steil bergauf, und nach wenigen Metern musste Greta absteigen und schieben. Was für eine Schmach! Aber es beruhigte sie, dass auch Finn bald darauf aufgab. Gemeinsam schoben sie ihre Räder bis hinauf zu einer Schranke, die das Ende des Fahrweges markierte.

Beklommen blickte Greta zurück. Links standen hohe Laubbäume, rechts befand sich eine mit Stacheldraht umzäunte Schonung. Der Weg dazwischen war ganz schön abschüssig und unten machte er eine scharfe Kurve. Wenn man die nicht bewältigte, landete man direkt auf einer Straße. Das war fast noch gefährlicher, als in den See zu fallen.

Greta war sich nicht sicher, ob sie diese Herausforderung bewältigte.

»Also, dann mal los.« Finn nickte ihr aufmunternd zu. »Du musst freihändig bis ganz runter fahren, dann nenne ich dich nie wieder Hosenschisser. Versprochen.«

»Du zuerst.« Greta hoffte, Finn werde kneifen und damit sei die Sache erledigt. Doch da hatte sie ihn unterschätzt.

»Alles klar«, sagte er lässig.

Und dann sauste er los, Finn Janssen, der Prolet, in einem halsbrecherischen Tempo – und freihändig, als würde er das jeden Tag machen. Dieser Teufelskerl.

Bewundernd starrte Greta ihm nach und beobachtete genau, wie er am Fuß des Hügels die Griffe des Lenkers wieder umfasste, scharf bremste und sein Rad nach links riss. Triumphierend winkte er zu ihr herauf.

Eigentlich hatte das doch nicht schwer ausgesehen. Sie würde das genauso hinbekommen, ganz sicher.

Rasch, bevor der Mut sie erneut verließ, setzte Greta sich auf ihr Fahrrad und fuhr los. Vorsichtig löste sie die Hände vom Lenker, lehnte sich zurück und balancierte das Gleichgewicht aus. Diesem dämlichen Finn würde sie es zeigen, darauf konnte er Gift nehmen!

Sie wurde rasch schneller und einen Augenblick lang genoss sie den Fahrtwind und das Gefühl von Freiheit, während sie mit fliegenden Zöpfen den Hang hinuntersauste. Doch dann fuhr sie über eine kleine Unebenheit und hatte Mühe, die Spur zu halten. Ein, zwei Meter ging noch alles gut, dann geriet das Vorderrad gefährlich ins Schlingern und hastig griff sie nach dem Lenker. Sie bremste zu stark und da rutschte das Hinterrad weg.

Greta landete samt Rad in einem Graben, der neben der Schonung entlangführte. Ihre Beine schmerzten und etwas Scharfes riss an ihrer Wange.

Zitternd versuchte sie, sich zu befreien, aber sie steckte so blöd unter ihrem Fahrrad fest, dass sie es nicht alleine schaffte.

Verzweifelt schrie sie nach Finn, der auch sofort den Hang heraufrannte.

»He, was ist los?« Atemlos und im Gesicht rot vor Anstrengung beugte er sich über sie. »Oh, Scheiße, du blutest ja total.«

Greta fasste sich an die Wange und erschrak, als sie all das Blut an ihren Fingern sah. Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr ganzer Körper schmerzte und der Schreck tat sein Übriges.

»Wir schaffen das schon«, sagte Finn. Er hob Gretas Fahrrad mit übertriebenem Gestöhne an und so schaffte sie es, ihr Bein darunter hervorzuziehen. Dann reichte er ihr die Hand und zog sie aus dem Graben. Als sie wieder auf beiden Füßen stand, wies er sie fachmännisch an, zu überprüfen, ob sie Arme und Beine bewegen konnte und alle Gelenke ordentlich funktionierten. Ihre Hose war fleckig und ihre Schienbeine waren aufgeschürft. Aber das schlimmste Problem schien tatsächlich die Wunde in ihrem Gesicht zu sein, die offenbar vom Stacheldraht des Zauns herrührte.

Finn führte sie zu einem Baumstumpf, auf den sie sich setzte, und zog ein zerknautschtes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Vorsichtig tupfte er mit dem letzten sauberen Zipfel das Blut von ihrer Wange. Greta schniefte und schluchzte immer noch.

»Du warst echt mutig«, sagte Finn und er klang auf einmal voller Bewunderung. »Ich habe Monate gebraucht, bis ich mich endlich getraut habe, den Hang von ganz oben freihändig runterzufahren.«

Greta blinzelte die Tränen fort. »Das heißt, du hast das vorher ewig geübt?«

Finn grinste frech, wobei eine Zahnlücke in seinem Mund sichtbar wurde.

»Du Blödmann, das ist ja wohl voll gemein.«

»Ich weiß.«

Finn hob den Blick und sah Greta unverwandt an. »Tut mir leid.«

Mit einem Finger strich er die Tränen unter ihrem Auge weg. »Aber du bist echt das mutigste Mädchen, das ich kenne.«

Und dann beugte Finn Janssen, der Prolet, sich vor und küsste zart Gretas Wange.

»Ich glaube, das muss genäht werden.« Gretas Mutter begutachtete die Wunde im Gesicht ihrer Tochter. »Du kannst von Glück reden, dass deinem Auge nichts passiert ist.« Verärgert schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht, wieso du mit diesem Finn Janssen unterwegs warst. Der Junge hat nur Flausen im Kopf.«

»Hat Finn das mit Absicht gemacht?« Gretas fünfjährige Schwester Julia starrte mit großen Augen auf das viele Blut.

»Nein.« Greta wimmerte vor Schmerz. »Ich hab das Gleichgewicht verloren, als wir auf dem Buckelweg hinter der Kirschbaumwiese nebeneinander gefahren sind. Finn hat damit nichts zu tun.«

Ihr wäre es lieber gewesen, wenn niemand von ihrem Abenteuer mit Finn erfahren hätte. Aber dummerweise waren sie auf dem Heimweg ihrer Nachbarin Frau Behnke begegnet. Gretas Vorderrad hatte eine Acht, darum mussten sie die Fahrräder schieben, was ziemlich lange dauerte. Sicher machte ihre Mutter sich schon Sorgen, weil Greta nicht heimkam. Und dann stoppte Frau Behnke mit ihrem Auto, sah ihr blutverschmiertes Gesicht und brachte sie umgehend nach Hause.

Ihr Vater sprühte Desinfektionsmittel auf die offene Wunde, was schrecklich brannte. »Finn Janssen ist kein Umgang für dich. Du siehst doch, was dabei herauskommt.«

Greta biss die Zähne zusammen und verkniff sich die Tränen.

Ihr Vater öffnete einen Karton mit Gazetupfern. »Wir fahren zu Dr. Springer. Ich glaube auch, dass das genäht werden muss.«

Es wurden drei Stiche entlang des Jochbeins. Greta ertrug die Betäubungsspritze und das Nähen tapfer und war anschließend direkt ein bisschen stolz auf ihren Verband. Das sah so verwegen aus.

Zu Hause nahm ihr Vater sie erneut ins Gebet. »Noch mal in aller Deutlichkeit: Ich möchte, dass du dich von Finn Janssen fernhältst. Sein Vater ist ein gewalttätiger Trinker und der Junge schlägt ganz nach dem Alten. Das ist kein Umgang für dich. Wer weiß, was da noch passieren könnte.«

»Aber Finn geht in meine Klasse. Ich kann ihm gar nicht aus dem Weg gehen.« Greta zog die Nase kraus. Ihr Vater hatte manchmal richtig dämliche Ansichten.

»Du wirst dich von ihm fernhalten.«

»Das ist echt eine schwachsinnige Idee.«

»Achte auf deine Ausdrucksweise!«, ermahnte ihre Mutter sie. Das machte Greta noch wütender. Sie stapfte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie wusste nicht, was mehr schmerzte – ihre Verletzung oder das Verbot ihres Vaters. Sie hatte sich nie etwas aus Finn gemacht, ihn immer doof gefunden. Doch nun musste sie auf einmal ständig daran denken, wie er sie geküsst hatte. Das hatte sich schön angefühlt, so weich und warm.

Einem Rabauken wie Finn Janssen traute man so was gar nicht zu. Und er hatte sie mutig genannt. Auch das hatte sie nicht erwartet. Ausgerechnet Finn Janssen fand bewundernde Worte für Greta Bubendey. Was für wundersame Dinge doch auf dieser Welt geschahen.

Sie erzählte Mareike davon, als sie an ihrem Lieblingsplatz saßen, versteckt hinter den Johannisbeerbüschen im Garten von Mareikes Eltern.

»Hui«, sagte ihre beste Freundin und tauchte mit einem Finger in ihr Tütchen mit Brausepulver ein. »Bist du verliebt in Finn?«

Greta steckte ebenfalls einen Finger in Brausepulver, Waldmeister, ihre Lieblingssorte. Es prickelte herrlich auf ihrer Zunge und schien in ihrem Magen wild zu schäumen.

»Nein, bin ich nicht«, wehrte sie hastig ab.

Ein breites Grinsen erhellte Mareikes sommersprossiges Gesicht, das von dicken, geflochtenen Zöpfen umrahmt wurde. »Ich glaube, du bist doch in ihn verliebt. Und ich dachte immer, du fändest ihn blöd. Oh Greta, das ist so aufregend!«

»Du darfst das niemandem erzählen«, sagte Greta beschwörend. »Mein Vater sagt, Finns Vater ist ein Trinker und gewalttätig.«

Mareike sah sich flüchtig um, als fürchte sie, belauscht zu werden. Dann senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Das stimmt. Mein Papa sagt, er hat Herrn Janssen schon ein paar Mal nach einer Prügelei zusammengeflickt.«

Mareikes Vater war der Arzt im Ort, Dr. Springer. Greta zog schaudernd die Schultern hoch. Finn prügelte sich auch oft. Erst neulich hatte er wieder mal eine verquollene Lippe gehabt. Hatte ihr Vater also recht, dass der Junge genauso gefährlich war wie der alte Herr Janssen?

Nachdenklich spielte Greta mit ihren blonden Zöpfen, während Mareike weiter Brausepulver futterte. Das wirklich, wirklich Dumme an der Sache mit Finn Janssen war, dass er von allen Jungen, die sie kannte, das süßeste Lächeln hatte.

In meinem Herzen nur du

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