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Geheimnisse

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In den Sommerferien ging jeder aus Travenstedt, der es sich leisten konnte, auf Reisen. Doch das waren im Sommer 1982 die Wenigsten. Dr. Springer schloss seine Praxis für drei Wochen und fuhr mit seiner Familie zum Wandern nach Österreich. Die Apothekerfamilie machte Urlaub in Dänemark. Und der Pastor war mit etlichen Gemeindegliedern zu einer Familienfreizeit nach Langeoog aufgebrochen.

Finn Janssen war noch nie verreist. Wie in allen Ferien würde er sich irgendwo draußen herumtreiben. Er hatte drei jüngere Geschwister und entfloh dem Lärm und Chaos zu Hause, wann immer er konnte. Er stromerte stundenlang in der Gegend umher und erkundete die Natur. Travenstedt lag eingebettet in Wiesen und Felder, die von Knicks begrenzt wurden, den typischen norddeutschen Wallhecken. Im Süden ragte der Todesberg auf, davor dehnte sich der See aus, der über ein Flüsschen mit weiteren Seen verbunden war. Im Sommer konnte man hier mit dem Kanu sehr ausgedehnte Touren unternehmen.

Finn war jedoch noch nie Kanu gefahren. Seine Eltern hatten mal ein Schlauchboot gekauft, in dem er mit seinem Bruder Martin an einer der Badestellen am See herumgepaddelt war. Aber nach zwei Sommern hatte das Boot ein Loch und niemand flickte es.

Doch Finn war gern am See. Früher ließ er selbstgebaute Schiffchen aus Holzrinde darauf fahren, heute übte er sich im Steinehüpfen. In diesem Sommer, in dem er elf Jahre alt war, lag sein Rekord bei vier Hüpfern, bevor der flache Stein ins Wasser sank. An den wenigen heißen Sommertagen, die es im Norden gab, ging er mit Martin oder seinen Schulfreunden im See baden. Es gab eine offizielle Badestelle mit einer Liegewiese und einem Kiosk, der auch Kanus verlieh, und einige kleinere Plätze zum Baden, die versteckt zwischen Büschen und Schilfgras lagen und vor allem bei den älteren Jugendlichen sehr beliebt waren. Finn hatte einmal ein halbnacktes Pärchen hinter einem Gebüsch entdeckt. Die beiden waren wütend geworden, als sie ihn bemerkten, und er floh mit hochrotem Kopf. Seitdem mied er diese Stellen.

Gelegentlich begleitete er in den Schulferien auch seinen Vater, der nicht nur Türen, Geländer oder Werkzeuge fertigte, sondern auch als Hufschmied arbeitete. Finn liebte Pferde, daher freute er sich immer, wenn sein Vater ihn mitnahm zu einem der Bauern in der Umgebung. Finn hielt die Pferde fest und sprach beruhigend auf sie ein, wenn sie nervös wurden. Ole Janssen erhitzte die Eisen vor dem Bearbeiten in einem Ofen, und all die fremden Geräusche und der Geruch, wenn das heiße Eisen das Horn des Pferdehufs verbrannte, gefielen nicht jedem Pferd.

Aber Finn besaß die Gabe, auch die ängstlichsten Tiere zu beruhigen. Furchtlos stand er neben riesigen Kaltblutpferden, zog ihren gewaltigen Schädel zu sich herab, murmelte unentwegt freundliche Worte in ihr Ohr und brachte sie so zur Ruhe.

Es hätte alles richtig schön sein können, doch leider war Finns Vater oft jähzornig und brüllte seinen Sohn an, sobald der etwas falsch gemacht hatte. Diese Wutanfälle steigerten sich zu einer bösartigen Raserei, wenn er betrunken war. Und das war Ole Janssen oft.

Er ging nach Feierabend regelmäßig in den Gasthof unten an der Straße und trank dort den einen oder anderen Korn zu viel. Anschließend torkelte er heimwärts, und wer ihm in die Quere kam, konnte schon mal mit Beschimpfungen oder sogar Schlägen rechnen. Und dabei machte Ole Janssen keinen Unterschied, ob es sich um Fremde oder Familienmitglieder handelte.

Darum war Finn, bei aller Begeisterung für die Arbeit eines Hufschmieds, auf der Hut, wann immer sein Vater in der Nähe war.

Bei einem der Bauern standen ein paar Ponys auf der Weide, hauptsächlich für die Kinder der Feriengäste. Als Finns Vater gerade die Hufe eines dicken Shetlandponys raspelte, sagte der Bauer zu Finn: »Die Ponys haben viel zu wenig Bewegung. Hast du nicht Lust, sie zu reiten?«

Finn blickte zögernd zu seinem Vater. Er träumte schon ewig davon, reiten zu lernen, aber die teuren Stunden im Reitverein konnten seine Eltern nicht bezahlen. Doch es war zweifelhaft, ob sein Vater nun einwilligen würde.

»Setz dem Jungen keine Flausen in den Kopf«, brummte Ole Janssen auch prompt. »Der muss erst mal ordentliche Schulnoten nach Hause bringen, da hat er genug zu tun.«

Finns Augen brannten vor Enttäuschung. »Aber mein Zeugnis war doch gut. Und jetzt sind Ferien«, sagte er und vergrub eine Hand in der dichten Mähne des Ponys. Nie war sein Vater zufrieden mit ihm.

»Falls der Junge auch mal als Hufschmied arbeiten soll, kann es nicht schaden, wenn er ein bisschen mehr über Pferde lernt«, unterstützte ihn Bauer Peters und Finn schöpfte neue Hoffnung.

Doch sein Vater schüttelte nur mit finsterem Blick den Kopf.

Finn wusste kaum, wohin mit all seiner Wut und Enttäuschung. Aus lauter Verzweiflung fuhr er zum Todesberg und sauste mit dem Fahrrad den asphaltierten Hang hinunter. Anschließend kämpfte er sich den Berg wieder hoch – er schaffte es mittlerweile bis ganz hinauf, ohne abzusteigen.

Nach dem fünften Aufstieg ließ er sich schwer atmend und erschöpft auf den Baumstumpf sinken, auf dem einmal Greta Bubendey gesessen hatte, blutend und weinend. Drei Jahre war das nun schon her. Er hatte seitdem kaum noch etwas mit Greta zu tun gehabt. Sie schien ihn zu meiden, und wann immer sie Finn zufällig doch mal alleine antraf, tat sie so, als würde sie ihn nicht sehen. Zum Glück waren sie mittlerweile auf verschiedenen Schulen, sodass er diese Schmach nur selten ertragen musste.

Doch Greta ging Finn seit jenem Tag damals nicht mehr aus dem Sinn. Ihre Verletzung hatte sicher scheußlich wehgetan, aber nach dem ersten Schreck war sie sehr tapfer gewesen. Und überhaupt, was für ein mutiges Mädchen, das tatsächlich freihändig den Todesberg hinuntergefahren war. Er konnte es kaum glauben. Einige seiner Freunde wagten das bis heute nicht.

Finn hatte Greta immer für hochnäsig gehalten. Sie trug so schicke Kleidung. Und ihre blonden Haare waren jeden Tag sehr ordentlich frisiert. Kürzlich hatte sie ihre langen Zöpfe abschneiden lassen. Mit dem modischen Pagenschnitt sah sie wunderschön und sehr erwachsen aus. Und war für Finn unerreichbarer denn je.

Er wusste genau, was Greta von ihm hielt, sie hatte es ihm früher oft genug hinterhergebrüllt. Dösbaddel – Dummkopf. Er war eben nur der Sohn eines Schmieds, ärmlich gekleidet und weniger gebildet als diese ganzen Akademikerkinder. Dabei war er in der Schule mittlerweile richtig gut, er war sich sicher, dass er das Zeug hatte, um aufs Gymnasium zu gehen. Doch das stand außer Frage.

»Wozu brauchst du Abitur?«, fragte sein Vater. »Für ehrliche Arbeit benötigt man seine Hände und nicht den Kopf.«

Also wurde er trotz guter Noten auf der Realschule angemeldet. Greta, die natürlich aufs Gymnasium ging, sah er seitdem kaum noch; nur gelegentlich liefen sie sich in der Stadt über den Weg, und dann wechselte Greta jedes Mal die Straßenseite.

Früher wäre ihm das egal gewesen, doch an jenem Tag im Sommer vor drei Jahren war irgendetwas geschehen mit ihm. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, mit Greta Bubendey zu streiten und sie zu necken. Vielmehr kränkte es ihn, wenn sie durch ihn hindurchsah, als sei er Luft. Und er sehnte sich danach, noch einmal ihre weiche Haut zu küssen und dieses süße Lächeln zu sehen, das sie ihm anschließend geschenkt hatte.

Doch nun war Greta ohnehin erst mal fort und machte mit ihrer Familie Urlaub in Dänemark. Und er, Finn, war den Launen seines Vaters ausgesetzt. Wenn der ihm wenigstens erlaubt hätte, reiten zu lernen. Das hätte ihn gut von all den trüben Gedanken abgelenkt. Aber wer weiß, vielleicht klappte es ja doch noch irgendwie. So schnell gab ein Finn Janssen nicht auf.

Drei Tage später stand Finn erneut auf dem Hof von Heinrich Peters, dem Bauern mit den Ponys. »Ich würde das mit dem Reiten gern mal probieren«, sagte er und hoffte, dass niemand merkte, wie sehr sein Herz raste.

»Hat dein Vater doch ein Einsehen mit dir gehabt?«

»Mhm.« Finn nickte. Nur nicht zu viel sagen, was nachher gegen ihn verwandt werden konnte.

Bauer Peters schaute ein wenig misstrauisch, aber er hatte keine Zeit, sich Gedanken über Finn zu machen. Er wies zu den Stallungen. »Geh mal den Hinnerk suchen, der ist da irgendwo.«

Zaghaft stapfte Finn über den Hof. Er wich einem knurrenden Hund aus und machte einen Bogen um ein paar Kuhfladen. Hinnerk Peters stand in einem dunklen Stall und verteilte gerade einen Ballen Stroh in einer Box. Er war ein paar Jahre älter als Finn, klein und untersetzt, mit einem rundlichen Gesicht.

»Reiten willst du lernen?« Er nickte bedächtig, nachdem Finn ihm sein Anliegen vorgetragen hatte. »Kein Problem. Wenn du mir beim Misten hilfst, kannst du dich nachher mal auf eins der Ponys setzen.«

Das ließ Finn sich nicht zweimal sagen. Er griff sich eine Mistgabel und Hinnerk zeigte ihm, was er zu tun hatte. Doch obwohl er kräftig für sein Alter war, bekam er bald Blasen an den Händen. Und als er die schwer beladende Schubkarre auf einem Brett, das als Steg diente, hinauf auf den Misthaufen balancierte, kippte sie um. Hinnerk lachte gutmütig.

»Das wirst du schon noch lernen.«

»Dafür weiß ich, wie man Pferde beschlägt«, sagte Finn wichtigtuerisch, und Hinnerk lachte erneut.

Und dann warf er sich endlich ein Halfter über die Schulter und führte Finn auf einen matschigen Paddock hinter dem Stall. Hier standen die Pferde, fünf insgesamt, die Finn bereits alle vom Beschlagen kannte. Zwei gescheckte Shettys, ein schmutzigweißer Isländermix und zwei braune Deutsche Reitponys, die einander so sehr ähnelten, dass Finn sie nicht auseinanderhalten konnte. Hinnerk legte das Halfter einem der beiden an und führte es zum Hof zurück, wo er es zäumte und sattelte und Finn dabei jeden Handgriff geduldig erklärte.

Das Pony hieß Falco und hatte sanfte Augen. Es stand gehorsam still, bis Finn aufgestiegen war und Hinnerk die Steigbügel in der Länge angepasst hatte. Zögernd nahm Finn die Zügel auf und presste die Schenkel gegen Falcos Leib. Der lief tatsächlich los. Seine Bewegungen waren weich und schwingend und er trug Finn in eifrigem Zuckelschritt Runde um Runde auf dem Reitplatz, während Finn sich an das Gefühl des harten Sattels zwischen den Beinen und der Lederzügel in seinen Händen gewöhnte.

Hinnerk war ein guter Lehrer, geduldig und freundlich, und Finn fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Als er nach einer Weile steifbeinig aus dem Sattel glitt, sagte Hinnerk: »Wenn du mir morgen wieder beim Misten hilfst, machen wir weiter.«

Finn nickte begeistert.

Doch er hatte nicht bedacht, dass die Stallarbeit und das Reiten Spuren hinterlassen würden. Am nächsten Tag stellte seine Mutter ihn zur Rede.

»Warum stinken deine Sachen so, Finn?«, fragte sie und hielt ihm anklagend den Pulli und die Jeans vor die Nase, die er gestern getragen hatte. Der feine, aber intensive Pferdeduft war nicht zu leugnen, und obendrein war der Pullover voller Haare.

Finn, der gerade in der Küche stand und sich ein Butterbrot machte, wurde nervös, vor allem, weil in diesem Moment die Haustür aufging und sein Vater heimkehrte.

»Finn Janssen, ich warte auf eine Antwort.« Seine Mutter stand drohend vor ihm.

»Die hatte ich doch am Dienstag an, als ich mit Papa auf dem Försterhof zum Beschlagen war.«

»Dienstag?« Seine Mutter kniff die Augen zusammen. »Die Sachen habe ich längst alle gewaschen.«

»Ja?« Finn bemühte sich verzweifelt um einen unschuldigen Blick. »Dann war das wohl, als Hinnerk Peters mir erlaubt hat, auf einem Pony zu sitzen, das er von der Weide geführt hat.«

»Hinnerk Peters?« Seine Mutter runzelte die Stirn. »Der Sohn von Heinrich Peters? Was hast du mit dem zu schaffen? Der ist doch viel älter als du.«

»Ich bin nur zufällig vorbeigekommen, als ich auf dem Rückweg vom Milchmann war.« Finn verstrickte sich immer mehr in seiner Lügengeschichte.

»Vom Milchmann?« Seine Mutter wirkte kein bisschen überzeugt. »Der liegt doch gar nicht auf dem Weg zum Petershof.«

Finn überlegte fieberhaft, wie er die Geschichte glaubwürdiger machen konnte, als sein Vater in der Tür erschien. Ole Janssens Gang war unsicher und sein Blick verschwommen. Mit schwerer Zunge fragte er: »Was ist los hier? Warst du etwa auf dem Petershof?«

Finn schüttelte entsetzt den Kopf. »Nein«, sagte er hastig. »Ich bin nur an der Weide vorbeibekommen.«

»Ich hab dem Jungen verboten, sich auf dem Hof rumzutreiben«, sagte sein Vater.

Er schwankte heftig und musste sich am Türrahmen festhalten. Finn sah seiner Mutter an, dass sie genauso entsetzt war wie er. Es war noch keine vier Uhr nachmittags und sein Vater bereits sturzbetrunken. Seit geraumer Zeit wurde es immer schlimmer mit seiner Sauferei.

»Finn war auch nicht auf dem Hof«, murmelte sie und verbarg die Kleidungsstücke hinter ihrem Rücken.

»Was hastn da?« Der Blick von Finns Vater wurde misstrauisch.

»Schmutzige Wäsche.« Sie versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben, ohne ihn anzusehen. »Ich muss wieder runter in den Waschkeller.«

»Und warum versteckst du die Sachen vor mir?« So betrunken Ole Janssen auch war, er bekam doch noch genau mit, was um ihn herum geschah. »Zeig mal her!« Er streckte eine Hand aus.

»Was soll das, Ole?« Annemarie Janssens Stimme zitterte. »Es ist eine schmutzige Hose, nichts weiter. Und ein Pullover.«

»Zeig mir, was du da hast!« Ole Janssen packte ihren Arm und riss ihn nach vorne. Finns Mutter schrie auf vor Schmerz.

»Nicht, Papa, du tust ihr doch weh!«, rief Finn.

Sein Vater reagierte nicht. Er entwand seiner Frau den Pulli und schnüffelte daran.

»Dachte ich’s mir doch!« Seine Stimme wurde zu einem gefährlichen Knurren. »Ihr habt mich angelogen. Alle beide.«

»Ich hab doch gesagt, dass ich bei der Weide vorbeigekommen bin«, rief Finn verzweifelt. »Da habe ich die Pferde angefasst. Durch den Zaun.«

»Ach, und wie kommen die ganzen Haare hier auf den Pullover? Die sind durch den Zaun hindurchgeflogen, oder was?«

Es lag etwas Gehässiges im Blick seines Vaters, als wolle er Finn bewusst quälen.

»Er saß nur mal kurz drauf, als Hinnerk das Pony von der Weide geführt hat«, sagte Annemarie Janssen, aber die Zweifel über die Richtigkeit dieser Geschichte waren ihr deutlich anzuhören.

»Ach.« Ole Janssen starrte sie aus wässrigen Augen an. »Eben hat er noch gesagt, er hätte sie nur angefasst.« Er schlug so heftig auf den Küchentisch, dass das Geschirr klirrte, das darauf stand. »Ich hasse es, wenn du mich anlügst, Anne.« Er hob drohend die Hand.

»Nicht!«, schrie Finn und sprang zwischen seine Eltern. »Nicht schlagen, Papa, bitte nicht schlagen. Ich tu es auch nie wieder.«

Sein Vater fuhr herum, schwer atmend und mit fahrigen Bewegungen. »Du verlogener Bengel, ich werd dir das Lügen schon noch austreiben.« Er ohrfeigte Finn so heftig, dass dessen Kopf gegen den Küchenschrank schlug. Benommen ging Finn zu Boden. Seine Mutter schrie auf, sein Vater brüllte, dann war Stille.

Finn hockte weinend auf den Fliesen, bis seine Mutter sich zu ihm beugte und ihm ein nasses Handtuch an den schmerzenden Kopf hielt.

»Was ist denn nur los mit dir, Finn?« Sie klang erschöpft. »Wenn der Papa dir was verbietet, darfst du es doch nicht heimlich machen. Hast ja gesehen, was dabei herauskommt.«

Finn schluchzte. »Ich würde aber so gerne reiten.«

»Ach, Finn.« Seine Mutter fuhr ihm mit einer müden Geste durch die Haare. »Ich würde auch alles Mögliche gern machen. Das geht aber nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Weil nicht alle Wünsche in unserem Leben in Erfüllung gehen. Genau genommen die wenigsten.«

Greta konnte es kaum erwarten, Mareike endlich wiederzusehen. Dummerweise waren die Springers erst in Urlaub gefahren, als die Bubendeys schon wiederkamen, und so hatten sie sich tatsächlich beinah die ganzen Sommerferien über nicht gesehen.

Gretas Familie wohnte mitten in der Altstadt, in einem Backsteinhaus mit einem winzigen Vorgarten, in dem sich Spalierrosen an der Hauswand emporrankten, und einem hinteren Garten, in dem zwei Apfelbäume standen und in einem umzäunten Beet Dahlien in allen Farben blühten. In einer Ecke neben dem Schuppen gab es eine Schaukel und daneben eine verwaiste Sandkiste, die allmählich von Himbeeren überwuchert wurde. Selbst die achtjährige Julia hatte mittlerweile keine Lust mehr, im Sand zu buddeln.

Gretas Zimmer lag im ersten Stock unter einer Dachschräge. Aus einem Dachfenster blickte sie hinaus in den Garten. Wenn sie auf ihrem Bett lag, sah sie nur den Himmel, und als sie kleiner gewesen war, hatte sie viele Stunden damit zugebracht, Figuren in den Wolken zu entdecken. Jetzt saß sie an ihrem Schreibtisch und klebte Urlaubsfotos in ein Fotoalbum – Erinnerungen an die dänische Dünenlandschaft und ihr reetgedecktes Ferienhaus, in dem sie die letzten Wochen verbracht hatten. Julia hockte auf Gretas Bett, im Kassettenrekorder lief ein Hörspiel von Hanni und Nanni.

Greta klappte das Fotoalbum zu.

»Gehen wir jetzt baden?«, fragte Julia und hüpfte vom Bett.

»Nein. Ich fahre zu Mareike, die ist seit gestern Abend wieder zu Hause.«

Julias pausbäckiges Gesicht verzog sich vor Enttäuschung, und einen Moment lang tat es Greta leid, dass sie ihre Schwester alleine ließ. Früher hatten sie viel mehr zusammen gespielt. Doch seit Greta auf dem Gymnasium war, fand sie Julias Spiele immer häufiger langweilig und kindisch.

»Aber du hast es mir versprochen«, maulte Julia und fasste nach ihren Haaren, die sie in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie schlang sich eine Strähne um die Hand, als wolle sie sich daran festhalten.

Greta stand auf. »Ich habe gesagt, ich komme vielleicht mit, falls Mareike heute noch keine Zeit hat.« Sie ging die Treppe hinunter und zog ihre Sandalen an. Julia folgte ihr. »Was ist mit deinen Freundinnen? Wollen die alle nicht baden?«

»Doch. Aber ich wollte lieber mit dir gehen.« Julia schob ihre Unterlippe vor.

»Morgen vielleicht, ja?«

»Vielleicht, vielleicht, vielleicht«, murmelte Julia geknickt und verschwand im hinteren Teil des Hauses.

Greta verabschiedete sich von ihrer Mutter und machte sich auf den Weg zu Mareike. Die Familie Springer lebte etwas außerhalb, umgeben von Wiesen und Feldern. Greta fuhr aus dem Stadtzentrum hinaus und bog bald in einen Seitenweg, der sie an Gärten vorbei ins Grüne führte. Sie vermied es, mit ihrem Fahrrad auf der verkehrsreichen Landstraße zu fahren, und wählte immer einen Weg durch ein Wäldchen und an ein paar Rinder- und Pferdeweiden entlang. Das war zwar ein Umweg, aber Greta liebte die Strecke.

Hier musste sie nicht auf den Verkehr achten, sondern konnte vor sich hinträumen – zum Beispiel von einem eigenen Pferd, das auf einer dieser Weiden stand. Außerdem malte sie sich aus, was sie Mareike alles erzählen wollte. Sie freute sich schon darauf, mit ihr hinter den Johannisbeerbüschen zu sitzen und Urlaubserlebnisse auszutauschen.

Auf dem Feldweg zwischen zwei Rinderweiden kam ihr auf einmal Finn Janssen auf seinem Fahrrad entgegen. Er hatte diesen finsteren Blick drauf, den er immer aufsetzte, wenn er sie sah. Und nun wandte er sein Gesicht auch noch ab und trat kräftig in die Pedale, um wortlos an Greta vorbeizusausen. Sie sah trotzdem, dass er ein blaues Auge hatte.

Oh weh, dachte sie bestürzt, Finn hat sich wieder mal geprügelt. Offenbar war er aus dem Alter immer noch nicht raus. Sie konnte es kaum erwarten, Mareike davon zu berichten.

»Stell dir vor«, sagte sie aufgeregt, als sie endlich hinter den Johannisbeerbüschen auf dem Rasen saßen. »Der kloppt sich immer noch wie so ein Erstklässler. Aber offenbar hat er diesmal den Kürzeren gezogen, so vermöbelt wie er aussah.«

Mareike fielen die braunen, langen Haare ins Gesicht, als sie sich vorbeugte. »Hör mal, was ich dir jetzt sage, ist absolut geheim, okay?«

Greta nickte begeistert. Sie liebte Geheimnisse.

»Versprich mir, dass du niemandem erzählst, dass ich es dir erzählt habe, okay?«

Wieder nickte Greta und hob die Hand. »Großes Ehrenwort.«

Mareike rückte ein Stückchen näher an sie heran. »Finn hat sich nicht geprügelt. Er wurde verprügelt. Von seinem Vater.«

»Was?« Greta starrte Mareike entgeistert an. Ole Janssen hatte seinen Sohn so zugerichtet? Unmöglich.

»Psst!« Mareike sah sich hastig um. »Ich habe das gestern zufällig aufgeschnappt. Meine Mutter hat das wohl von einer Nachbarin gehört. Und ich darf es offiziell gar nicht wissen. Meine Eltern haben sofort aufgehört zu reden, als sie mich bemerkt haben.«

Gretas Freude über das Wiedersehen mit Mareike löste sich schlagartig in Luft auf. Finn wurde von seinem Vater grün und blau geschlagen? Das konnte unmöglich wahr sein. Niemand durfte Finn wehtun, den sie seit Jahren heimlich verehrte, schon gar nicht sein eigener Vater. Etwas krampfte sich in Gretas Innerem zusammen, als empfinde sie den körperlichen Schmerz, den man Finn zugefügt hatte, selber. Ihr wurde schwindelig und ganz flau im Magen.

Unwillkürlich berührte sie die feine Narbe unter ihrem Auge, die nach ihrem Unfall damals zurückgeblieben war.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Mareike besorgt.

Greta nickte beklommen.

»Du findest ihn immer noch toll, oder?« Mareikes mitfühlender Blick tat ihr gut. Konnte es eine bessere Freundin geben?

»Ja«, sagte sie leise. »Aber das darf auch niemand wissen. Mein Vater will nicht, dass ich Kontakt zu Finn habe.«

»Ich weiß.« Mareike legte den Arm um Greta. »Trotzdem ist es so gemein, wie er behandelt wird.«

Das war es allerdings. Gemein und einfach nur unerträglich.

»Ich hab was für dich.« Mareike griff in die Taschen ihrer Jeans. »Es kann dich trösten und beschützen.« Sie zog ein winziges Holzpüppchen hervor, das nur aus einem Kopf und einem Bauch bestand und an einer neongrünen Kordel hing.

»Ein Glücksbringer!«, rief Greta begeistert. Sie hatte vor den Ferien schon einige dieser Püppchen bei ihren Klassenkameradinnen in der Schule gesehen – es gab sie in allen Farben und sie baumelten an Federmappen und Schultaschen, an Hosen und Jacken. Nun besaß Greta endlich auch eins.

»Es wird mich ewig beschützen«, sagte sie andächtig und Mareike nickte eifrig.

Auf dem Heimweg dachte Greta unentwegt an Finn. Sie wünschte, sie könnte einfach zu ihm gehen, ihn an der Hand nehmen und mit ihm fortlaufen, an einen sicheren Ort, an dem er nicht geschlagen wurde. An einen Ort, an dem er sie vielleicht wieder küssen würde.

Greta steuerte eine Pferdeweide an, die auf ihrem Weg lag, und auf der gelegentlich ein paar Ponys grasten. Sie sahen nicht so schick aus wie die großen Pferde im Reitverein, in dem Greta seit dem vergangenen Jahr ritt, aber das war ihr egal.

Da standen auch schon zwei am Zaun und reckten ihre Hälse in Richtung eines Jungen, der mit ihnen sprach. Beim Näherkommen erkannte Greta, dass es Finn Janssen war.

Nun liefen sie sich heute bereits zum zweiten Mal über den Weg. Greta wollte schon wortlos weiterfahren, aber sie brachte es einfach nicht fertig.

Finn warf ihr einen schnellen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Ponys, einen Schimmel und einen Braunen. Er kraulte den Braunen zwischen den Ohren, der schloss die Augen halb und senkte seinen Kopf noch tiefer herab.

Greta hielt an. »Das gefällt ihm.«

»Ich weiß«, brummte Finn. Er sah sie immer noch nicht an.

Greta umklammerte ihren Fahrradlenker und wartete ab. In der Reitschule gab es ein Pferd, das jedes Mal misstrauisch guckte, wenn ihm jemand zu nahe kam, und die Zähne bleckte. Greta hatte ewig Angst vor ihm gehabt – bis sie eines Tages so lange vor seiner Box stehen blieb und mit ihm sprach, bis es von selber zu ihr kam und die Nase leise schnaubend zwischen den Gitterstäben hindurch steckte.

Vielleicht, so dachte sie, verloren sie und Finn ja auch die Scheu voreinander, wenn sie nur lange genug stehenblieb.

Finn empfand es als schreiende Ungerechtigkeit, dass sein Vater ihm das Reiten verboten hatte. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, außer den, dass sein Vater ihn nicht liebte und ihn daher derart bestrafte. Das Einzige, was ihm blieb, waren die gelegentlichen Ausflüge zu einer der Weiden, wo er Stunden damit zubrachte, den Pferden beim Grasen zuzuschauen.

Hier, bei diesen schönen, sanften Tieren, die dennoch über so viel Kraft verfügten, fühlte er sich wohl. Von ihnen ging keine Bedrohung aus.

Und nun wurde die friedliche Stimmung ausgerechnet durch Greta Bubendey gestört. Finn wappnete sich schon für ihren hochnäsigen Blick, mit dem sie sich in der Regel von ihm abwandte, als sie völlig überraschend bremste und von ihrem Rad stieg.

Hastig drehte er den Kopf fort, damit sie sein Gesicht nicht sah. Er hatte von dem Sturz gegen den Küchenschrank eine Schwellung davongetragen, die mittlerweile in allen Violetttönen schillerte.

Finn konzentrierte sich darauf, Gras zu rupfen und es Falco und Polly über den Zaun zu reichen. Er spürte Gretas Blicke im Nacken, sie schien jede seiner Bewegungen aufmerksam zu verfolgen. Das verunsicherte ihn und machte ihn nervös. Als er sich verstohlen nach ihr umsah, stellte er fest, dass sie sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Sie stand reglos da, ihr schickes, neues Fahrrad zwischen den Beinen, die Arme auf dem Lenker abgestützt, und beobachtete Finn unverwandt.

»Was gibts denn da zu glotzen?«, fragte er unwirsch.

»Nichts.« Gretas Stimme klang weniger forsch als sonst, aber sie blieb reglos stehen.

Finn riss ein Grasbüschel aus, das er Polly ins Maul schob. Er würde jetzt zu gern einfach zu Greta hinüberschlendern und irgendetwas Lässiges sagen, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Seine große Klappe hatte ihn genauso verlassen wie sein Mut.

Langsam und sehr umständlich stieg Greta wieder auf ihr Rad und fuhr im Schneckentempo weiter. Enttäuschung breitete sich in Finns Bauch aus, und im nächsten Moment schwang er sich auf seine klapprige Rostlaube und fuhr in einigem Abstand hinter Greta her. Erst als sie den Feldweg verließen und auf eine Straße gelangten, die in den Ort führte, holte er zu ihr auf.

Sie war braun gebrannt und ihre Haare, die ihr offen auf die Schultern fielen, waren noch heller als sonst. Die blauen Augen leuchteten wie die Kornblumen am Wegesrand. Finn brachte vor Bewunderung keinen Ton heraus.

Greta lächelte, aber es war nicht das freche Grinsen, das er an ihr kannte. Vielmehr wirkte sie verlegen, als sei es ihr peinlich, Seite an Seite mit Finn zu radeln.

Er wollte schon davonsausen, um sich nicht weiter zu blamieren, als sie unvermittelt das Schweigen brach.

»Ich finde das voll gemein.«

»Was?«

»Das da.« Sie zeigte auf seine blutunterlaufene Wange.

Finn zuckte zusammen, als habe Greta ihn geschlagen. »Ich hab mich am Küchenschrank gestoßen.«

»Ich weiß.« Sie sprach mit solch einer Bestimmtheit, dass Finn erschrak.

Ihm war klar, dass die ganze Stadt über seinen Vater tratschte, und er schämte sich dafür. Aber dass Greta davon wusste, beunruhigte ihn besonders. Es war, als würde sie seine privatesten Geheimnisse kennen.

»Es tut mir so leid«, sagte sie leise und Finn musste sich rasch abwenden, weil er den Ausdruck in ihren Augen nicht ertrug.

»Ist ja nicht deine Schuld«, sagte er ebenso leise.

»Nein. Aber deine Schuld ist es auch nicht.«

Noch bevor Finn sich von seinem Erstaunen erholt hatte, tauchten auf der Straße zwei Mädchen aus Gretas Schule auf. Sie gesellte sich lachend zu ihnen und schien Finn augenblicklich vergessen zu haben.

Er stellte sich in die Pedale und machte, dass er fortkam.

Im August gab es einige sehr heiße Tage und Greta fuhr mit Mareike nach der Schule zum Baden an den See. Halb Travenstedt war hier versammelt. Greta und Mareike gesellten sich zu ein paar Mädchen aus ihrer Klasse. Sie breiteten ihre Badelaken aus und gingen alle zusammen schwimmen. Der Untergrund des Sees war an dieser Stelle sandig und fiel flach ab, sodass auch kleine Kinder gefahrlos plantschen konnten. Erst nach etlichen Metern wurde das Wasser deutlich tiefer und dann auch gleich sehr kalt.

Nachdem sie eine Weile ausgelassen herumgetobt hatten, trockneten sie sich ab und Greta und Mareike reihten sich in die lange Schlange am Kiosk ein, um Eis zu kaufen. Sie mussten ewig warten, die Sonne brannte ihnen auf den Kopf, und Greta trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Ihr Blick schweifte über die Liegewiese. Es hatten sich überall größere Gruppen gebildet – hier hockten ein paar Freundinnen aus Julias Klasse zusammen, da saßen Jungs und Mädchen aus der Haupt- und Realschule beieinander. Einige der Jungen kickten einen Ball hin und her, was zwischen all den Leuten, die auf ihren Handtüchern lagen, ein heikles Unterfangen war.

Greta entdeckte eine Gruppe Jungen aus ihrer Klasse, von denen drei jetzt auch zum Kiosk schlenderten.

»Die Schönlinge sind im Anmarsch«, zischte sie Mareike zu, die sich sofort neugierig umdrehte.

Der Anführer der Gruppe war Markus Weiß, ein Junge mit einem mädchenhaft schönen Gesicht, das von blonden Locken umrahmt wurde. Auch seine Begleiter sahen ausgesprochen hübsch aus. Sie alle zeichneten sich dadurch aus, dass sie immer besonders schick angezogen herumliefen und sehr wichtig taten. An diesem Tag trugen sie allerdings nur Shorts oder Badehosen. Wichtig und schick sahen sie trotzdem aus. Jetzt reihten sie sich an der Schlange vor dem Kiosk ein.

Mareike stieß einen leisen Seufzer aus und Greta kicherte. Sie wusste, dass ihre Freundin heimlich für Markus schwärmte, obwohl sie offiziell behauptete, er sei ein schrecklicher Angeber.

»Das geht ja hier nie weiter«, stöhnte sie mit einem Blick nach vorne. Soeben hatte jemand vier Portionen Pommes und Currywurst bestellt. Das konnte dauern. Sie schaute sich erneut um, und da entdeckte sie Finn bei den Jungen, die Fußball spielten. Er trug eine abgeschnittene Jeans und rannte auf nackten Füßen hinter dem Ball her. Heimlich bewunderte Greta, wie geschickt er einem Mitspieler den Ball abnahm.

»Ich nehme ein Capri. Oder doch lieber Cola Pop?«, überlegte Mareike, und Greta zwang sich, den Blick von Finn abzuwenden.

»Ich nehme ein Dolomiti«, erklärte sie. »Wie immer.«

Da entstand hinter ihnen ein Tumult.

»Pass doch auf, du Penner!«, rief Markus Weiß wütend. Alle drehten sich neugierig um. Offenbar war Markus von dem Ball getroffen worden, mit dem Finn und seine Freunde spielten. Jemand sagte etwas, was Greta nicht verstand. Daraufhin trat Markus aus der Reihe.

»Sag das noch mal!« Er baute sich drohend vor Finn auf, der am nächsten zu ihm stand.

»Ich habe nichts gesagt«, erklärte Finn, was stimmte.

»Nicht Fußball spielen können und dann auch noch frech werden«, höhnte Markus und trat noch dichter an Finn heran.

Greta hielt den Atem an, als die beiden Jungen einander grimmig musterten.

»Du stinkst«, sagte Finn angewidert und schubste Markus vor die Brust. »Hau ab!«

»Fass mich nicht an, du Wichser!«

Die Luft flirrte, die Worte flogen hin und her und Gretas Herz raste vor Schreck. Finn wurde von seinen Kumpels umringt und auch Markus erhielt Unterstützung von seinen Freunden. Sie vertraten Gruppen, die von je her verfeindet waren. Die Haupt- und Realschüler behaupteten, die Gymnasiasten seien arrogant und versnobt. Die Gymnasiasten wiederum hielten die Haupt- und Realschüler für aggressiv und dumm.

»Selber Wichser!«, rief einer von Finns Freunden.

»Was für Idioten«, brummte Finn und wandte sich zum Gehen.

»Das musst du grade sagen.« Markus gab noch nicht auf. »Du bist doch genau so ein Depp wie dein versoffener Alter.«

Greta presste die Hände ineinander. Das war unfair von Markus und sehr gemein.

Finn fand das offenbar auch. In einer rasend schnellen Bewegung drehte er sich um und stürzte sich auf Markus. Er schlug so rasch zu, dass Markus überrascht taumelte und zu Boden ging. Aber er war sofort wieder auf den Beinen und im Nu droschen er und Finn aufeinander ein.

Markus landete einen Kinnhaken bei Finn, dessen Unterlippe aufplatzte und blutete. Ohne nachzudenken sprang Greta hinzu.

»Hör auf damit«, schrie sie Markus an. »Du tust ihm doch weh!«

Markus hielt kurz inne und starrte sie irritiert an. Finn nutzte den Moment und boxte ihm kräftig in die Rippen. Markus schlug augenblicklich zurück.

»Aufhören!«, schrie Greta erneut. »Lass ihn los, du … du Pimmel!«

Die Menge grölte. Markus fuhr wütend herum und schubste Greta so heftig, dass sie gegen ein paar Leute taumelte, die hinter ihr standen. »Hau ab, du Fotze«, zischte er.

»Schluss jetzt!«, sagte ein Mann ärgerlich, und Greta zog den Kopf zwischen die Schultern.

Die Jungen reagierten nicht, sie kamen nun erst richtig in Fahrt. Markus war etwas größer als Finn, aber Finn war kräftiger. Und wütender. Er hatte offenbar vor, Markus windelweich zu prügeln.

Mareike zupfte Greta am Arm. »Komm hier bloß weg. Die vermöbeln dich sonst auch noch.«

Aber obwohl Greta Angst hatte, rührte sie sich nicht vom Fleck. In einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen beobachtete sie, wie Finn und Markus sich bis aufs Blut prügelten. Einer von Finns Freunden versuchte nun ebenfalls vergeblich, die Raufbolde zu trennen, doch er wurde nur mit in die Schlägerei hineingezogen. Ein weiterer Junge mischte sich ein, und da gab es auf einmal ein großes Gemenge, in das immer mehr Jungen verwickelt wurden.

Sie schrien und brüllten, schlugen und boxten.

Es war ein gewaltiges Spektakel.

Die Raufbolde waren erst auseinanderzubringen, als der Kioskbetreiber einen Schlauch auf sie hielt und ein harter Strahl kalten Wassers die ersten nackten Oberkörper traf. Da stoben sie schreiend auseinander.

Der Kioskbetreiber packte Finn und Markus am Arm. »Seht zu, dass ihr fortkommt«, schimpfte er. »Und lasst euch hier so bald nicht wieder blicken.«

Die Jungen trollten sich endlich, nass und zerschrammt, mit blutenden Lippen und Nasen. Greta fühlte sich so zittrig und erschöpft, als habe sie selber gekämpft. Und in gewisser Weise hatte sie das ja auch.

»Dein Finn ist echt brutal«, stellte Mareike fest.

»Ach.« Greta funkelte sie an. »Wer hat denn angefangen? Schlag dir Markus Weiß bloß aus dem Kopf. Der ist ja wohl der fieseste Junge, den ich kenne.« Sie stapfte zu ihrem Lagerplatz zurück.

Erst zu spät fiel ihr ein, dass sie gar kein Eis gekauft hatte. Doch da kam auch schon Mareike angerannt, mit zwei Eistüten in der Hand. Eine gab sie Greta. »Wäre doch blöd, wenn wir die ganze Zeit umsonst angestanden hätten.«

Greta nickte dankbar, immer noch aufgewühlt von den Geschehnissen. Sie riss das Papier auf und leckte freudlos über die weiße Spitze ihres Dolomitis.

»Pimmel, hm?«, kicherte Mareike. »Ich wusste gar nicht, was für Wörter du kennst.«

»Ich auch nicht«, brummte Greta. Dann musste sie auch grinsen. Sie wusste selbst nicht mehr, was da vorhin in sie gefahren war. Aber als sie Finn bluten sah, vergaß sie alle Angst und Vorsicht und wurde nur noch von dem einen Gedanken beherrscht: ihm beizustehen. Allerdings hatte er ihren Einsatz nicht sonderlich geschätzt, vielmehr schaute er sie kein einziges Mal an, nachdem die Klopperei vorbei war.

»Aber sag mal, was ist eigentlich eine Fotze?«, fragte Mareike und schleckte genüsslich an ihrem Cola-Eis.

»Keine Ahnung. Was ziemlich Hässliches würde ich sagen, wenn Markus mich so bezeichnet.«

Der Herbst war in diesem Jahr stürmisch und kalt. Die Leute zogen sich in ihre Häuser zurück. Gretas Eltern hatten einen Kamin in ihrem Wohnzimmer, vor dem sich die Familie abends versammelte. Sie spielten eine Runde Rommé, dann griff sich Erika Bubendey einen Korb mit Wäsche, die geflickt werden musste. Greta holte sich ein Buch, sie las gerade Fünf Freunde auf Schmugglerjagd von Enid Blyton, das sie wahnsinnig spannend fand. Julia saß am Wohnzimmertisch und bastelte undefinierbare Papiergebilde.

Ihr Vater gesellte sich zu Julia und stellte ihr auf spielerische Weise Rechenaufgaben, die sie alle perfekt löste.

»Das machst du sehr gut, Julia.« Hartmut Bubendey nickte zufrieden. »Und nun wollen wir mal sehen, was Greta kann.«

Greta, die sich gerade an einer besonders spannenden Stelle in ihrem Buch befand, hob flüchtig den Kopf.

»Also, Greta, pass auf: Die Polizei stellt bei der Überprüfung von vierhundert Fahrrädern fest, dass fünfundzwanzig Prozent davon defekt sind. Wie viele Räder sind das?«

Greta sah in die Runde. Alle starrten sie erwartungsvoll an. Sie hasste es, wenn ihr Vater sie zwang, sich mit Dingen zu befassen, die sie nicht interessierten. Aber sie wollte keinen Streit anfangen. Also bemühte sie sich, von Abenteuerroman auf Kopfrechnen umzuschalten, was gar nicht so leicht war.

Im Kamin prasselte das Feuer, während die gesamte Familie Bubendey darauf wartete, dass Greta diese an sich simple Rechenaufgabe löste. In der Schule musste sie viel kompliziertere Aufgaben bewältigen.

»Ich habe das viel schneller geschafft«, krähte Julia, und Greta verspürte auf einmal den hässlichen Drang, ihrer kleinen Schwester eine schallende Ohrfeige zu verpassen.

»Nun, Greta?« Ihr Vater hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Er trug wie immer Anzughose, ein weißes Hemd, Krawatte und einen Strickpullover mit V-Ausschnitt. Seine dunklen, schütteren Haare hatte er akkurat gescheitelt. Mit strenger Miene wartete er auf Gretas Antwort.

»Fünfundsiebzig«, sagte sie, und als ihr Vater missbilligend die Stirn runzelte, löste sich der Knoten in ihrem Kopf und sie korrigierte hastig: »Nein, nein, hundert.«

»Bist du dir sicher?«

Greta nickte, aber sie war sich keineswegs sicher. Ihr Vater verunsicherte sie mehr als ihre Mathelehrerin. Die war eigentlich eine freundliche Frau und schaute nicht halb so streng wie Hartmut Bubendey.

Ihr Vater hob gerade zu einer neuen Aufgabe an, als Erika Bubendey sagte: »Kann es sein, dass der Rauchabzug vom Kamin nicht richtig funktioniert?«

»Warum?« Ihr Mann hob erstaunt den Kopf.

»Ich habe das Gefühl, dass es hier sehr stickig ist. Mir ist direkt ein wenig flau.«

Hartmut Bubendey stand auf und begutachtete den Kamin. »Es ist alles in Ordnung. Sonst würde es qualmen.«

»Ja, sicher.« Gretas Mutter legte ihr Stopfzeug zur Seite. »Ich gehe mal kurz auf die Terrasse, brauche ein bisschen Sauerstoff.«

»Bei dem Wetter?« Greta schaute zu den Wohnzimmerfenstern, gegen die der Regen prasselte.

Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen öffnete sie die Terrassentür. Kalte, feuchte Luft fegte herein und das Kaminfeuer flackerte heftig. Erika Bubendey tat ein paar tiefe Atemzüge. Als sie sich wieder umdrehte, waren ihre Haare vom Wind zerzaust und ihr Gesicht vom Regen benetzt.

»Vielleicht werde ich krank«, murmelte sie. »Ich mache mir mal einen Tee und gehe zu Bett.«

Greta sah ihrer Mutter beunruhigt hinterher. Sie war doch nie krank. Und sie ging auch nie vor ihren Kindern schlafen.

Ihr Vater klatschte in die Hände. »Für euch ist auch Schlafenszeit. Ab ins Badezimmer zum Zähneputzen.«

»Jetzt schon?« Greta sah auf die Uhr. Normalerweise durfte sie immer noch etwas länger als Julia aufbleiben.

»Allerdings. Für dich gibt es keine Extrawurst, mein Fräulein.«

Murrend folgte Greta ihrer Schwester ins Badezimmer. Zum Gutenachtsagen kam an diesem Abend nur ihr Vater an ihr Bett. Auch das war ungewöhnlich. Nachdem sie alleine war, wälzte Greta sich eine Weile im Bett hin und her. Dann holte sie eine Taschenlampe aus ihrer Nachttischschublade. Unter der Bettdecke las sie ihr Buch fertig. Sie musste einfach wissen, wie es ausging, auch wenn sie dadurch viel zu spät einschlief.

Am nächsten Morgen erschien ihre Mutter im Morgenmantel zum Frühstück. Das kam sonst nie vor. Normalerweise war sie immer schon angezogen, wenn die Mädchen aufstanden.

»Bist du wieder gesund, Mama?«, fragte Greta.

»Ein bisschen Kopfweh habe ich noch, das ist alles.« Erika Bubendey schmierte lächelnd Butterbrote für die Schule, wie sie es jeden Morgen tat.

Als Greta mittags heimkam, verkündete ihre Mutter, es gäbe heute Tiefkühlpizza. Hartmut Bubendey, der ebenfalls jeden Mittag zum Essen nach Hause kam, zog überrascht die Augenbrauen hoch, aber seine Töchter waren hellauf begeistert. Normalerweise gab es bei ihnen nie so tolle Sachen, immer nur Gemüse, Kartoffeln und Fleisch.

»Habt ihr viele Hausaufgaben auf?«, fragte ihre Mutter.

»Bei mir geht es ganz schnell.« Julia stopfte ein Stück Salamipizza in ihren Mund.

»Bei mir ist es eine Menge«, erklärte Greta verdrossen. »In Erdkunde müssen wir Landkarten zeichnen, das dauert bestimmt ewig.«

»Nun, dann setz dich bitte gleich ran. Und du auch, Julia. Erst Hausaufgaben, dann Spielen.« Erika Bubendey sah ihre Töchter der Reihe nach mahnend an. »Ich werde mich inzwischen ein Stündchen hinlegen, so ganz wohl ist mir immer noch nicht.«

Bald darauf stand sie auf und verließ die Küche.

Hartmut Bubendey wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ihr habt gehört, was eure Mutter gesagt hat.«

Die Mädchen nickten.

»Und seid leise, ja? Eure Mutter braucht ein bisschen Ruhe.«

Wieder nickten die Mädchen, diesmal erstaunt. Von ihrem Vater kannten sie es durchaus, dass er sich zu einem kurzen Mittagsschlaf zurückzog, bevor er wieder in die Apotheke ging. Aber ihre Mutter legte sich nie tagsüber hin.

Doch sie begriffen bald, dass sich etwas verändert hatte. Immer häufiger klagte ihre Mutter in nächster Zeit über Müdigkeit und Kopfschmerzen, und bald wurde es ihr zur Gewohnheit, sich jeden Mittag für ein, zwei Stunden zurückzuziehen. In dieser Zeit hatte absolute Stille zu herrschen, selbst das Telefon schaltete ihr Mann aus, bevor er wieder zur Arbeit ging.

»Was hast du denn, Mama?«, fragte Julia einmal.

»Ach, mir ist nur ein wenig schwindelig. Das kommt von den dummen Kopfschmerzen. Aber wenn ich mich ausruhe, wird es rasch besser.« Ihre Mutter zog Julia auf ihren Schoß. »Hast du Lust, mit mir Plätzchen zu backen? Advent ohne Plätzchen ist doch doof, oder?«

»Ja!«, rief Julia begeistert und klatschte in die Hände.

Doch später kam sie in Gretas Zimmer, hockte sich mit angezogenen Beinen auf ihr Bett und presste ihr Monchhichi an ihre Brust. Das affenähnliche Plüschtier schleppte sie neuerdings ständig mit sich herum. Die langen Haare fielen ihr unordentlich in das rundliche Gesicht. Normalerweise achtete ihre Mutter immer darauf, dass Julia ihre blonde Mähne mit einer Spange bändigte. Das hatte sie heute offenbar vergessen.

»Glaubst du, Mama stirbt?«

»Was?« Greta sah ihre kleine Schwester entgeistert an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Elisabeths Oma hatte auch oft Kopfschmerzen, und dann war sie einfach tot.«

Die Angst, die Greta in den letzten Wochen immer wieder verdrängt hatte, griff auf einmal mit langen Fingern nach ihr. Sie riss an ihrem Herzen und drückte ihre Kehle zu.

»Nein«, flüsterte sie. »Ganz bestimmt nicht. Die Mama wird noch ewig leben.«

Doch im Zimmer sank die Temperatur auf einmal um fünfzig Grad ab. Auch Julia schien es zu bemerken, sie drückte ihr Monchhichi mit erschrockenem Gesicht fester an sich. Greta kroch zu ihr aufs Bett und zog ihren Kopf an ihre Brust.

»Es wird alles gut, kleine Schwester«, flüsterte sie, aber die langen Finger der Angst zerrten so heftig an ihr, dass sie es kaum auszuhalten vermochte.

Abends sprach Greta ihren Vater an, als sie ihm dabei half, die Küche aufzuräumen, während ihre Mutter schon wieder im Bett lag.

»Julia hat gefragt, ob Mama stirbt.«

Ihr Vater, der gerade einen Topf in die Geschirrspülmaschine räumte, richtete sich abrupt auf.

»Wie kommt sie denn darauf?«

»Die Oma von einem Mädchen aus ihrer Klasse ist gestorben, weil sie Kopfschmerzen hatte.«

»An Kopfschmerzen stirbt man nicht, Greta. Vermutlich hatte die alte Frau eine ernste Krankheit. Das ist bei deiner Mutter aber nicht der Fall. Sie ist nur etwas erschöpft, das ist alles. Wir müssen ein bisschen Geduld mit ihr haben, ja?«

Zwei Tage später bekam Greta mit, wie ihre Großmutter anrief, die im Ruhrgebiet lebte. Herta und Willi Paulsen waren Erika Bubendeys Eltern.

»Uns geht es allen gut«, hörte Greta ihren Vater sagen. Und dann: »Ach, das hat Erika sicher vergessen. Du weißt doch, wie das so kurz vor Weihnachten ist, da kommt man kaum zur Besinnung.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Sie bringt Julia gerade ins Bett, das kann ein bisschen dauern. Julia hat zurzeit Mühe mit dem Schlafen … Wie? Dann seid ihr auch schon im Bett? … Ja, da kann man nichts machen, ich richte es Erika aus.«

Er legte auf, und da erst bemerkte er Greta.

»Julia ist doch noch wach.« Sie konnte ihre Verwirrung nicht verbergen. »Nur Mama liegt im Bett.«

Ihr Vater fuhr sich durch die Haare und presste die Lippen aufeinander.

»Ich weiß.« Er räusperte sich. »Du kennst doch Oma Herta, die macht sich nur unnötige Sorgen. Sie muss nicht wissen, dass es eurer Mutter zurzeit nicht so gut geht.« Er räusperte sich erneut. »Weißt du, genau genommen muss das auch sonst niemand wissen. Die Leute reden immer so viel, das macht dann rasch in Travenstedt die Runde.«

Greta dachte daran, wie über Finn Janssens Vater hergezogen wurde. Aber das war doch etwas anderes. Er war schließlich selbst schuld, dass er so viel trank. Ihre Mutter hingegen konnte ja nichts für ihre Kopfschmerzen. Dennoch versprach Greta ihrem Vater, mit niemandem darüber zu sprechen, dass ihre Mutter krank war. Sie kreuzte dabei hinter dem Rücken zwei Finger, denn Mareike hatte sie selbstverständlich bereits erzählt, wie eigenartig sich ihre Mutter neuerdings benahm.

Um Weihnachten herum ging es Erika Bubendey tatsächlich besser. Sie lachte wieder so wie früher, war morgens ordentlich angezogen, wenn sie ihre Töchter weckte, und ging abends erst ins Bett, wenn die Mädchen schon lange schliefen. Nur die ausgedehnten Mittagsruhen behielt sie bei.

Dann saßen Greta und Julia in ihren Zimmern und langweilten sich. Greta trödelte mit ihren Hausaufgaben herum und verbrachte endlose Stunden damit, auf ihrem Bett zu liegen und die weiße Raufasertapete an der Decke anzustarren, während die Stille drückend auf dem Haus lastete und jede Bewegung und jeden Gedanken schwer werden ließ.

Manchmal dachte Greta an Finn Janssen, wenn sie so vor sich hin träumte. Immer wieder sah sie sein Lächeln vor sich und fühlte seine Lippen auf ihrer Wange, als läge das alles erst wenige Tage und nicht Jahre zurück. Sie dachte auch daran, wie er sich im vergangenen Sommer mit Markus Weiß geprügelt hatte. Wie gern wäre sie zu ihm gegangen, hätte ihn verarztet und ihn tröstend in die Arme genommen.

Ihre Träume, in denen es um Finn ging, waren sehr ausgedehnt und sehr verboten, besonders, wenn sie sich dahingehend entwickelten, dass Greta Finn ebenfalls küsste. Aber dazu würde es wohl nie kommen. Sie hatte Finn seit jenem Sommertag am See nicht mehr gesehen. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern könnte.

In meinem Herzen nur du

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