Читать книгу Maresia - Katharina Conti - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеEs war einmal ein seltsames Wesen. Klein war es, hatte vier Arme, vier Beine und zwei Köpfe. Der eine Kopf war der eines Mädchens, der andere, der eines Jungen und es lebte glücklich in einem grossen Wald voller Sonne und Regen, in dessen Mitte ein tiefer blauer See lag. Die Tiere im Wald liebten das Wesen, brachten ihm süsse Beeren, zeigten ihm die besten Quellen; auf den Rücken der Hirsche ritt es zu den Plätzen mit den feinsten Kräutern und die Eichhörnchen schenkten ihm Nüsse. Es war immer froh, spielte, sang, schwamm und rannte und war nie allein.
Doch die Götter beobachteten es und wurden eifersüchtig. Wie kam es, dass ein kleines Wesen so glücklich war, zufrieden und von allen geliebt? Und je länger sie ihm zusahen, desto eifersüchtiger wurden sie, befahlen grosse Bären es zu fressen. Doch die Füchse im Wald hörten das Brummen, versteckten das Wesen in ihrem Bau und die Bären konnten es nicht finden. Wölfe schickten die Götter in ihrem Zorn, es zu zerreissen, doch eine sanfte Brise trug den Wolfsgeruch zu den Hirschen und so schnell und zahlreich rannten sie mit dem Wesen durch den Wald, dass die Wölfe im Kreise liefen; und wie Donner grollte das Toben der Götter. Grosse, schwarze Vögel riefen sie herbei, wie ein Sturmwind flogen die heran, stiessen hinab, packten das Wesen und zerrten so lange an ihm, bis es in zwei Hälften fiel. Die eine Hälfte war der Junge, die andere Hälfte war das Mädchen und sie hatten beide nur ein zerbrochenes Herz.
Mit ihren langen, harten Krallen packten die Vögel das Mädchen, flogen weit fort mit ihm ins Schneeland und setzten es auf einen hohen Berg, der über und über mit Eis bedeckt war. Jämmerlich frierend stand das Mädchen auf dem Gipfel, Schnee und Eisregen fiel und ein Blitz schlug in den einzigen Baum auf der Spitze des Berges, zerschmetterte ihn in tausend Stücke. Das Mädchen nahm das grösste Stück von dem zerrissenen Baum und fuhr auf ihm hinunter ins Tal und so schnell fuhr es, dass die Menschen ein Donnern hörten und ein Brausen und sich fürchteten.
„Wer bist du?“, wollten sie wissen, als sie das Mädchen fanden. „Ich bin das Schneemädchen, und ich möchte gerne bei euch bleiben.“ Eine alte Frau nahm es auf, gab ihm zu essen, trockene Kleider; „du kannst bei mir wohnen, mein Kind, aber du musst für mich arbeiten.“ Dem Mädchen war es recht und wann immer es konnte, stieg es auf die Gipfel der Berge, schaute hinaus in die Welt, rief nach dem Jungen, rief und weinte, doch es bekam nie eine Antwort.
Verloren und einsam war der Junge im Wald zurückgeblieben, hauste am See und die Götter liessen es regnen, tagelang, wochenlang, und das Regenland entstand, mit Sümpfen und Mooren, Bächen, Flüssen und vielen Seen. Drachen legten die Götter in die Seen, damit sie den Jungen packen konnten, aber warnend schossen die Fische ans Ufer und er rannte tief hinein in den Wald, um sich zu verstecken. Und dort, in einer verborgenen Höhle, wuchs er auf, Wald und Tiere seine Lehrer, und mit jedem Ring der Bäume wuchsen seine Kraft und sein Mut und als er ein grosser Jäger geworden war, schmiedete er sich ein Schwert und beschloss die Drachen zu töten, die Angst und Schrecken im Regenland verbreiteten.
Aus den Seen kamen sie gekrochen, erschlugen Männer, raubten die Frauen; aber wohin der Junge auch kam, fassten die Menschen wieder Mut, floss neue Kraft durch angstgelähmte Glieder und nach langen, harten Kämpfen waren die Drachen alle besiegt. Sehr froh waren die Menschen, baten den Jungen bei ihnen zu bleiben, machten ihn zu ihrem König und immer wieder ritt er auf seinem grossen Pferd durch den Wald zum See, rief nach dem Mädchen, rief und weinte, doch er bekam nie eine Antwort.
Langsam verging die Zeit damals, viele Jahre verflossen und das Mädchen wurde eine Frau und der Junge wurde ein grosser Mann und König. Und eines Tages, als er auf seinem Pferd zum See geritten war, um nach der anderen Hälfte seines Herzens zu rufen, hörte er einen seltsamen Schrei und fand einen wundersamen Vogel, einen, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Gross und weiss war er, hatte kleine schwarze Punkte auf seinem Gefieder. „Wer bist du?“, fragte ihn der König, „wo kommst du her?“ „Ich komme aus dem Schneeland“, sagte der Vogel, „ein Sturm hat mich fort getragen und mein Flügel tut so weh.“ Er weinte ein wenig, flatterte hilflos auf und ab, und der König stieg vom Pferd und nahm ihn auf seine Faust. „Komm mit mir, ich werde dich heilen, aber du musst mir vom Schneeland erzählen. Wo liegt es? Wie ist es da?“
Sehr froh war der Vogel, dass er mit dem König gehen durfte und während sein Flügel langsam genas, erzählte er ihm von den Bergen, den mit Schnee bedeckten Gipfeln, von den Tälern, in denen die Menschen wohnen, den kalten Bächen, die über die Felsen springen, und der König wurde von einer solchen Sehnsucht gepackt, dass er sogleich sein Pferd satteln liess, als der Vogel wieder gesund war, und zusammen machten sie sich auf den Weg.
Es war ein langer Ritt. Sie kamen durch Wüsten und Steppen, durchquerten wilde Wälder und reissende Flüsse und dann, eines Morgens, sahen sie hinter schneebedeckten Gipfeln die Sonne aufgehen. „Wir sind da“, sagte der Vogel, „da vorne liegt das Schneeland“, und vom höchsten Gipfel herab erklang eine Stimme. Sie rief nach dem Jungen, den sie vor langer Zeit verloren hatte, bat, ihr gebrochenes Herz zu heilen, und der König hörte die Stimme. „Vogel“, sagte er, „hilf mir! Trage mich auf den Gipfel, ich bitte dich darum.“
Der Vogel flog auf, kreiste über dem König, packte ihn fest mit seinen starken Klauen, trug ihn höher und immer höher, liess ihn dann sachte in den Schnee auf dem Gipfel fallen und dort fand er die Frau, die die andere Hälfte seines Herzens trug und sie fand den Mann, der einmal Teil von ihr gewesen. So froh waren sie, umarmten sich, schworen, sich niemals mehr zu trennen; aber die Götter sahen es und wurden fuchsteufelswild.
Sie riefen das Feuer unter den Gipfeln, beschworen es zu kochen und die Erde erbebte, krachend zerbarst der Berg, Feuer strömte aus ihm heraus und furchtlos stiess der Vogel vom Himmel, packte die umschlungenen Gestalten, hob sie hoch und trug sie weit fort in ein verstecktes grünes Tal, in dem die Nebel wohnten. Sie waren Freunde des Königs und stiegen schützend hoch, wann immer die bösen Augen der Götter suchend über das Tal schweiften. Und dort leben sie heute noch, der König und die Frau, getrennt und doch vereint, und sie bekamen viele Kinder.