Читать книгу Maresia - Katharina Conti - Страница 6
Begegnung
ОглавлениеEr:
Ich reise nicht um die Weihnachtszeit, verziehe mich regelmässig aufs Land in den Wochen kollektiver Hysterie; doch die Hartnäckigkeit eines einflussreichen Geschäftsmannes, die wilden Gerüchte, die über ihn kursierten, vielleicht auch das Reissen in meinen Knochen, liessen mich seinem Drängen nachgeben, ich flog nach São Paulo, fand mich wieder umgeben von devoten Kellnern, jungen, hübschen und bildhübschen Mädchen, alten Männern; an der Weihnachtsparty einer Modellagentur und umgeben von seinen Leibwächtern sprach Motta über St. Moritz.
Ich mag den Ort nicht besonders, beobachtete interessiert den jungen Mann an Mottas Seite, Sohn und Erbe, der es kaum erwarten konnte, sich in das glitzernde Getümmel zu stürzen. Wie ein junger Hund auf seinen Ball wartete er vergebens auf eine Lücke in Mottas Rede, der ihn streng an seiner Seite hielt, aus Furcht wahrscheinlich, dass ihm die schönsten Mädchen abhanden kommen könnten. Gelangweilt plötzlich liess ich meine Augen schweifen, erblickte eine Frau in der schillernden Menge, die eben erst gekommen schien. Zögernd stand sie an der Tür, schaute sich um und ich wartete, wollte sehen wie sie sich in Bewegung setzte; „und es wäre mir eine grosse Ehre, Sir, Sie im Februar in St. Moritz begrüssen zu dürfen.“ „Februar ist unmöglich, Mr. Motta, ganz unmöglich.“
Ein kurzer, höflicher Blick und sie war fort, verschluckt von der Menge, bedauerlicherweise, sie hatte mir gefallen; und dann hörte ich ganz in meiner Nähe Ausrufe, laute Fragen, sah diskret nach der Antwort und keine drei Schritte von mir entfernt wurde sie vom Gastgeber begeistert begrüsst. „Viktoria Tavares, sieh einmal an, Vitória!“ Motta erhob die Stimme und augenblicklich liess Carlos, so glaube ich wenigstens war sein Name, ihre Schultern los, trat zurück, Motta ging auf sie zu, nahm sie am Arm und widerwillig, als würde sie abgeführt, liess sie sich mitziehen.
„Viktoria, darf ich vorstellen?“ Er tat es, mit Glanz und Gloria, und sie schien nicht im mindesten interessiert wer ich war, woher ich kam, vage in meine Richtung nickend schob sie sich behutsam rückwärts, als müsse sie rennen, wäre auf Vorsprung aus, und Motta nahm erneut ihren Arm. „Ich habe gehört, was mit Henrique passiert ist, Viktoria, es tut mir aufrichtig leid. Brauchst du etwas? Kann ich dir helfen?“ „Nein. Hallo Rô.“ Sie machte sich los, tat einen Schritt in Richtung des jungen Mannes, wechselte ein paar Worte, machte Anstalten sich umzudrehen, wegzugehen; „dein Witwenstand steht dir gut, Viktoria, du siehst toll aus. Lunch, morgen um eins. Abgemacht?“ „Morgen um eins bin ich am Strand.“ „Komm, sei nicht kompliziert, mein Chauffeur fährt dich später, plus Zweitausend für deine Anwesenheit.“ Verblüfft musterte ich die Frau, von oben bis unten sozusagen, „zweitausend was, Fernando?“, und verwundert sah ich sie lächeln. „Tut mir leid, nicht für eine Million was immer. Frohe Weihnachten.“ Sie drehte sich um, bahnte sich stur einen Weg durch die Menge und ich bin ihr einfach nachgegangen.
„Verzeihen Sie, Mrs. Tavares, ich möchte nicht ungehörig sein, aber könnten Sie mich mitnehmen? Ich wohne im Sheraton. Falls das auf Ihrem Weg liegt, natürlich.“ Sie blieb stehen, schien diesmal etwas genauer wissen zu wollen, wer ich war, wo meine Unverschämtheit herkam, dann zuckte sie die Achseln, ging weiter, öffnete mit einem Stoss die Tür und wir traten ins Freie. „War das ein Ja oder ein Nein?“ Sie beachtete mich nicht, rief einen der herumlungernden Jungen herbei, gab ihm einen Zettel in die Hand, ein paar Münzen; „wenn Sie mitkommen wollen, es liegt auf meinem Weg“, und schweigend warteten wir, bis uns der Junge den Wagen brachte.
„Halten Sie niemals, wenn die Ampeln auf Rot stehen?“ „Nur an den grossen Kreuzungen“, angestrengt betrachtete sie die Strassenschluchten, schien nach Orientierung zu suchen, „und Sie wohnen hier in der Nähe?“ „Ah ja, diese ist es; meine Schwiegermutter, ich wohne in Zürich.“ Entschlossen bog sie ab, und wieder war ich verblüfft. Auch wenn sie nicht aussah wie eine Brasilianerin hatte sie doch wie eine gesprochen, während des Geplänkels mit Motta hatte ich nicht den leisesten Akzent bemerkt; „sind Sie jetzt eine Brasilianerin, die in der Schweiz lebt oder eine Zürcherin, die in São Paulo gelebt hat?“ „Eine Zürcherin. Unsere Polizei hatte viel Verständnis für meine Angewohnheit, im Dunkeln nicht an Ampeln zu halten. Die haben überall Blitzgeräte, und ich musste es ihnen erklären. Macht der Gewohnheit und so. Die Bussen hätten mich ruiniert. Sind Sie ein Freund von Fernando Motta?“
„Ein möglicher Geschäftspartner.“ „Aha; beeindruckend wie er mit Geld um sich wirft, finden Sie nicht? Vielleicht hätte ich feilschen sollen. Was meinen Sie? Vielleicht hätte er erhöht. So, wir sind da.“ Sie hielt vor dem Hotel, ein Page öffnete meine Tür, doch ich wollte nicht aussteigen, sie einfach so gehen lassen; „danke fürs Mitnehmen. Darf ich mich mit einem Nachttrunk revanchieren?“ Das Wort schien ihr zu gefallen, als schmecke sie es auf der Zunge wiederholte sie es, musterte mich dabei von oben bis unten, zuckte die Schultern und stellte den Motor ab. „Auf einen Nachttrunk.“ Wir stiegen aus, sie nahm den Parkschein in Empfang und ich führte sie in die Bar.
„Wie lange bleiben Sie noch hier?“ „Ich fliege am Weihnachtstag.“ „Am Weihnachtstag? Wie traurig an diesem Tag im Flieger zu sitzen.“ „Finden Sie?“ „Ja, ausser man hat keine Kinder und ob Motta erhöht hätte, haben Sie mir auch noch nicht gesagt.“ „Auf eine Million?“ „Wohl kaum, nicht wahr?“ Ich hatte das Gespräch also verstanden, hatte mich eben verraten, augenblicklich ging sie auf Distanz, lehnte sich zurück und ihr Gesicht verschwamm im Schatten; „Sie sprechen Portugiesisch.“ „Das, was die Portugiesen so nennen, ja, hier zweifle ich gelegentlich. Woher kennen Sie Motta?“ „Was meinen Sie? Sie scheinen ein guter Beobachter zu sein. Auf was schliessen Sie nach diesem netten Zusammentreffen?“ Spielerisch fast warf sie mir den Ball zurück, stachelte nebenbei meine Eitelkeit etwas an, ich halte mich tatsächlich für einen guten Beobachter, beugte sich vor und ihre Augen tauchten auf, musterten mich voll neugieriger Erwartung.
„Ein grober Scherz, Mrs. Tavares, unter Bekannten.“ „Ja, genau, das war es. Ich muss gehen. Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen.“ Vertrieben hatte ich sie mit meiner unverbindlichen Antwort, so unverbindlich wie möglich eben, hatte er sie mir doch vorgeführt, um zu beleidigen, nicht um sie mir anzubieten. Sie war keine Professionelle, ich hegte nicht die geringsten Zweifel, und sie gefiel mir, ich wollte nicht, dass sie ging, nahm die Hand, die sie mir entgegenstreckte. „Ich höre immer wieder wie herrlich die Küste hier sein soll. Was meinen Sie? Lohnt es sich für ein paar Tage an den Strand zu fahren?“ „Sie können bleiben oder gehen? Sie müssen nicht zurück?“ Leicht nur hatte ich ihre Hand festgehalten und sie entzog sie mir, setzte sich, bat den vorbeiziehenden Kellner um eine verschlossene Flasche Wasser, und ich war seltsam angerührt von der kindlichen Verwunderung über mein Vermögen zu tun und zu lassen, was ich wollte und auch etwas verwirrt von der Leichtigkeit, mit der sie die Sprache wechselte.
„Also, was würden Sie mir empfehlen?“ „Maresias.“ „Maresias? Gut, das kann ich behalten. Und warum Maresias?“ Kurz nur, als suche sie nach der Bestätigung einiger Gedanken, die sie sich eben über mich gemacht hatte, schaute sie mir direkt in die Augen, schien mich zu durchleuchten, dann hob sie die Hände, „Sie haben um eine Empfehlung gebeten“, und ich entschloss mich zu fahren. Ich wurde nicht zwingend erwartet, habe keine Kinder; „auf Ihre Verantwortung.“ „Nein, das lehne ich ab. Wenn es Ihnen nicht gefällt, sind Sie selber schuld.“ Lachend bat ich um die Wegbeschreibung, umständlich begann sie zu erklären, hielt inne, schüttelte den Kopf, „nein, nein, so geht das nicht“, und fliessend, ohne auch nur Atem zu holen, liess sie die Worte in die andere Sprache übergehen, bat um Papier und Schreiber, zeichnete mir dann akkurat auf, wie aus der Stadt hinauszufinden war.
„Wenn die Autobahn nur für die Bergfahrt offen ist, werden sie automatisch auf die Anchieta umgeleitet.“ „Die Anchieta?“ „Ja, die alte Autobahn, und unten an der Serra müssen sie diesen Schildern folgen. Die Bodenmarkierungen sind falsch.“ „Die Bodenmarkierungen sind falsch?“ „Ja, das ist so. Glauben Sie mir.“ Bestimmt nickte sie mit dem Kopf, zeichnete einen zweiten Plan, der mich eigentümlich an eine Schatzkarte erinnerte, dann machte sie ein Kreuz; „so. Das ist Ihre Ausfahrt, Richtung Rio de Janeiro. Folgen Sie einfach der Strasse bis Sie in Maresias sind. Hotel Maresias, und jetzt muss ich wirklich gehen.“ Mit beiden Händen stemmte sie sich hoch, zögerte, „wir wohnen zwei Buchten weiter, Tóque Tóque. Wenn Sie fahren, kommen Sie uns besuchen. Fragen Sie an der Portária, und bevor ich es vergesse, wir haben sechs Kinder da. Danke für das Wasser und die Caipirinha.“
Lächelnd wünschte sie mir gute Nacht, verliess die Bar und verdutzt war ich stehen geblieben, hatte ihr nachgesehen. War das eine Einladung, die sie Sekunden später bereut hatte? Ich mag Kinder, sehr sogar. Sah ich etwa aus wie ein Kinderfresser oder hatte sie mich eingeladen, mir einfach nur sagen wollen, was mich erwarten würde? Wenn ich wollte? Sechs Kinder, und wer war wir? Hatte Motta nicht von Witwenstand gesprochen? Ich schlenderte zur Rezeption, bat um eine Reservation im Hotel Maresias, um einen Wagen, ging dann auf mein Zimmer und konnte nicht einschlafen. Jedermann hatte mir schon versichert, dass dies einer der heissesten Sommer seit Jahren sei, und obwohl am Nachmittag ein Platzregen niedergegangen war, der die Strassen innert Minuten in reissende Flüsse verwandelt, das Chaos apokalyptische Ausmasse hatte annehmen lassen, konnte die Klimaanlage der Hitze nicht mehr beikommen. Schwitzend lag ich auf dem Bett und dachte an die eigenwillige Frau.
Den nächsten endlos langen Tag verbrachte ich mit Fragen stellen, Antworten übersetzen in mögliche Bedeutungen, Unbedeutsamkeiten, versuchte mit dem Verkehr fertig zu werden, dem Regen, der Hitze, den Gedanken an die Frau, die aufzusuchen ich fest entschlossen war, war nach einer weiteren unruhigen Nacht endlich unterwegs nach Maresias und als ich zu der Abzweigung nach Rio de Janeiro kam, dem Kreuz auf ihrem Plan, und die Autobahn verliess, beschlich mich die merkwürdige Empfindung, einen Zeitsprung getan zu haben. Einsam und verlassen, schwarz flimmernd in der Hitze führte die Strasse schnurgerade durch dichtes Grün, das wir bei uns Dschungel nennen würden, stieg an, in einer einzelnen scharfen Kurve, über die Wipfel der Bäume hinaus, und blaugrün, schaumgekrönt, funkelnd und glitzernd rollte mir der Südatlantik entgegen. Bezaubert fuhr ich vorbei an Bucht um Bucht, kam nach Maresias, fand das Hotel, bezog mein Zimmer, legte mich hin, wollte sie noch etwas auskosten, die pralle Wärme, doch eingelullt vom Rauschen des Meeres schlief ich ein, tief stand die Sonne am Himmel, als ich erwachte und ich trat hinaus in den warmen Sand, blickte über die offene Bucht, die dunkelgrünen Hügel, scharf umrissene Schatten im Licht der sinkenden Sonne, umschäumt von Gischt, ging hinunter zum Wasser, setzte mich in den Sand und wartete, bis die Sonne ihr grandioses Schauspiel beendet hatte.
Heute war Weihnachtstag. Eine plötzliche Wehmut überkam mich, Sehnsucht nach zu Hause, nach meiner Mutter; ich dachte an meine Exfrau, an die Kinder, die wir nicht hatten, stand auf, ging zurück in mein Zimmer, liess meine Gedanken um Viktoria kreisen, um Motta; und erneut schlief ich ein, schlief tief und traumlos, um dann mitten in der Nacht hochzufahren, aufgeweckt vom Donnern der Flut, vermeinend sie würde in mein Zimmer dringen und über mir zusammenschlagen.
Das Haus schien verlassen, verschlafen in der Mittagshitze des nächsten Tages, doch auf mein Rufen und Klatschen kam eine einfache Frau um die Ecke, erklärte Dona Viktoria sei am Strand. Dazu war ich nicht bereit, zu brutal brannte die Sonne, und sie erlaubte mir schliesslich auf der Veranda zu warten. Nach einer Weile legte ich mich in eine der Hängematten, und wie eine Glocke stülpte sich die Hitze über die Geräusche. Von weit her hörte ich den Ruf eines Kindes, durch das Flirren der glühenden Luft erklangen scheppernd die ersten Takte von Beethovens Für Elisa, brachen ab, erklangen von neuem; „quem é você!? O que ‘ta fazendo aqui?!“ Drohend platzten die Worte in wirre Träume, ich öffnete die Augen, sah einen dicken Mann, der mich ausgesprochen unfreundlich betrachtete. „Sprechen Sie Albionisch?“ Für einen Moment hatte ich nicht gewusst, wo ich mich befand, hätte gestottert in jeder anderen Sprache, und der Mann nickte, entspannte sich sichtlich; schaukelnd richtete ich mich auf, stellte mich vor, erklärte, konnte plötzlich Stimmen hören, die sich langsam näherten.
„Viktoria“, rief der Mann, „hier liegt ein Gringo in deiner Hängematte.“ „Ich bin Albioner“, sagte ich, schwang mich etwas steif aus der Matte, fand mich umringt, fröhlich begrüsst, wurde schnell und unkompliziert vorgestellt, erfuhr, dass Malu und die zwei halbwüchsigen Kinder, die wie Amerikaner sprachen, zu Fábio dem Dicken gehörten, die grosse, blonde Frau mit dem pummeligen Jungen und dem kleinen Mädchen zu José Antonio, der mir auf Anhieb sympathisch war.
„Das ist Sami.“ Misstrauisch schnuppernd, die Augen fest auf mich gerichtet, trat der Junge hinter seiner Mutter hervor, mass mich mit schüchterner Zurückhaltung und flink wie ein Wiesel schlüpfte sein kleiner Bruder an ihm vorbei, Viktoria wie aus dem Gesicht geschnitten, gab mir einen Tritt gegen das Schienbein; „quem és?“ „Ich bin Robert, und du brauchst mich nicht zu treten.“ „Warum?“ „Weil es schmerzt.“ „Was?“ Erneut holte er aus, sie hob ihn hoch, „weil es weh tut, Max, und jetzt kommt, ab unter die Dusche, ich will keinen Sand im Haus. Du auch, Bruno. Machen Sie es sich bequem“, rief sie mir noch zu, die Schar vor sich her ums Haus treibend, und grinsend hob Fábio seine dicken Schultern, fing an, sich mit dem aus Backsteinen an die Hausmauer angebauten Grill zu beschäftigen.
„Sie sprechen Portugiesisch.“ „Nicht beim Aufwachen.“ Er lachte, entschuldigte wortreich seine Grobheit von vorhin und ich beschwichtigte, fragte mich im Stillen, wie er zu Viktoria stand, tippte auf Schwägerin, hörte, dass sie zum ersten Mal allein in Brasilien war, man sich besser vorsehe, etwas auf sie aufpasse; „Sie kennen sich aus Europa?“ „Nein, wir haben uns vor zwei Tagen in São Paulo kennen gelernt.“ Er füllte neue Kohle in den Grill, feuerte ein, ich störte mich nicht weiter an seinen ruckartigen Bewegungen und dann brach José Antonio das mir nicht unangenehme Schweigen mit der Frage nach einem Drink. Einer Caipirinha vielleicht? „Mach ihm eine mit Maracujà, Sé, Sie essen doch sicher mit uns?“
Nass noch vom Abduschen war sie, hatte ein bedrucktes Tuch um die Hüften geschlungen; „was ist Maracujà?“ „Maracujà? Warten Sie.“ Eilig ging sie zurück ins Haus, erschien Momente später mit einer dickschaligen, verschrumpelten Frucht von der Grösse einer mittleren Orange. Skeptisch schaute ich auf den gelblichbraunen Ball in ihrer Hand, kleine Hände hatte sie, kleine Füsse; „und Sie sind sicher, dass man das trinken kann?“ Lachend legte sie das faulig aussehende Ding auf den Tisch und so plötzlich drangen gellende Schreie von dem Strässchen zu uns herüber, dass ich erschrocken zusammenfuhr.
„Birà! Das ist Birà!! Birà!!!“ Wie auf Kommando rannten alle Kinder über die Veranda in den Garten, umringten aufgeregt den kleingewachsenen, jungen Mann, der schüchtern eine riesige Styroporbox zu Boden stellte. „Wie viele? Mami!? Wie viele?!“ Sami zählte, konnte sich nicht schlüssig werden, wurde ungeduldig von dem ältesten Mädchen unterbrochen, „zwölf sind wir. Sie nehmen doch sicher auch ein Eis, Onkel?“ Es dauerte, bis ich begriff, dass ich gemeint war und amüsierte trat Viktoria hinaus zu der kleinen Meute, schickte nach Wasser für den jungen Mann, belud die Kinder mit den Eisstängeln; Sami kam mit einer Flasche angerannt, versuchte die Schreie nachzuahmen, alle lachten, schwatzten, bettelten und der Mann liess erneut seine Stimme gellen.
„Er brüllt die Namen der Sorten. Ziemlich laut, nicht wahr?“ Lächelnd überreichte mir Sé Antonios Frau die Caipirinha, setzte sich zu mir, „haben Sie Kinder?“ Ich schaute auf die Bande, die sich um den Eisverkäufer scharte, ignorierte die sich ausbreitende Leere, „nein, leider nicht. Ihr Gatte ist Portugiese?“ „Ja, er ist bei Kriegsbeginn in Moçambique hierher gekommen. Er war gut befreundet mit Viktorias Mann. Sie kennen sich aus Europa?“ Gelassen hatte ich in meiner Caipirinha gerührt, nahm jetzt einen Schluck, schmeckte eine bittere Süsse auf der Zunge, eine weiche Frucht mit kleinen, harten, bittersüssen Kernen; „nein, wir haben uns vor zwei Tagen kennen gelernt. Ich hörte, ihr Mann ist verunglückt.“ „Im Februar, ja“, sie nickte und ich bemerkte, dass ein geschäftiges Hin und Her begonnen hatte.
Der Tisch wurde gedeckt, Viktoria verschwand im Haus, Sé, wie sie ihn nannte, erschien mit den restlichen Caipirinhas, Fábio brachte knusprige Würstchen vom Grill und bekleidet jetzt mit Shorts und T-Shirt, in jeder Hand ein Bastkörbchen, bis an den Rand gefüllt mit seltsam wurzelartig geformten Brötchen, trat Viktoria an den Tisch. „Du hast sie für mich gemacht, Vicky, allerliebste Vicky!“ „Die sind für dich“, Malu erschien mit zwei weiteren Körbchen, „und die sind für uns alle.“ Viktoria setzte Max zurecht, füllte tiefroten Saft in die Gläser der Kinder, „und was ist das?“ „Randen mit Karotten und Orangen. Sehr gesund. Möchten Sie versuchen?“ „Später.“ Ich hob mein Glas, lächelte ihr zu, „erstaunlich“, und mit einem zufriedenen Lachen schnitt sie ein Stück Wassermelone für Max, forderte mich auf zuzugreifen und ich ass die schmackhaftesten Brötchen, die ich je gekostet hatte.
„Kennen Sie Tante Vicky schon lange?“ „Ich bin nicht deine Tante, Bruno, und ich werde mich nie daran gewöhnen, jedermanns Tante zu sein in diesem Land. Macht irgendwie alt, finden Sie nicht?“ Also doch nicht Schwägerin, erneut musste ich sie anlächeln und unbefangen erzählte sie die Geschichte unseres Zusammentreffens. „Du hast ihn mitgenommen, tia? Einen Fremden? Bist du verrückt geworden?!“ „Jû, er ist ein Gentleman. Er ist zwar ein Freund von Fernando Motta, aber zuerst ist er Gentleman, richtig?“
Ich protestierte, ich war kein Freund von Fernando Motta, hatte es ihr schon einmal gesagt, und immer noch ungläubig schüttelte das Mädchen den Kopf. „Du bist verrückt, Vicky.“ „Ganz recht, mein Kind, völlig verdreht. Zweitausend für die Teilnahme an einem Mittagessen, und sie lehnt ab!“ Viktoria stand auf, ging zu Fábio, knuffte ihn gegen die Schulter, „es war zu wenig, viel zu wenig. Bist du soweit? Können wir essen?“, ging hinein, kam mit brasilianischen Bohnen, Bananen und Reis zurück und er tranchierte das Fleisch.
Einstimmig war beschlossen worden, den nächsten Tag in Maresias zu verbringen und ich hatte eben mein Frühstück beendet, als sie ankamen, mich aufluden; wir fuhren bis zum anderen Ende der Bucht, errichteten dort unser Lager und erneut bewunderte ich das leuchtende Grün des Hügels, der sie abschloss, roch das Salz in der Luft, spürte die Hitze auf der Haut; weit draussen, verhüllt von leichtem Dunst, erkannte ich die Umrisse einer klippenartig geformten Insel und wie Pinselstriche hingen ein paar Wolken am Himmel, verschmolzen mit dem glitzernden Schaum der Brandung. Mit allen Sinnen gleichzeitig nahm ich die Schönheit dieses Ortes wahr, schaute auf die Frau neben mir, die in einem Strandstuhl sass und ihre Kinder beobachtete. Ich konnte nicht bleiben, hatte bereits alles versucht, mein Zimmer für ein paar weitere Tage zu behalten, aber das Hotel war ausgebucht, die Zimmer bezahlt, sehr wenig Hoffnung hatte man mir gelassen, anderswo etwas zu finden und übermorgen würde ich wohl abreisen müssen.
„Ich habe mich noch gar nicht bedankt für Ihre Empfehlung.“ Kurz nur streifte mich ein Lächeln, „bald kommt São Paulo, bleibt bis Neu Jahr. Landeinwärts werden Sie den Ort nicht wieder erkennen.“ Erneut das Lächeln, „erstaunlich, dass Sie noch ein Zimmer bekommen haben.“ Eben nicht, und ich sagte es ihr. „Kommen Sie zu uns, wenn Sie bleiben wollen. Die Kinder können bei mir schlafen.“ Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, sprang sie hoch, rannte über den Sand und fischte Max aus dem Wasser. Irritiert schüttelte sich der Dreikäsehoch, trat wütend nach den Wellen, trotzig wagte er sich wieder hinein, wurde erneut umgeworfen; ich sah orangefarbene Schwimmflügel, kleine Arme und Beine durchs Wasser wirbeln, unsanft setzte ihn die Welle auf den Sand und er brüllte. Viktoria, die ruhig zugesehen hatte wie er den Ozean herausforderte, stellte ihn jetzt tröstend auf die Beine, wischte ihm das Wasser aus den Augen und ich fragte mich, ob es so einfach sein konnte. Sie war gerne hier, konnte verstehen, dass man noch etwas bleiben wollte, und die Kinder würden in ihrem Zimmer schlafen.
„Er verliert immer mehr die Angst vor den Wellen. War Zeit, dass ihn eine wieder mal so richtig schüttelt.“ Sie hatte sich in ihren Stuhl fallen lassen, ihre Strandwache wieder aufgenommen, „wo ist Sami?“ „Er ist im Wasser, dort drüben, mit Sé; Viktoria, ich möchte Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten.“ Glucksend lachte sie auf, „in den Ferien? Ich würde keinen Moment zögern und Ihnen bedauernd mitteilen, dass die Rezeption einen Fehler gemacht hat, wir ab sofort komplett ausgebucht sind.“ Ein kleiner, blauer Gummiball prallte gegen ihre Schulter und plumpste in den Sand. Sie hob ihn auf, drehte sich zu Bruno, der mit zwei Holzrackets in den Händen dastand und sie angrinste. „Ich habe geübt, tia Vicky.“
„Hoffentlich“; und ich schaute zu, wie sie den Ball schlug, rannte und lachte, dann hatte sie genug, warf das Racket in den Sand, tauchte ein und schwamm Richtung Brandung. Hoch türmte sich eine Welle über ihrem Kopf, mit kräftigen Zügen schwamm sie weiter, erwischte den Kamm der nächsten Welle und liess sich mittragen. Lange blieb sie im Wasser, spielte mit den Kindern, schwamm, tauchte in dem weissen Schaum, und dann stieg sie aus dem Meer, angespült von einer Welle, kam mit festen Schritten auf mich zu, wiegend in dem Sand, und ihr Lächeln traf mich wie eine Breitseite. „Die Seele waschen nennt man das.“ Ich nahm an. Am selben Tag noch zog ich um, wurde Gast in ihrem Haus, genoss den formlosen Umgang der Brasilianer, die lärmende Lebendigkeit der Kinder, verbrachte viel Zeit, mir ein Bild von Viktoria zu machen, sie festzulegen und einzuordnen.
Zwei weitere Tage blieben die beiden Familien und auch am Vorabend ihrer Abreise sassen wir auf der Veranda, tranken Caipirinhas, Sé erzählte von seiner abenteuerlichen Flucht aus Moçambique, dann kam das Gespräch auf die Regierung, die Krise und Viktoria gähnte. Immer die gleiche Geschichte, nur die Währung, die sich ändert, die Namen der Abzocker; allgemeines Stimmengewirr hob an und mehr oder minder sachlich versicherte man uns Ausländern, es sei noch nie so schlimm gewesen, erzählte Geschichten von skandalösen Machenschaften in Brasília, den unvorstellbarsten Gewalttätigkeiten auf den Strassen von Rio und São Paulo, und Viktoria zog die Beine an, zog sich zurück in ihren Stuhl als fürchte sie, der Schrecken könne bis an diesen friedlichen Ort vordringen.
„Das war schon immer so.“ „Ah, das Wort der Expertin, die seit fast zehn Jahren nicht mehr hier lebt.“ „Ja, ja, bla,bla, und warum es hätte denn besser werden sollen? Wegen dem nächsten, der verspricht, dass der Riese aus seinem Koma erwacht, der Traum von Grösse endlich wahr wird? Fábio, die Militärs sind abgezogen und“, „du würdest natürlich zum bewaffneten Widerstand aufrufen, sie alle erschiessen. Auch Ché ist vor langer Zeit zu Staub geworden, meu bem.“ „Erschiessen lassen, sicher, die gehören an die Wand gestellt. Stell dir vor, die gehen sonst alle in Pension und du musst bezahlen.“ Ich verstand nur teilweise, warum sie alle lachten, gefangen wie ich war vom schnellen Wechsel der Gefühle auf Viktorias Gesicht; sprühend vor mutwilligem Spott forderte sie Fábio für die zweite Runde und als er seine mächtigen Arme auf den Tisch stützte, bemerkte ich den bösartig glitzernden Blick des Angetrunkenen.
„Wie kommt es, dass du Schweizerin bist, Vic? Da stimmt doch etwas nicht.“ Überrascht drehte sie den Kopf zu mir, hob lachend die Hände, „also gut, ich gebe es zu, ich bin ein Mischlingskind. Mein Vater war Italiener, ja, und darum werde ich bei der nächsten Abstimmung gegen die EU stimmen. Ich hab ja einen europäischen Pass.“ Das allerdings war sehr schweizerisch, aber ich kam nicht mehr dazu, es ihr zu sagen. „Ha governo, sou contra, das ist dein Motto, nicht wahr? So hast du immer was zu meckern, und Henrique hat das auch zu spüren bekommen. Bist du eigentlich froh, dass er tot ist?“ Wie vor einem Schlag zuckte sie zurück und Fábio legte seine schwere Hand auf ihren Arm. „Es hat dir eine Scheidung erspart; und du benimmst dich wirklich nicht wie eine trauernde Witwe, die erst vor kurzem ihren geliebten Mann verloren hat. Sitzt hier, hast Spass, lädst fremde Männer in dein Haus und“, „lass los!“ Mit aller Kraft riss sie sich los und sprang auf.
„Was fällt dir ein, meine Gastfreundschaft zu kritisieren? Hm?! Und wer hat schon keine Probleme nach sechzehn Jahren Ehe? Du vielleicht?!“ Unaufhörlich knetete sie ihre Hände, als wolle sie verhindern, dass sie ihm an die Gurgel fahren, und Fábio wurde es sichtlich unbehaglich. „Ich war euer Trauzeuge, ich fühle mich verantwortlich.“ „Ach! Verantwortlich? Und für wen denn? Ich habe dich angerufen, Trauzeuge, weisst du noch? Und später, was war da, Fábio? Anscheinend übersteigt der Preis eines Flugtickets dein Verantwortungsgefühl. Ha!“ Böse lachte sie auf, und der klägliche Rest krampfhafter Zurückhaltung brach einfach ein. „Er ist tot! Ô babaca! Aber ich lebe noch und ich habe nur ein Leben, so wie du! Und darum würde ich schleunigst aufhören zu fressen und zu saufen, weil sonst Malu auch bald in meine Lage kommt und fremde Männer in ihr Haus einlädt! Ah, vergiss es!!“ Kochend vor Wut drehte sie sich um und rannte ins Haus.
Immer wieder hatte er gestichelt, provoziert, und dass sie meistens darauf einging, schien zu den Beiden zu gehören, was auch den Gleichmut der anderen erklärte, wenn sie sich in die Haare gerieten; aber die Heftigkeit, mit der sie jetzt aufeinander losgefahren waren, hatte uns alle überrumpelt. Verärgert, sich über unhöfliche Besoffene auslassend, nahm Sé das Glas aus Fábios Hand und Malu versetzte ihm einen harten Schlag auf den Bauch. „Geschieht dir recht.“ „Ja. Ja, ich bin ein Arschloch, und ich fresse und saufe zu viel. Geschieht mir recht, jawohl! Tut mir leid, Robert, ich wollte dich nicht beleidigen.“ Ich war nicht beleidigt, seine Eifersucht schmeichelte mir und ich freute mich insgeheim, dass sie wegfuhren, auch wenn Viktoria neue Gäste erwartete, freute mich auf die Stunden, die ich mit ihr allein sein würde.
Halb begraben unter Fábios überschwänglichen Entschuldigungen sass sie am nächsten Morgen am Frühstückstisch, den Kopf in die Hand gestützt; „Saufkopf.“ „Was immer du willst, Vicky, du hast recht, und es tut mir wirklich aufrichtig leid.“ Unwillig schüttelte sie seinen Arm ab, „ich hasse dich.“ „Für immer?“ „Bis zum nächsten Sündenzahltag.“ „Für nicht sehr lange in dem Fall“, und sie lachten, versöhnten sich, verabredeten sich für dieselbe Zeit im nächsten Jahr, nahmen Abschied; ich schlug vor den Tag in Maresias zu verbringen und sofort war sie einverstanden, war sehr beschäftigt alles einzupacken und schweigend beluden wir das Auto. Sie zweifelte, ich spürte es. Es war ihr nicht gleichgültig, was ich dachte, wie ich dachte, auch mochte sie mich mehr, als den alten, halbvergessenen Bekannten, als den sie mich behandelte; und sie wich mir aus, gab sich lange nur mit ihren Kindern ab, spielte in Wasser und Sand und als sie sich dann zu mir setzte, sprachen wir über Belangloses, sie meinte, dass es heute regnen würde, dann fing sie einfach zu erzählen an.
„Ich war dreizehn als mein Vater starb. Es war an einem Samstag, das letzte Wochenende der Winterferien, und ich war bei meiner Grossmutter. Sie hatten mich strafversetzt, weil meine Nonna bei uns war; er war doch so krank und ich so unausstehlich zu meiner Nonna.“ Sie hielt inne, liess die Augen suchend über den Strand gleiten, liess sie liegen auf ihren Kindern, dann schaute sie hinaus aufs Meer. „Am Montag bin ich zur Schule gegangen. Wir wohnten in einem Dorf, alle wussten schon, was geschehen war, liessen mich in Ruhe; alle, bis auf eine, und ich hätte sie erwürgen können, hätte schreien wollen und toben.“ Nervös hatte sie mit den Füssen tiefe Furchen in den Sand gegraben, sprang jetzt auf, „verstehst du, Robin? Was kann man denn tun?“, rannte, stürzte sich kopfüber ins Meer, schwamm, tauchte, schwamm weiter hinaus, liess sich zurücktragen; „man kann nur auch sterben, um der Qual ein Ende zu bereiten oder man lebt. Also lebe ich, so gut es geht.“
Ich schaute auf diese eigenartige Frau, deren Wesen mich berührte, mein Herz mit Wehmut erfüllte und in meinem Geist erschien das Gesicht meines Freundes, starr und bitter, ohne Hoffnung auf einen Weg zu etwas Glück. Ich hob die Hand, wischte einen Tropfen aus ihrem Gesicht, „warum hast du dir hier ein Haus gekauft?“, und ihre Augen schweiften über den weissen Sand, über die schäumende Brandung hinaus zum Horizont, „weil man hier einen Blick auf das Paradies tun kann, und weil ich nicht genug Geld für ein Haus in der Schweiz habe. Komm, gehen wir, es wird gleich regnen.“ „Regnen, Viktoria?“ Sie lachte, zeigte auf die dicht bewaldeten Hügel hinter uns und ich sah, wie dicke, weisse Wolken wie Zuckerwatte über ihre Kämme quollen.
Mit der Ankunft von Ana und Luiz, ihren beiden kleinen Mädchen, das jüngere erst wenige Monate alt, und der von Alzira, einer gemeinsamen Freundin, änderten sich Rhythmus und Stimmung im Haus. Viktoria zog sich zurück in den Schutz der beiden Frauen, umgab sich mit Kindern, und ich schloss mich Luizinho an, wie sie ihn nannte: kleiner Luiz. Er war der Jüngste, ein dänischstämmiger, sportlicher und sehr direkter Brasilianer. Am ersten Tag schon, ich hatte mir Samis Body-Board ausgeliehen und wir waren unterwegs zum Strand, wollte er wissen, ob ich ein Verhältnis mit Viktoria habe, grinsend entschuldigte er sich sogleich wir gingen surfen. Schön erschien sie mir, doch, erregend in ihrer Lebendigkeit, ich fühlte mich zu ihr hingezogen, aber sie war nicht bereit und so hielt ich mich zurück, begnügte mich damit ihr zuzusehen, am Strand, wie sie schwamm und rannte, in der Sonne lag, wie sie ihre Kinder umsorgte, Anas Baby wiegte, ungemein gutes Essen für uns kochte, und ich sass da, am Abend, wenn wir alleine waren, ohne Kinder, hörte ihren Gesprächen zu und immer wieder dachte ich an James, tauchte ungerufen sein Gesicht vor mir auf.
Als wir dann alle einige Tage nach Jahresbeginn in die Stadt zurückgekehrt waren, hatte ich gehofft, Viktoria vor ihrem Flug noch einmal zu sehen. Schwarz vor Menschen war die Abflughalle, eilig schob und drängte ich mich zu ihrem Schalter vor ‚Check-in abgeschlossen‘, rannte fast zur Passkontrolle, fragte mich etwas ausser Atem, was mich wohl trieb, wie ein aufgeschreckter Käfer in dieser Flughafenhalle hin und her zu rennen, inmitten all der Leute, auf der Suche nach einer Frau mit zwei kleinen Kindern, verschob die Antwort auf später, ging meinem Leben nach, checkte ein, bereitete mich auf die Ankunft zu Hause vor, auf all die Dinge, die ich zu tun haben würde; und wieder dachte ich an James, dachte, dass er mich jetzt endlich wissen lassen musste, ob er mitkommt in die Berge, dachte, was für ein egoistischer Mensch er doch war, weil er mit seinem Zögern verhinderte, dass wir Freunde der Jungen einladen konnten und er es wusste; und als dann die Turbinen aufdröhnten, die Maschine sich in Bewegung setzte, schaute ich hinaus auf die Lichter des Flughafens, die aussahen wie alle Lichter auf allen Flughäfen, liess meine Gedanken zu Viktoria wandern, dachte, dass ich sie in der Schweiz besuchen werde, wissen wollte wie sie lebte im Alltag, fernab von Meer und Sandstrand, von der Hitze des brasilianischen Sommers, der die Menschen weich werden lässt und sinnlich, dachte daran, sie nach Albion einzuladen.
Tage nach meiner Rückkehr zehrte ich noch von der Wärme, die ich aufgenommen hatte, aber als ich dann zwei Wochen später in Zürich eintraf, lag die Welt unter einer kalten Nebeldecke begraben und ich verlor etwas den Mut, hatte jedoch Gründe in Zürich zu sein, vorrangige Gründe, Dinge, die zu erledigen ich hierhergekommen war; und dann rief ich sie an, war Minuten später unterwegs in eines der Dörfer am See. Das Taxi hielt vor einem kleinen, etwas windschiefen Haus, in dessen Garten die kläglichen Reste eines überdimensional dicken Schneemannes standen. Unwillkürlich dachte ich an Sami und Max, ertappte mich bei einem einfältigen Grinsen, Viktoria öffnete die Tür, hiess mich willkommen in der Eiszeit und ich fragte nach den Kindern. Max schlief, Sami war noch in der Schule, wollte später Schlittschuhlaufen gehen.
„Kannst du Schlittschuhlaufen?“ Ich hatte das Häuschen besichtigen wollen, wir standen im Untergeschoss, in Samis Bastelraum; er wollte Schreiner werden, einen Kobold bekommen, was ich nicht ganz verstand, beunruhigt wohl durch die Aussicht Schlittschuhlaufen zu müssen; „wo arbeitest du?“ „Ganz oben.“ Wir stiegen die Treppen hoch, vorbei an den Zimmern der Kinder, hinauf bis fast unters Dach, traten in einen grossen, in Schlaf- und Arbeitsplatz unterteilten Raum. Nur sehr schwer fiel es mir, kühle Technik mit dieser Frau in Verbindung zu bringen, neugierig näherte ich mich den hochgerüsteten Maschinen. entdeckte, halb von Büchern und Ordnern verdeckt, das Foto eines schwarzhaarigen Mannes, der mit Sami und Max in einer Hängematte lag.
„Dein Mann? Warst du glücklich?“ „Und du? Die letzten sechzehn Jahre?“ Als stünde mir die Antwort auf der Stirn geschrieben, musterte sie mich, lächelte, „ich war es, immer wieder. Lange waren wir Komplizen, und irgendwann sind wir dann zu Konkurrenten geworden.“ „Warum Konkurrenten?“ „Ich weiss nicht. Vielleicht weil ich immer gearbeitet habe, immer Angst davor hatte, mein Leben in die Hände eines Mannes zu geben, hoffend, dass er nett ist und meine Rechnungen bezahlt; ich muss das noch schnell abschliessen.“ Sie setzte sich vor den Computer, setzte eine Brille auf und in aller Ruhe konnte ich sie betrachten. So ganz anders sah sie aus, eingepackt in lange Hosen, warme Pullover; erwachsen, auch wenn ich mich immer so jung fühlte in ihrer Gegenwart, „und dann?“
„Was?“ „Wie ging es weiter?“ „Grosse Krise.“ „Wer war schuld?“ „Schuld? Es braucht zwei zum Tango tanzen. Ist das jetzt ein argentinisches oder ein Albionisches Sprichwort? Egal, schuld war natürlich er.“ „Natürlich, und dann?“ „Wir trennten uns, für eine Weile, drei Monate oder so, dann kamen wir hierher. Ich wurde sofort schwanger, wir waren wieder sehr glücklich und eines Tages waren wir es nicht mehr.“ „Warum?“ „Ich bin nicht sicher, aber es war so. Er ging für zwei Wochen nach Brasilien, kam vier Monate später zurück, kurz vor Weihnachten.“ Gedankenverloren sass sie da, schaute auf den Monitor, als teile er alle ihre Geheimnisse, dann nahm sie die Brille ab, schaltete aus und blieb sitzen. „Er wollte nicht mehr hier leben, wollte zurück nach São Paulo und ich habe nicht mitgehen können. Nicht nach Sampa, nicht mit zwei Kindern und drei Koffern, nicht noch einmal. Nicht mit ihm.“ Ungestüm schob sie den Stuhl zurück, sprang auf, ging hin und her, und da war sie wieder, diese Leidenschaft, die sie wohl zerreissen würde, wenn sie nicht ständig in Bewegung bliebe, sie abschüttelte.
„Ich hatte plötzlich Zeit, so viel Zeit, so viel Raum, der sich aufgetan hat in diesen vier Monaten. Ich hatte sie doch schon verloren, meine Liebe, noch bevor er zurückkam und wieder fort ging; so viel Leere, die ich füllen konnte.“ Sie blieb stehen, schaute geistesabwesend vor sich hin, schien kaum mehr zu atmen, dann seufzte sie auf, schüttelte sich, als komme sie aus dem Regen; „wir konnten nicht mal zur Beerdigung fahren. Die Toten werden sofort begraben, am nächsten Tag schon, wegen der Hitze wahrscheinlich. Sie werden kaum genug Kühlraum haben für all die Leichen, die jeden Tag so anfallen in São Paulo. Ja, das wird es sein. Hast du Hunger?“ Entgeistert starrte ich sie an, erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund, sah so komisch aus in ihrem Entsetzen, dass ich zu lachen anfing, etwas verschämt fiel sie ein und so unverhofft nah war sie mir plötzlich, dass ich sie in die Arme nehmen wollte.
„Das ist Max, er ist wach.“ Horchend hatte sie den Kopf erhoben, leicht lag ihre Hand auf meinem Arm, hielt mich sachte auf Distanz, „lass ihn bloss in Ruhe. Bitte. Er hat eine unglaubliche Laune nach seinem Mittagsschlaf. Hast du jetzt Hunger oder nicht?“, und langsam folgte ich ihr hinunter zu dem quengelnden Bübchen. Geduld brauchte ich, etwas Geduld nur; und dann gingen wir tatsächlich Schlittschuhlaufen.
Ich hatte mich anstacheln lassen von spöttischen Bemerkungen über älterer Herren Knochen, und obwohl ich panische Angst hatte hinzufallen, nahmen wir Max in die Mitte. Schnell hatte er genug, sofort war ich bereit, mich mit ihm in das kleine Café zu setzen; und schwatzend, gestikulierend, zeigte er durch die Fensterscheiben auf seine Mutter, auf Sami, ging hierhin und dorthin, trank eine Cola; leise hatte es zu schneien begonnen und ich schaute hinaus in das schwindende Licht, schaute Sami und Viktoria zu, wie sie inmitten wirbelnder Flocken übers Eis kurvten.
Wieder zu Hause kochte sie Spaghetti für uns und dann dauerte es eine Weile, bis die Kinder im Bett waren, ich meine Einladung anbringen konnte, die rundweg ablehnt wurde. „Viktoria, willst du mich beleidigen? Ich war fast zwei Wochen Gast in deinem Haus und“, „machst du Spass?“ Vielleicht hatte ich eindringlicher gesprochen als beabsichtigt, misstrauisch witterte sie nach dem vermeintlichen Spott, „nein, natürlich nicht, ich“, „Robin, ich will dich nicht beleidigen, wieso auch? Aber du bist doch ein Lord, ein echter meine ich; eben, und ich habe diese Angewohnheit in Fettnäpfchen zu treten und die stehen bei dir sicher in rauen Mengen an den unmöglichsten Orten.“ Weggeräumt sollen sie werden, ausnahmslos, versprochen, „und es werden auch Kinder da sein, Viktoria, mein Patensohn und sein Bruder, und du nimmst natürlich deine Kinder mit.“ Immer noch zögernd bedachte sie mich mit einem seltsam scheuen Lächeln, das ich erwiderte. Es gab nichts zu befürchten.
Sie:
„Aua! Sami, schnell! Schlag mich auf den Rücken, hier, fester, mit den Handkanten!“ Nie mehr werde ich meinen Kopf gerade richten können, nie mehr, und die Vorstellung, wie ich mit nach links geneigtem Kopf durch den Rest meines Lebens gehe, treibt mir die Tränen in die Augen. Ah, wie das schmerzt; „mit den Handkanten, hier.“ Er schlägt, Max weint, weil es mir weh tut, weil Sami mich nicht schlagen soll; die Maschine schüttelt und ich hasse es, hasse fliegen, Flugzeuge, kann nicht mal ausrasten, eingepfercht in dieser Toilette mit Wickeltisch von der Grösse eines Serviertabletts! Tief atmen, noch ein Mal, und was immer ich mir eingeklemmt habe wird locker, die Maschine schüttelt, ich reisse mich zusammen, führe uns torkelnd zurück auf unsere Plätze, setze die Kinder zurecht, schnalle sie an, wundere mich etwas über die Gurte, die eh nichts nützen würden, belehre mich über Luftlöcher und andere unerfreuliche Dinge zwischen Himmel und Erde; und ich decke sie zu, sie schlafen ein, schlafen tief und fest, hängen zusammengekrümmt in ihren Sitzen.
Noch fünf Stunden; Jorge holt uns ab und morgen fahren sie alle an den Strand. Heute eigentlich; Jorge, Tante und Grossmutter. Wird schon gehen, sie bleiben nicht lange, dann kommt Malu mit ihrer Bande, Sé mit der seinen und wenn sie gehen kommen Ana, Luiz und Alzira; und ich versuche meine Ohren zu verschliessen vor dem immerwährenden Dröhnen der Motoren, meinen Bauch unter Kontrolle zu halten, weil es schon wieder schüttelt, versuche mir einzubilden, dass das Schütteln das Wiegen der Wellen ist, das Dröhnen das Rauschen der Brandung, was ich atme Luft, die nach Meer schmeckt, nach Wind, Salz und Wasser, doch es geht nicht so recht.
Ohne mich werden sie fahren, und es wird gut gehen. Natürlich wird es gut gehen! Jorge fährt vorsichtig, nicht so schnell wie Henrique immer gefahren ist, und Sami kennt das Meer, kann auf sich aufpassen. Max! Sie müssen zwei Augen auf ihn haben, er ist so furchtlos, ein Helmkind, ich muss es wiederholen, immer wieder. Die Fenster! Sechster Stock! Zuerst muss ich nach den Fenstern sehen! Hör auf! Schluss! Es wird nichts passieren! Keine Unfälle, Überfälle, keine verirrten Kugeln, Entführungen, gar nichts, die Familie bleibt nur bis zum Weihnachtstag; und es schüttelt, schüttelt immer irgendwo über dem Atlantik. Tief atme ich ein, denke an das Willkommen der Sonne, an die Wärme des Sandes, die Kühle des Meeres, wie ich meine Seele waschen werde in seinen Wellen.
Die Seele; die Indios sagen, dass es ihr zu schnell geht, sie nicht mithalten kann mit einem Flugzeug. Etwas mehr Zeit zwischen Zürich und São Paulo wäre nicht schlecht, doch, ein Stopp in Lissabon, genau, an der Quelle des Chaos warten, bis sie nachkommt; und still lache ich mich aus, suche etwas mehr Platz für meine Beine, versuche zu schlafen; einen Tag und eine Nacht für mich allein. Ich geh einkaufen, jawohl, kaufe mir das schönste Kleid, das ich finden kann, und dann endlich zieht der Frühstücksduft durch die Kabine, Sami wird es schlecht, ich halte die Papiertüten bereit, hasse es, hasse fliegen, wäre gern ein Vogel. Eine Möwe, in Maresias.
„Wo hast du das gekauft?“ „Schön, nicht?“ „Hast du heute Abend etwas Bestimmtes vor?“ Sie lacht und ich drehe mich, wende mich, fange ihr Lächeln im Spiegel auf. Hab ich das? „Ich weiss nicht, ob ich hingehe und mit dem Kleid sowieso nicht“, ziehe es aus, lege es in den Koffer, von wo es wohl für immer in meinem Kleiderschrank verschwinden wird. „Geht es dir gut, Gringinha?“ Sanft ist ihre Stimme und ich setze mich zu ihr, lasse mich halten, wiegen, als wär ich ihre Kleinste. „Ja, es geht mir gut und den Kindern auch.“ „Hast du einen neuen Mann?“ „Fragst du das, weil ich nicht mit dem Kleid an die Party gehen will?“
Aufgebracht plötzlich mache ich mich los, stehe auf, muss hin und her gehen, „ich halte das Trauerjahr ein“, schaue sie an, sehe trotzigen Ärger aufblitzen. Sie sind noch da, die alten Gesetze, schlummern tief in unseren Eingeweiden, können jederzeit geweckt werden; kalt ist mir plötzlich und irritiert schüttelt sie den Kopf. „Wie zynisch du bist, Vicky.“ „Ich bin nicht zynisch, ich bin eine Frau mit Anhang. Ich habe keinen Platz für einen Mann. Die Kinder brauchen mich.“ Immer noch schüttelt sie den Kopf, tadelnd jetzt, und ich weiss genau, was sie sagen wird. Aber sie hat Unrecht. Muss ich denn nicht neben ihnen hergehen, sie begleiten, damit sie so sicher wie möglich wachsen können, bis sie bereit sind alleine weiterzugehen? „Bis zum Tag, an dem sie es nicht mehr tun. Du solltest dich nicht nur auf die Kinder konzentrieren, du brauchst ein eigenes Leben, Vicky, und du wirst irgendwann auch einen Mann brauchen.“ Brauchen? Ich habe doch schon Kinder, ernähren kann ich sie auch. Brauchen; was ich wirklich brauchen könnte, gibt es nicht, ist ausverkauft, hat es vielleicht nie gegeben.
„Ach was, Ana, ich warte auf den Prinzen.“ „In deinem Alter?“ „Ja, er muss ja nicht mehr zwanzig sein“, und ich lache, strecke ihr die Zunge raus; „nein, ernsthaft, darunter mach ich es nicht mehr. Aber er muss auf einem Pferd kommen, einem grossen, weissen Pferd, und dann verlier ich einen Schuh, er wird zum Frosch und wenn ich ihn nicht küsse, bleibt er es auch. Verstehst du? Zuerst muss man den Frosch küssen! Ein Vertrag wäre natürlich auch eine Möglichkeit. Ich treffe einen Mann, komme ihm gerade recht und er mir auch, wir machen einen Vertrag, in dem genau festgehalten wird, was er muss und was ich muss und wie viele Male, und dann spielen wir Mann und Frau“, lache, umarme sie, habe sie so lange vermisst. „Ah Ana, ich würde mich noch ein Mal mit einem Mann einlassen, ein einziges Mal nur, und er wäre die Erfüllung aller Träume, die ich schon von ihm geträumt habe.“
Fast gleichzeitig hören wir das Weinen, Ana geht hinaus, und ich? Was soll ich tun? Soll ich jetzt hingehen? Carlos’ Einladung hat echt geklungen, und er ist immer ein Freund gewesen. ‚Vicky, ich weiss, dass du es nicht getan hast, nein, warte, du verstehst nicht. Wir haben herausgefunden, wer es war und ich habe dafür gesorgt, dass das alle zu wissen bekommen.’ Mit dem Kindchen auf dem Arm kommt Ana zurück, setzt sich zum Stillen hin, ich setze mich zu ihr, ganz nah an den Dunst von Muttermilch, und leise sprechen wir über unsere Kinder, unsere Erfahrungen, die Anstrengungen, die sie kosten, beiläufig erwähnt sie Luiz, er ist auch noch da, hat Ansprüche, und dazu habe ich nichts zu sagen.
„Gib sie mir endlich, Ana, sei nicht so gluckig.“ Sie lacht mich aus, von wegen Glucke, legt mir das Menschlein in die Arme; „hallo, mein Mädchen, ich bin deine Schwiegermutter. Du wirst Max heiraten. Sami ist zu alt für dich und er ist schon an deine Schwester versprochen“, wiege sie sanft hin und her, ihr Köpfchen an meinem Gesicht. So lange habe ich kein Baby mehr gehalten, habe vergessen wie klein sie sind, wie gut sie riechen.
„Du bist schon zurück?“ Sie sitzen vor dem Fernseher, Gras liegt in der Luft, ich schlüpfe aus den Schuhen; „ist noch was übrig? Und was schaut ihr da?“ „Unmöglicher Schinken. Warum bist du schon zurück?“ „Motta war dort. Ich bin keine fünf Minuten geblieben.“ „Da hast du aber lange gebraucht. Hast du dich verfahren?“ „Nein“, und ich erzähle von dem Gringo, der gebeten hat, ihn mitzunehmen. „Sag mal, spinnst du?!“„Wieso?“ „Erzähl bloss, du nimmst in der Schweiz fremde Männer in deinem Auto mit.“ „Ja, klar, die ganze Zeit. Komm, ich steige schliesslich auch in ein Taxi.“ Er glaubt nicht recht gehört zu haben, kann sich kaum erholen; ich denke, dass er ein Problem hat, ein rein biologisches, lache ihn aus, weil ich sehr wohl in der Lage bin abzuschätzen, wann ich was riskieren kann, reiche den Joint an Ana weiter und sie legt ihn weg, lächelt. „Was? Er war nett, wirklich, wir haben noch was getrunken.“ „In welchem Hotel wohnt er denn?“ „Im Mofarrej.“ „Im Sheraton? Da bist du aber einen Umweg gefahren.“ „Einen kleinen, Gringos müssen zusammenhalten. Morgen fahr ich übrigens gleich nach dem Frühstück“; und immer wieder unterbrochen von dem unmöglichen Schinken, schwatzen wir von vergangenen Zeiten, alten Bekannten, freuen uns auf gemeinsame Tage.
Nett hat er ausgesehen, sympathisch, doch, hatte etwas von einem alten Baum, und ich lache, denke, dass er das nicht gerne hören würde; seine Ausstrahlung natürlich, das Gesicht eher kantig, nicht unedel. Hat Motta nicht was von Lord gesagt? Ja, ja, der eine heisst Prince, der andere Lord, und durch die Kurven der Anchieta fahre ich dem Meer entgegen, weit über die Ebene von Santos hinaus geht der Blick, lässt einen Schimmer von Blau in Blau erkennen, und ich denke, dass der Gringo kein Amerikaner war.
Ja, ja, konzentrier dich auf die Strasse, auf die Lastwagen, die dreissig fahren, von einem anderen mit fünfunddreissig überholt werden. Ich kenne das, habe das schon gemacht, bin bald unten, da kommen sie von allen Seiten; vergiss die Bodenmarkierungen, die sind falsch, das habe ich ihm noch gesagt, gut; und ich bin eingekreist, eingenebelt, es stinkt atemberaubend, aber ich kann das Steuer jetzt nicht loslassen, das Fenster nicht hochkurbeln, ich muss mich konzentrieren, mir die ekligen Dämpfe reinziehen, kann das, habe das schon überlebt, mehrere Male sogar, vorne rechts ist die Ausfahrt; und ich stelle den Blinker, sehe die Lücke, reduziere, gebe Gas, es reicht, nicht allzu knapp, die richtige Ausfahrt war es auch, Cubatão liegt neben mir, und ich kann endlich das Fenster hochkurbeln, aufatmen, der Verkehr hat nachgelassen, kann nach den Baumskeletten Ausschau halten, nachsehen, ob es mehr geworden sind. Öliggelb fällt der Regen in Cubatão und immer wieder ungläubig staune ich die Pflanzen an, die da trotzdem wachsen, die aufgeworfenen Hügel entlang der Autobahn überziehen, biege endlich ab, öffne das Fenster, atme ein, atme durch, fahre hinein in das Grün, das nur die Paarung von Glut und Regen im Schoss der roten Erde hervorbringen kann.
„Mami, du bist da, ich bin so froh, bist du da“, und ich gehe in die Knie, werde umarmt, küsse, umarme, lasse mich einspinnen in ihre Geschichten vom Käfer im Badezimmer und Max reisst die Augen auf, weil er so riesig war, der Kakerlak; begrüsse die Familie, bedanke mich fürs Kinderhüten und ein Schwall von Ratschlägen, Vorwürfen, Ideen, wie man es besser machen könnte, „diese Schreie, also wenn das mein Kind wäre, und er beisst!“, prasseln augenblicklich auf mich nieder; und ich lasse mich wegzerren, „Mami komm endlich, wir wollen zum Strand, ihr könnt nachher schwatzen“, lasse mich entführen durch das Schattenlicht der Bäume hinunter zum Meer.
„Du lässt dich tyrannisieren von deinen Kindern.“ „Wieso, weil ich ihnen eine Gutenachtgeschichte erzähle?“ Keinen Streit, komm, lass sie reden, wovon sie nichts versteht, es ist unwichtig, und still verlässt meine Schwiegermutter den Raum, schliesst leise die Tür. „Jetzt hat sie schon wieder geheult. Ich finde das unerträglich, sie sollte endlich darüber wegkommen.“ „Sie hat doch ein Kind verloren. Wie soll sie je darüber wegkommen?“ Dumme Kuh, warum versteht sie nicht!? „Bei dir ist es ja ziemlich schnell gegangen, Viktoria. Du siehst gut aus“, und ich möchte sie würgen, ohrfeigen, ihr das Gesicht zerkratzen, dieser miesen, muffigen Grossstadtschlampe, schlucke alles runter, erspare uns den Krieg; „ja, ich hab mich ausgeweint. Gute Nacht.“ Morgen fahren sie weg, graças a Deus, werden ihren Kummer wieder mitnehmen, morgen kommt Malu mit ihrer Bande, Sé mit der seinen.
Er besucht uns, wie nett, scheint sich wohl zu fühlen, mag unsere Mischung. Sé mag er besonders. Sie müssen etwas gemeinsam haben; und ich schaue ihn mir an, wie er da Geschichten erzählt von Löwen, er sich kurzerhand entschloss, den Kampf für Portugal Profis zu überlassen, als er Nachts auf Wache ihr Gebrüll gehört, sich fast in die Hose gemacht hatte. „Nicht ein einziger Baum, auf den man hätte klettern können, queridos, nur Dunkelheit, dieses grausige Brüllen“; und unweigerlich kommen sie auf den brasilianischen Löwen, lassen keine Gelegenheit aus, um über die Krise zu sprechen, die Regierung und ihre Schweinereien. Als ob das jemals anders gewesen wäre; und ich erinnere mich an den ersten Plano économico, den zweiten und dritten, an die Diskussionen, die wir hatten, als sie den Analphabeten das Stimmrecht gaben, es Demokratie nannten; wie sie Henrique als Funktionär im Wahlbüro aufgeboten hatten und der Doutô andauernd gefragt worden war, wo man denn jetzt das Kreuz machen müsse. Stimmen ist Pflicht, und das Nichtbefolgen zieht ernsthafte Scherereien mit einem Departement der Sicherheit nach sich.
Vielleicht war es einmal anders, vor langer Zeit, vor meiner Zeit. Für mich war es immer schon so, nur Fábio, Fábio ist nicht der Selbe, will mir an den Kragen, lauert schon lange; und dann renne ich durch die Küche, stosse die Hintertür auf, renne ums Haus, durch den Garten; hör auf zu rennen, du kannst nicht den ganzen Weg bis zum Strand rennen, hüpfe, ai, filho de uma cadela vadía, marschiere. Selber schuld. Nein! Er ist Gast in meinem Haus und er hat mich blossstellen wollen, weil er eifersüchtig ist, weil ich zu haben bin. Arschloch! Mieses, fettes, gemeines, besoffenes Arschloch! Selber schuld. Ja; und ich setze mich in den Sand, schaue hinein in das sich wiegende Silber des Mondes, schaue hinauf, suche nach dem Kreuz des Südens, finde so viele Kreuze am Himmel. Spielt es denn eine Rolle, was er denkt? Was er nicht denkt? Und ich lasse mich treiben, hinauf zu den Sternen, hinunter bis auf den Grund des Meeres, hinüber, zurück in den Osten, weiss einmal mehr nicht so recht, wo ich hingehöre.
Vielleicht geht er jetzt auch. Vielleicht sollte ich ihn bitten zu gehen. Ach was, der ist alt genug, der kann machen was er will; er will nach Maresias und heute Abend kommen Ana, die Mädchen, Alzira, mit Luiz wird er sich gut verstehen, und ich schaue hinaus aufs Meer, hinüber zur Serra. Es wird regnen, später, wie fast jeden Nachmittag, lehne mich zurück, lasse mich von der Sonne bescheinen, lasse Bilder von meiner Nonna aufsteigen, wie sie morgens ohne Zähne aufwachte, ich mich weigerte, Anweisungen einer zahnlosen Alten zu befolgen; sehe mich Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn im Dorf meiner Grossmutter, mich verabreden für den nächsten Tag, Samstag, am Montag fängt die Schule wieder an; und ich höre die Stimme meines Bruders am Telefon, die mich nach Hause befiehlt, höre mich streiten, weil er diesen Ton älterer Brüder drauf hat, weil ich Schlittschuhlaufen will, höre die Schreie meiner Mutter, sehe mich im Zug, auf dem Weg ins Spital und Verzweiflung drückt mir die Luft ab. Was soll ich den Leuten am Empfang denn sagen? Ich weiss doch nicht einmal, wo er liegt, in welchem Zimmer. Was soll ich denn bloss sagen?!
Und ich renne durch den Sand, tauche ein, die Welle rollt über mich hinweg, tauche dem Grund entlang, spüre ihren Sog, tauche auf, und wie kühle Seide, weicher Samt ist das Wasser auf meiner Haut. Warum bist du fort gegangen? Warum hast du mich verlassen, alles mitgenommen, mir nur Angst gelassen? Und ich spüre die Kraft des Wassers, weg vom Strand fliesst es, zurück in den Ozean, doch dann hebt sie mich empor, nimmt mich mit, trägt mich zurück an Land, bringt mich in Sicherheit.
„Gefällt er dir?“ „Wie meinst du? Als Mann?“ „Nein, Vicky, als Bohnentopf.“ „Vielleicht hast du ja als Mensch gemeint.“ Mit dem Geschirrtuch schlägt sie nach mir, hat Mann gemeint, weil das auch Menschen sind, falls ich das vergessen haben sollte, und ich hänsle sie mit ihrer Vorliebe für den europäischen Typus. „Komm, sei ernsthaft. Du gefällst ihm nämlich.“ „Als Frau?“ „Unbedingt. Am Strand hat er mehr als ein Auge auf dich.“ „Auf dich auch, querida. Er ist sich unsere Bademode nicht gewöhnt.“ „Du hast ‚unsere’ gesagt, Vicky.“ Mit ihren leuchtenden Augen sieht sie mich an, streichelt meine Wange, „ich mag es, wenn du vergisst, dass du eine Gringa bist.“
Barfuss stehe ich in der Küche, alle Fenster und Türen sind offen, Wärme im Überfluss strömt herein, bringt Gerüche mit sich von Jod und Salz, wilden Pflanzen, Feuchtigkeit vom letzten Regen und irgendwo steht noch ein Abfallsack; ich höre Max mit den Mädchen quietschen, höre die ruhigen Anweisungen von Luizinho, der mit Hilfe von Sami sein Surfbrett auf Vordermann bringt; Alzira und Robin kommen mit dem letzten Rest des Frühstückgeschirrs, etwas unsicher stellt er Teller und Tassen in die Spüle und augenblicklich räumt Ana den Platz an meiner Seite.
„Was machst du da?“ „Den Teig für die Brötchen.“ Er nimmt die Schüssel auf, „riecht eigenartig.“ „Ja, ich weiss, wie Katzendreck.“ „Katzendreck, Viktoria?“, und er lacht, beredte Blicke huschen von Ana zu Alzira, bleiben an mir kleben. Es riecht wirklich nach Katzendreck, Weiber, lasst mich bloss in Ruhe; „wir sollten heute einkaufen, Silvester steig ich nicht ins Auto. Kommst du mit, Robin? Passt ihr auf die Jungen auf? Max nehme ich mit, wenn er will“, nehme die Schüssel mit dem Teig aus Robins Händen, stelle sind in den Kühlschrank, setze mich hin; wir machen die Liste, er macht sich bereit, Max hat absolut kein Interesse und zu zweit fahren wir nach São Sebastião.
„Zuerst gehen wir zum Fischmann, da muss man früh hin. Magst du Fisch und anderes Meeresgetier?“ „Ja, ich mag Fisch und anderes Meeresgetier. Dein Albionisch ist erstaunlich gut. Etwas zu schluderig vielleicht.“ Hoch oben an der Serra fahren wir, alle Fenster sind offen und es ist heiss und feucht, feucht und heiss, ich spüre, wie meine Haare sich kringeln, bitte um Vergebung und er vergibt mir. „Siehst du die Landspitze dort? Das ist Ilhabela, sie liegt genau vor São Sebastião. Früher war sie ein Piratennest. Auf der anderen Seite gibt es eine tiefe Bucht, da haben sie sich versteckt.“ „Kann man hingehen?“ „Ja, aber mit dem Auto ist es sehr mühsam. Die Strasse ist nur ein Weg und wenn es regnet, bleibt man stecken und wird gefressen. Die Insel ist voller Borrachudos.“ „Was ist das denn?“ „Mücken, winzige Mückchen, man sieht sie fast gar nicht, aber sie beissen schrecklich.“ „Du meinst sie stechen.“ „Nein, das meine ich nicht. Die stechen nicht, glaub mir, die beissen.“ Er lacht und ich mag ihn; „wie alt bist du, Viktoria?“ „Achtunddreissig.“ Eben, in zwei Jahren bin ich vierzig, und das passt mir nicht. „Ich habe dich jünger geschätzt.“ „Danke, ich schätze dich auch jünger.“ Wieder lacht er, weit draussen am Horizont taucht ein Tanker auf und ich frage mich, ob man sich verlieben kann, so wie man geht zum Beispiel, von A nach B. Ich verlieb mich jetzt, bis später dann, gebe es auf, konzentriere mich auf die Strasse; voller Löcher ist sie, Erdrutsche hat es auch gegeben.
Crevetten, Fisch brauch ich nur einen, Fábio hat noch Fleisch dagelassen, und stumm plötzlich starre ich auf die Auslage schuppiger Leiber. Es ist nicht wahr, was er gesagt hat! Ich bin nicht froh, dass Henrique tot ist, alleweil könnte ich mit ihm leben, den Atlantik zwischen uns, schaue in die gebrochenen Augen der Bewohner des Ozeans, der uns trennen würde, wenn er noch lebte, spüre Robins Hand auf meinem Arm. „Bist du in Ordnung, Vic?“ „Ja, den hier nehm ich. Könnt ihr mir den säubern? Die Crevetten auch, aber gebt mir die Köpfe mit, die brauch ich für den Sud“; Robin will bezahlen, ich erkläre, dass der Fisch hier auf Eis liegen bleibt, man beim Abholen bezahlt, er mich nicht beleidigen soll, weil Gäste nur im Hotel eine Rechnung kriegen, und trocken legt er mir dar, wer was zu unserem Ferienhaushalt beisteuert, wird es auch tun, „und wenn dich das beleidigt, bist du selber schuld.“
Er lächelt, ich mag seine unaufdringliche Nähe, er will mir wohl, denke ich, hake mich unter, wir gehen weiter zum Supermarkt und es riecht nach Trockenfleisch für die Feijoada, nach Bacalhau, tropischen Früchten und Kaffee, nach den unheimlich starken Putzmitteln, billiger Seife, riecht nach dem Leben, das ich einmal hatte hier, vor langer Zeit.
„Lass den Jungen das machen.“ Etwas pikiert sieht er mich an, wird doch ein Kind nicht den voll bepackten Karren bis zum Auto stossen lassen; „er tut seine Arbeit, er braucht sie. Gib ihm ein gutes Trinkgeld. Du darfst das, du bist ein Gringo“, und der Junge geht los, fragt welches Auto, packt die Tüten vom Karren in den Wagen, Robin gibt ihm zehn Reais und strahlend nimmt er das Geld, verschwindet wie der Blitz, wird den verrückten Ausländer nie mehr vergessen, der ihm ein Vermögen in die Hand gedrückt hat. „Du inflationierst die Preise.“ „Was ist das übliche?“ „Fünfzig Centavos, ein Real ist schon sehr viel. Fürstliches Trinkgeld.“ „Dein Wunsch war mir Befehl“, und er hakt mich unter, wir gehen auf ein Eis zu Rocha, schlendern hinüber zum Hafen, wo sie die Petrotanker löschen und beladen mit Hängematten kommt uns ein alter Mann entgegen gewankt, hält uns auf, ich sehe wie jung er ist; brauche aber wirklich keine, habe doch schon zwei. Er legt sie trotzdem auf den Boden, öffnet sie, ist aus dem Norden gekommen, Pernambuco, drei Tage und Nächte hat er gebraucht mit dem Bus, und wenn er alle verkauft hat, fährt er zurück, holt eine neue Ladung.
„Was meinst du? Soll ich eine kaufen?“ „Klar, häng sie auf und hör dem Regen zu, wenn du wieder zu Hause bist.“ „Also gut, warum nicht. Soll ich feilschen?“, und ich schaue auf den jungen Mann mit dem alten Gesicht. „Hast du das nötig?“ Befremdet sieht er mich an, verfremdet, sein Gesicht hat sich bewegt, das tut es sehr selten, immer gleich sieht es aus; und er bezahlt den geforderten Preis. „Du solltest dir eine neue Badehose kaufen.“ „Findest du?“ „Ja, finde ich. Komm.“ Er kauft sich zwei, wir treten aus dem Laden und aufgeregt schwankend unter seiner Last eilt der Hängemattenmann auf uns zu; „das ist doch Ihres, tia, Sie haben’s liegen lassen.“ Strahlend hält er mir Robins Kamera entgegen und ich sehe wie jung er ist, fast noch ein Kind.
„Du rufst mich an, wenn du etwas brauchst. Vicky!?“ „Ja, ich ruf dich ganz sicher an, wenn ich was brauche, danke, Fábio; vamos, meninos, gehen wir.“ Er begleitet uns zur Passkontrolle, umarmt uns noch einmal; „kommst du im Winter?“ „Nicht einmal die Jahreszeiten haben wir gemeinsam. Ich nehme an, du meinst den Sommer.“ „Zicke.“ Er drückt mich etwas, küsst die Kinder, wir passieren die Kontrollen, verstauen uns an Bord; und die Maschine zieht über die Piste, hebt ab, fliegt hinweg über ein Meer aus Lichtern, steigt, fliegt davon und wir sind umgeben von Dunkelheit, dem ewigen Dröhnen der Motoren.
„Wie war es?“ „Warm.“ Einkaufen ich muss noch, das Nötigste nur, er sagt, wo er geparkt hat, geht vor mit Gepäck und Kindern; im Flughafensupermarkt riecht es nach Käse, still ist es auch, ich trage meinen Wintermantel. Kauf ich halt Käse, Schokolade, beeile mich; und durch düsteres Grau fährt er uns nach Hause, ich schliesse auf, sie stürmen hinein, stürmen vor den Fernseher, ich stürme zur Heizung; „willst du mit uns essen?“ Essen nicht, nein, aber einen Kaffee hätte er gerne. „Gehst du im Sommer wieder?“ „Ich denke schon, wenn das Geld reicht.“ „Du verdienst ja nicht schlecht.“ „Gott sei Dank. Warum kommt ihr nicht mit? Nein, ernsthaft, wie viele Neffen hast du auf dieser Welt?“
Knurrend zieht er die Augenbrauen zusammen, wirft mir ebensolche Blicke zu, „du solltest wieder heiraten.“ „Du bleibst ihr Onkel, auch wenn ich wieder heirate. Ach, vergiss es“, stehe auf, hole die Zwiebeln hervor, den Knoblauch, werde einen Picknickkorb mitnehmen, wenn ich das nächste Mal in einen Flieger steige, und warum sage ich immer dasselbe? Du musst abnehmen und falls du es vergessen haben solltest, du hast zwei Neffen. Immer sage ich das, hab ihn doch nur nach Brasilien einladen wollen. „Willst du wirklich nicht hier essen?“ „Nein, ich gehe dann nach Hause.“ Schnell wasche ich mir die Hände ab, küsse ihn auf die Wangen, danke fürs Abholen, fürs Nachhausebringen und verlegen murmelt er etwas von selbstverständlich, geht zum Gästezimmer, klopft linkisch an die weit offene Tür. Im Bann von irgendeinem Affen sind sie, oder Drachen, fliegender Schildkröte; Sami macht mhm, ja, ja und danke, und ich bringe ihn hinaus.
Heiraten, was soll das? Alle sagen sie dasselbe, fragen dasselbe. Hast du einen Mann? Du brauchst einen Mann. Aber warum denn nur? Weil man das einfach hat, oder was; und ich hocke mich auf den Boden, räume die Koffer aus, werfe den Sommer in den Korb für die Schmutzwäsche, sollte noch etwas arbeiten, schnell einschalten, mich vergewissern, wo ich stehe. Nur nicht hetzen jetzt, wir sind angekommen, sind zu Hause, und ich stehe auf, hole meine Tasche, nehme die Pässe heraus, lege sie weg, die Dokumente für das Haus, die Fábio mir gegeben hat, Robins Karte, bin zurück in den Armen des Alltags.
Ah, verdammt, wie soll ich das bloss hinkriegen? Mein Kopf ist so leer, mein Herz, mein Schoss erst, und ich gehe hinunter in die Küche, trinke Wasser, gehe wieder hoch, gehe hin und her. Für Kinder ist es, Englisch für Kinder, und was ich gemacht habe, ist langweilig, ätzend, öde; wieder gehe ich hinunter, trinke Wasser, gehe auf und ab, stolpere fluchend über ein Videospiel von Sami, hebe es auf, drehe es hin und her; für Kinder, für Kinder am Computer, und ich lege es ein, bin im Bann von einem Affen, bin Sekunden später geschlagen. Das ist es! Zwei Stufen auf einmal nehmend renne hoch in mein Zimmer, lege mir die Vorlagen zurecht, beginne mit deren Verwandlung in ein Abenteuer für Kinder, die Englisch lernen müssen; und Robin ruft an, ist hier, kommt vorbei und ich stehe auf, hole seine Karte hervor.
„Hallo? Claire?“ Sie freut sich von mir zu hören, wir plaudern und ich frage nach den Jungen, sie erzählt, fragt nach den meinen, ich erzähle, erzähle von Brasilien; sehnsüchtig schwelgen wir ein wenig in Erinnerungen an gemeinsame Jahre unter dem Äquator, und ich vermisse sie plötzlich. „Wann kommst uns besuchen, Vicky? Es ist schon so lange her. Nimm die Kinder mit, wenn du sie nicht allein lassen willst.“ „Ja. Ja, ich komme, ich würde euch gerne sehen. Ostern? Wie wär’s mit Ostern? Seid ihr da?“ Wir überlegen, werden sehen, Ostern vormerken, und dann brauche ich etwas mehr Luft als gewöhnlich.
„Claire, wenn ich dir den Namen eines Lords sage, weisst du dann, ob es den gibt oder gibt es die wie Sand am Meer bei euch?“ „Sand am Meer, Viktoria? Wie soll er denn heissen?“ Ich sage ihr den Namen, „den gibt es bestimmt.“ „Weisst du, wie er aussieht?“ „Vicky, bist du in Ordnung?“ „Ja, klar, ich möchte nur wissen, wie er aussieht, ungefähr, und hör auf den Kopf zu schütteln.“ „Ich schüttle nicht den Kopf. Sprich mit Ian, warte, ich geb ihn dir.“ „Ian?“ „Vicky! Wie geht es dir? Wir denken oft an dich.“ „Ich weiss, ich denk auch oft an euch.“ „Hast du Probleme?“ „Nein, ich will nur wissen, wie ein bestimmter Lord aussieht.“ „Und warum willst du das wissen?“ „Eben, weil ich keine Probleme habe. Also?“ Er gibt mir ein Bild von Robin, mehr oder weniger, lacht, als ich nach seinem Ruf frage, wird sachlich; „du kennst ihn?“
„Ich habe ihn in Brasilien kennen gelernt und er hat mich hier besucht und dann hat er mich eingeladen. Also, was hat er für einen Ruf?“ „Ich wünsche dir viel Vergnügen.“ „Ian, du bist ein Esel. Ich will es wissen, wirklich. Was weiss man über ihn?“ „Wie gut kennst du ihn?“ „Er war mit uns am Strand, so ungefähr zehn Tage, mit den Kindern und Freunden. Er ist nett. Sehr Albionisch.“ „Viktoria, er war zehn Tag Gast bei dir und du rufst mich aus der Schweiz an, um nach seinem Ruf zu fragen?“ Wieder lacht er, lacht mich aus. Männer! Sie haben einfach keine Ahnung. „Ian, er war bei uns in Anwesenheit von mindestens drei weiteren Erwachsenen, zeitweise vier anderen Kindern. Er war einfach auch noch da und er ist wirklich sehr nett, aber ich kann nicht in das Haus eines Mannes gehen, von dem ich eigentlich gar nichts weiss. Verstehst du? Mann? Und schon gar nicht mit meinen Kindern. Also?“ „Darf ich dich etwas Persönliches fragen, Vicky?“ „Ah, tu es nicht, ich flehe dich an. Ich würde antworten.“ Er verzichtet auf die Frage, meint, dass ich annehmen kann, dass Robin weder mir noch den Kindern etwas tun wird; „wenn es das ist, was dir Sorgen macht.“ „Genau, das war es. Und tschüss.“
Was hat er mich bloss fragen wollen? So lange habe ich mit keinem Mann mehr geschlafen. War es das? Merkt man es schon? Kommt es daher, dass alle nach dem Mann fragen, mich Zicke nennen? Ein Jahr, mehr als ein Jahr schon; und meine Gedanken wandern nach Brasilien, tauchen ein in das gleissende Licht der Sonne, in die Hitze, die den Asphalt weich werden lässt, gehen unter im Chaos von São Paulo; und ich denke an Henrique, an unsere Wochenenden am Meer, Salz auf meiner Haut, sehe mich neben ihm im Auto sitzen, Richtung Maresias fahren, die Strömungen beobachten, diese gefährlich dunklen Streifen, die das Meer wie Flüsse durchziehen. ‚Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine Frau heirate, die nicht mehr Jungfrau ist.‘ Ein Schlag aus dem Nichts, und ich war stumm geblieben. Hätte ich mich schämen müssen? Jahre später erst, mitten in unserer Krise, ist mir dann endlich ein Licht aufgegangen.
‚Es war eine Liebeserklärung! Ana! Ich glaub, ich spinn! Er sagt nicht, ich liebe dich. Er sagt, dass er sich nie hätte vorstellen können, eine Frau zu heiraten, die nicht mehr Jungfrau ist. Ai, casseta, und jetzt stehe ich wohl für immer in seiner Schuld, weil er sich so hat überwinden müssen! Seltsame Liebeserklärung, wirklich, ganz eigenartig!’, und sie hatte beruhigt, erklärt. War er nicht ein Kind der Revolution? Aufgewachsen, wie sie auch, mit den ehernen Werten der Militärs und der Kirche? Mit Gewalt und Gewalt, ja; und ich denke an unsere letzten Tage, an den Streit, den wir hatten. Meine Schulden bei ihm hatte ich für getilgt erklärt, für abbezahlt über die Jahre, und er war fort gegangen, zurück gekommen; nicht nach zwei Wochen, nein, nach vier Monaten, doch da war kein Platz mehr, da war nur Leere.
‚Gehen wir Skifahren, du und ich, über Neu Jahr, was meinst du?‘ Ziemlich voll würde es sein, schwierig für die Zeit noch was zu finden, einen Babysitter müsste man auch organisieren; ‚und warum willst du schon wieder fort von den Kindern? Sie haben dich vier Monate nicht gesehen.‘ ‚Und was ist mit dir? ‚Ich habe dich auch vier Monate nicht gesehen. Sonst ist weiter nichts.‘ ‚Du willst also nicht nach Bravoign?‘ ‚Nein‘; und einmal mehr hatte er sie über mir aus geleert, Vorwürfe, weil wir nie alleine etwas unternehmen, die Kinder immer dabei sind; und das Wochenende mit Motta, das gilt nicht, war nur ein halbes Wochenende gewesen, und selbst dazu hatte er mich zwingen müssen. ‚Alles machst du, für alle, aber wenn ich dich um etwas bitte, um ein paar wenige Tage allein mit der Frau, die ich liebe, dann geht das nicht, dann hat Madame andere Prioritäten.‘ Ein kleiner Junge, der keinen Zuckerstängel bekommt, wird gleich mit dem Fuss aufstampfen, und wie war das mit geliebter Frau? Madame? Prioritäten? Bitten? Lieben? Nichts für ihn tun?!
‚Ah, geh doch weg, Mann! Hau ab!! Leb sie sonst wo aus, deine Lebenskrise! Nicht mehr bei mir!!’ Alle Türen hatte ich knallen lassen, war zum Auto gerannt, rum gefahren, ziellos, wahllos, im Kreis. Scheisstyp, Scheissmacho, Scheisskerl, Scheisse, alles Scheisse, war zurückgefahren und er hatte auf mich gewartet. ‚Ich glaube wirklich, dass wir an ein Ende gelangt sind, Viktoria.’ ‚Ja, das glaube ich auch.’ In zehn Tagen war Weihnachten und wir hatten uns zusammengenommen, ich hatte ihm sagen können, wie traurig ich war, weil ich meine Liebe verloren hatte unter dem Schutt der letzten paar Jahre. So viel Schutt, in so kurzer Zeit und er hat alles zugedeckt, verschüttet. Es ist nicht wahr! Es stimmt nicht, was Fábio gesagt hat! Ich bin nicht froh, dass er tot ist. Aber ich lebe noch! Ich werde hingehen, schmecke Salz auf meinem Gesicht. Salz; das Meer muss aus Tränen gemacht sein, geweint von uns allen. So lange schon.