Читать книгу Maresia - Katharina Conti - Страница 7
Wiederkehr
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Aufgeregt, wie ein viktorianischer Jüngling vor seinem ersten Bordellbesuch, wartete ich in der Ankunftshalle, überlegte, ob ich die unangenehme Seite nicht besser aufgespart, zusammen mit den Jungen nur meinen Neffen und seine Freundin hätte einladen sollen. Aber Paul und Rebecca wussten immer, wann James’ Söhne bei mir waren, drängten sich schamlos auf, und dann unterbrach Viktorias Anblick meine bangen Gedanken. Mit Kind und Kegel kam sie heran, lächelte ihr warmes Lächeln, schien so stark und sicher, dass ich meine Befürchtungen verwarf und sie willkommen hiess. Gleichmütig ertrug sie meinen Spott über die zwei grossen und die etwas kleinere Tasche, die sie mitgebracht hatte, wir fuhren los und obwohl es lange nicht so kalt war wie in der Schweiz, hatten wir alles andere als angenehme Wetterverhältnisse.
„Auf dem Land ist es sicher wärmer.“ „Warum sollte es?“ Ich warf ihr einen schnellen Blick zu, sie schaute zum Fenster hinaus und als hätte sie gespürt, dass ich sie ansehe, drehte sie den Kopf zu mir. „In der Stadt ist es immer kälter, ich weiss nicht, vielleicht weil es durch alle Gassen zieht; und wenn es schneit, scheint es wärmer. Aber das Schlimmste ist eh Eis, Glatteis, das sieht man nicht. Nein, Eis mag ich überhaupt nicht.“ Diese sonderbare Angewohnheit über alltägliche Dinge nachzudenken, über den Unterschied von Kälte und Kälte; ich musste sie noch einmal ansehen, „was ist mit dem von Rocha?“, und sie lachte ihr tiefes, fröhliches Lachen.
Es war bereits dunkel als wir eintrafen, ich machte sie mit Walter und Mrs. Blaire bekannt und Heather im Schlepptau kamen uns die Jungen entgegen. Michael grinste von einem Ohr zum anderen. Ich wusste, warum er so grinste, fast platzen wollte vor Aufregung; bestürmt hatten sie mich, mir endlos vorgerechnet wie gut ihre Chancen stünden, weil sie doch eine Ausländerin war. ‚Ist sie deine neue Freundin, Onkel Rob?’ ‚Macht irgendwie alt. Finden Sie nicht?’ Sie war nicht meine neue Freundin, noch nicht, ich hatte Geduld, hatte nachgegeben; ‚aber nur, weil euer Vater nicht hier ist. Er hätte kaum Verständnis.’ ‚Dad kommt nicht?’ ‚Nein, Richard, er ist verhindert.’ Er war fast immer verhindert, wenn sie bei mir waren und voller Ärger auf James hatte ich Richards Enttäuschung zur Kenntnis, mir einmal mehr vorgenommen, mit ihm über seinen Sohn zu sprechen. ‚Besser so, er hätte nicht kaum sondern gar kein Verständnis‘, und gebieterisch fast war mir aufgetragen worden, Walter einzuweihen, mit Michael zusammen wollte er Heather und Mrs. Blaire übernehmen. ‚Paul und Rebecca?’ ‚Die kommen erst morgen, Rob, das entscheiden wir morgen’; und dann hatten sie noch einmal die Geschichte meiner Ferien hören wollen.
Arglos und freundlich wurden sie jetzt von Viktoria begrüsst, interessiert schnupperte Sami um Michael herum und Max gab Richard einen Stoss. „Quem és?“ „Richard“, sagte der, erwiderte den Stoss mit einem Schubser und hob ihn hoch. „Du musst aufpassen, er beisst manchmal.“ „Er beisst? Wieso beisst er?“ „Manchmal aus Wut, wenn er nicht mehr weiter weiss, meistens aus Liebe.“ „Aus Liebe?“ „Ja, Freude oder so. Es heisst: ich habe dich zum Fressen gern.“ Mit einer dieser Gesten, die wohl besagte, dass sie nichts dagegen tun könne, lächelte sie zu Michael und ich bemerkte den merkwürdig starren Blick, mit dem Richard sie bedachte. „Mach ihn bloss nicht wütend.“ Michael schnitt eine Grimasse, gestikulierte Sami ihnen zu folgen und ich führte Viktoria hinauf in ihre Zimmer.
Etwas steif trat sie vor den Kamin, knöpfte ihren Mantel auf, Walter trat mit den Taschen ein und erneut spottete ich über den Umfang ihres Gepäcks. „Ich dachte, du wolltest nur bis Sonntag bleiben.“ „Und ich wette, du packst deine Koffer nicht selber, sonst würdest du nämlich wissen, wie viel Platz Wintersachen brauchen.“ Als wolle sie mir die Zunge rausstrecken, schaute sie mich an, zog ihren Mantel aus, warf ihn nachlässig über die Taschen und mit unverhohlener Neugierde, sich leicht im Kreise drehend, schaute sie sich um. „Müsste ich dich eigentlich mit einem Titel ansprechen? Und wie ist das, wenn ich einmal auf den Prinzen treffen sollte und seinen Titel vergessen würde, ihn am falschen Ort gebrauchen oder so, wäre das sehr schlimm oder würde man mir verzeihen? Ich bin ja doch eine Nichtuntertanin.“ Fragend schaute sie mich an, wartete auf Antwort und ich dachte nur, wie schön sie war, wie frisch gewaschen in ihrer Natürlichkeit.
„Warum stellst du immer mindestens zwei Fragen auf einmal, Viktoria? Das ist eine unmögliche Angewohnheit von dir. Also, erstens, ich packe meine Koffer selber, teilweise wenigsten; zweitens, du musst mich nicht mit einem Titel ansprechen, nur nenn mich bloss nicht Robin. Abgemacht? Und drittens, es wäre sehr unhöflich, beleidigend schon fast, den Prinzen anzusprechen, ohne dass er darum bittet. Ich bin aber sicher, Seine Hoheit würde einer Frau wie dir verzeihen. Und jetzt komm, ich habe Hunger“, übersah gefliessentlich den erstaunten Blick, nahm ihren Arm, drückte ihn ein wenig, spürte, wie sie sich sperrte. „Machst du dich lustig über mich?“ „Nein, Vic, ganz im Gegenteil.“
Auch beim Tee beobachtete Richard verstohlen jede Bewegung von Viktoria, die, wie immer wenn es ans Essen ging, zur italienischen Mamma geworden war, dringend benötigte Fragen und Antworten übersetzte, den begeisterten Max resolut davon abhielt, sich über den Teetisch herzumachen; und dann fixierte sie ihn plötzlich. „Rob hat erzählt, dass du Computerprogramme machst“, beeilte Richard sich zu sagen, „ist das richtig?“ Sie bejahte, etwas schüchtern gestand er ein Problem mit seinem PC, begann auch gleich mit Erklärungen; „also, was meinst du?“ „Du hast das Programm gelöscht.“ „Das glaube ich nicht.“ „Ich schon.“ „Ist es verloren?“ „Das Programm kann man neu aufladen, die Daten sind natürlich weg.“ „Endgültig?“ „Auf der Festplatte sind sie gespeichert, aber da kann ich nicht ran.“ „Warum nicht?“ „Dazu braucht es einen Spezialisten.“
Er war fasziniert von der für ihn so ungewohnten Leichtigkeit, mit der sie mit ihm umging, zäh rang er um Anteilnahme, bis sie nachgab, sich das Problem ansehen wollte, und wir gingen nach oben in die Zimmer der Jungen. Viktoria setzte sich vor Richards Schosscomputer, schnell wechselnde Bilder erschienen auf dem Bildschirm, dann wurde er schwarz, und wie die Runen einer endlos langen Zauberformel erschienen mir die Zeichen und Buchstaben auf dem Monitor. „Es ist nicht da. Du hast es gelöscht. Hast du etwas runtergeladen?“ Zögernd nickte er, liess den Kopf etwas hängen, gedankenvoll auf einmal schaute sie ihn an und Michael drängte sich vor. „Bist du keine Spezialistin, Vicky?“ Sie schlug eine Taste an, „nein, ich bin nur neugierig.“
Am nächsten Morgen beschlossen wir in den Park zu gehen und es dauerte eine Weile, bis alle bereit, Viktoria einige Male die Treppen rauf und runter gelaufen war, vorbei an der Ahnengalerie, als hätte sie sie schon dutzende von Male gesehen, um eine Windel zu holen, die Stiefel von Max, ihre Jacke, und amüsiert hatte ich zugeschaut, wie sie Walter erklärte, was ein Rucksack war.
„Einen Rucksack meinen Sie, Mrs. Tavares?“ „Ja, Rucksack; das sagen wir auch. Haben Sie so was? Einen kleinen?“ Er bejahte, wie Walter das eben tut, fragte so förmlich nach ihren Wünschen bezüglich des Inhalts des Rucksacks, dass sie ihn ansah, als würde er gleich losprusten, was er natürlich nicht tat, und etwas verlegen bat sie um Wasser und Äpfel, oder ähnliches, bedankte sich höflich, als er mit dem Gewünschten zurück kam und stopfte die Windel oben rein. „Bist du jetzt endlich bereit, Robert? Können wir jetzt endlich gehen?“
Lachend hakte ich sie unter, wir machten uns auf die Jungen einzuholen, die ungeduldig voraus gelaufen waren, sich versteckten hatten, Maschinengewehrfeuer ertönen liessen, als wir sie entdeckten; befriedigt stellte ich fest, dass sie sich mochten und als sich Viktoria am Ufer des Teichs unter einen Baum hockte, Äpfel und eine Flasche Wasser aus dem Rucksack zauberte, hockte ich mich zu ihr. „Ich habe das Wurzelmehl gefunden, in einem brasilianischen Laden in der Stadt. Machst du diese Brötchen für uns? Und bitte sieh zu, dass Gladys alles aufschreibt.“ Ich grinste, und sie gab mir einen leichten Stoss, „die Brötchen also.“
Nach dem Lunch liess ich sie ziehen, hinaus zu den Ställen, überliess mich angenehmsten Vorstellungen, fühlte erneut Befriedung bei dem Gedanken, um wie viel einfacher die Zuneigung von James’ Söhnen alles machen würde, dann erhielt ich den Anruf. Er hatte es sich anders überlegt, war bereits unterwegs, zusammen mit Paul, Rebecca und Sandra; Walter meldete, dass Ryan und Lucie eingetroffen waren und leicht beunruhigt ging ich ihnen entgegen. „James kommt jetzt trotzdem, mit Freundin.“ „Na toll“, sagte Ryan, „ich hoffe, dein Gast ist hübsch, dann können wir den alten Katzen beim Kratzen zusehen. Aber dieser Paul und obendrein dein Kumpel James; mein Kind“, zärtlich küsste er Lucie hinters Ohr, „wir ziehen uns sofort zurück und speisen auf unserem Zimmer.“ „Würdest du gerne“, lachte sie, „sie sind eben vorgefahren“, und meine Unruhe verstärkte sich.
Angespannt und schlecht gelaunt trat James ein, wollte sofort seine Söhne sehen und Heather, nervös wie immer in seiner Anwesenheit, erklärte schnell, dass die Kinder draussen seien, mit Mrs. Tavares. Irritiert wandte er sich ab und ging in den Salon. „Ich hatte Richard jetzt sprechen wollen. Wieso weiss er nicht, dass wir kommen? Nein, ich will nicht spielen, Sandra, vielleicht später, und wer ist Mrs. Tavares, Rob?“ Gelangweilt stellte er sich ans Fenster und schaute hinaus. Der Himmel war schwarz geworden, wie Schemen tauchten plötzlich die Jungen vor uns auf, rannten lachend dem drohenden Regen davon, aufgeregt quietschend sass Max auf Richards Schultern, und bevor wir reagieren konnten, waren sie schon um die Ecke und verschwunden.
James war ihnen mit den Augen gefolgt, überrascht wandte er den Kopf zu mir, setzte zu einer Frage an, doch sein Blick blieb an Viktoria hängen, die gedankenverloren einen meiner alten Hüte in den Händen drehend durchs Gras ging. „Wer ist das?“, fragte er und wie angedreht prasselte Regen nieder, sie blieb stehen, liess sich das Wasser für einen Moment aufs Gesicht fallen, dann setzte sie den Hut auf, rannte los; mit ein paar grossen Schritten war James bei der Tür, riss sie auf, „kommen Sie!“, rief er und alle im Salon drehten die Köpfe. Mitten im Lauf wechselte Viktoria die Richtung, rannte mit gesenktem Kopf durch den strömenden Regen; „Himmel, wie viel Wasser!“ Sie lehnte am Türrahmen, zog die Stiefel aus, die triefende Jacke, legte alles zusammen auf den Boden, den Hut oben drauf, und er hielt noch immer die Tür.
„Danke, Sie haben mich vor dem Ertrinken gerettet.“ Lachend richtete sie sich auf, schaute ihn an, schaute und schaute, unverwandt, reglos, geradeso wie James, kommunizierend ohne Worte, und für einen Augenblick war ich wie vor den Kopf geschlagen; gab mir einen Ruck, die Situation war unhaltbar, stellte sie vor und er nahm ihre Hand, sagte, er freue sich. Sie schien zu erwachen, sagte, sie freue sich auch, Hoheit, fügte sie noch hinzu, und das Gesicht gerötet vom Laufen vielleicht, vielleicht auch von der kalten Luft, ging sie an uns vorbei, feucht kringelten sich die Haare um ihren Kopf, in Socken trat sie über die Schwelle, blieb stehen, als sei sie gegen eine Wand gelaufen und ich ging zu ihr, nahm ihren Arm, wollte sie eben vorstellen, als die Tür aufging und die Jungen hereinkamen. „Dad, kann Richard den Tee mit uns nehmen? Bitte! Das ist Sami, Dad, er spricht nur Deutsch und Portugiesisch und Richards Latein ist so viel besser. Das hilft nämlich, wirklich, bitte, Dad!“
Aufgeregt zog Michael Sami hinter sich her, Max hatte seine Mutter entdeckt, rannte schwatzend auf sie zu und sie hob ihn hoch, versteckte ihr Gesicht hinter seinem Köpfchen. „Sami, das ist mein Dad. Vater, verstehst du?“ „Vater“, wiederholte Sami, streckte zögernd die Hand aus und den Jungen aufmerksam musternd begrüsste ihn James, wandte sich dann missbilligend an Richard. „Du willst also den Tee im Kinderzimmer nehmen?“ Einen bangen Blick hatte der in Viktorias Richtung geworfen, stand jetzt mit gesenktem Kopf vor seinem Vater. „Ja, gerne.“
Seufzend gab James seine Einwilligung, die Jungen begrüssten die Gäste, dann blieb Richard vor Viktoria stehen, hievte sich Max auf die Schulter und ging mit einem etwas schiefen Grinsen zur Tür. Scharf zog sie die Luft ein, besänftigend trat ich zu ihr, „willst du dich etwas frisch machen, Vic? Du hast fünf Minuten“, strich ihr lächelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht, „mehr brauchst du nicht. Und zieh dir Schuhe an, ja.“
Kaum hatten sich die Türen hinter Viktoria geschlossen, ging Lucie in Stellung. „Was für reizende Kinder.“ „Schau dir die Mutter an, Liebes, Vater würde es umhauen. Stell sie ihm vor, Onkel Rob, sie sieht so unwahrscheinlich fruchtbar aus. Ich bin sicher, sie wird dir einen Erben schenken.“ Frech grinste er in die Runde und ich hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu ohrfeigen. Die Atmosphäre war geladen, und das war ihm nicht entgangen. „Ryan, kopflastig wie immer. Ich finde sie sehr sympathisch, deine neue Freundin, Rob.“ Bohrend spürte ich plötzlich James’ Augen auf mir liegen, „befreundet, Lucie, ich war Gast in ihrem Haus in Brasilien und“, zögernd und sehr zurückhaltend betrat Viktoria den Raum, Walter hatte ihr die Türen geöffnet, meldete, dass der Tee serviert war.
Sie sass neben Ryan zu meiner Rechten, Lucie sass ihr gegenüber; „nein, danke, keinen Zucker. Nein, Milch auch nicht, danke.“ Abwehrend hatte sie die Hände erhoben, und sofort nahm Lucie ein Gespräch auf. „Schmeckt Ihnen der Tee nicht zu bitter ohne Milch und Zucker? Man sagt zwar, dass Kenner ihn so trinken, aber für mich würde er seinen ganzen Geschmack verlieren; nach Milch und Zucker.“ Sie lächelte und Viktoria rutschte unbehaglich hin und her, kindlich fast in ihrer Unbeholfenheit.
„Rob hat uns von Brasilien erzählt. Sind Sie zu Besuch in Europa?“ „Nein, nicht wirklich. Ich bin Schweizerin. Mein Mann war Brasilianer.“ „Aber sie kennen Brasilien?“ „Ja, ich habe eine zeitlang dort gelebt.“ „Darum also sprechen Sie Spanisch mit Ihrem kleinen Jungen. Max, so heisst er doch?“ So lieblich, die kleine Lucie, stellte sich Viktoria zur Seite und tadelnd kam auch gleich die unterkühlte Stimme von Paul, „Portugiesisch, Lucie, das solltest du eigentlich wissen.“
Ein Langweiler, sie waren sich einig, ein Blick hatte genügt, und voll südländischer Gelassenheit hob Viktoria die Schultern, schenkte Lucie ein warmes Lächeln, das seltsam starr wurde, als eine betretene Heather auf sie zu trat. Max war hingefallen, nichts Schlimmes, aber er wollte seine Mutter; Viktoria war schon aufgesprungen, war schon fast bei der Tür, als sie abrupt stehen blieb, sich umdrehte und eine hastige Entschuldigung murmelte. „Was für ein Benehmen! Kein Wunder; und die Schweizer sind auch nicht viel besser.“ Eine Spur zu gehässig war Sandras Stimme und in diesem Ton spöttischer Herablassung, den sie sich im gegenseitigen Umgang schon seit geraumer Zeit angewöhnt hatten, erklärte James sich bereit, nach dem Tee eine Partie zu spielen. „Deine Entzugserscheinungen sind eminent, meine Liebe, und diese Brötchen schmecken herrlich, Rob, wirklich, ausgezeichnet.“
Unter quälenden Belanglosigkeiten ging der Tee zu Ende, machte sich das Quartett an sein Kartenspiel, kühl und künstlich, als hätte keine fremde Frau unser aller Blut in Wallung gebracht. Meister dieses Spiels sind wir, doch ich verspürte keine Lust es zu spielen, setzte mich zu Ryan und Lucie ans Feuer, Viktoria war nicht zurückgekehrt.
„Hast du nicht auch das Gefühl, dass sie in dich hinein sieht, wenn sie dich anschaut? Beunruhigend irgendwie, und sie hat etwas Fremdes, etwas sehr Eigenes.“ Nur Spott hatte Ryan für eigenartige Fremde mit Röntgenblick, bei all dem Fels in der Schweiz sicher ganz nützlich; „und dann gibt’s bei mir auch nichts zu sehen. Doch was es geben könnte, mein Liebchen, tief in meinem Innern, das siehst nur du allein.“ „Ja, ich sehe einen Kindskopf. Nur befreundet also, Rob? Du bist kein bisschen verliebt in Mrs. Tavares?“„Lucie, die Frage ist nicht, ob Rob in sie verliebt ist, die Frage ist, ob sie in Rob verliebt ist. Mein lieber Onkel, wenn dem so ist, bist du verloren, für immer und ewig, und mit dir dein Titel. Stell sie Vater vor, es würde ihn umbringen.“ Ryan hatte grosse Mühe mit der Tatsache, dass mein Bruder hysterisch auf sämtliche Frauen reagiert, die mir auch nur nahe kommen könnten; ich lachte und zum nachhaltigen Befremden seiner Mitspieler warf James plötzlich die Karten auf den Tisch und stand auf.
„Ich will mit Richard sprechen. Begleitest du mich, Rob?“ Suchen gehen wollte er sie, wusste genau, wo er sie finden würde und unwillig, neugierig zugleich, folgte ich ihm. Ich hatte keinerlei Ansprüche, war nur befreundet, wie schon gesagt. Wir kamen die Treppen hoch, hörten Stimmen und Lachen aus ihrem Zimmer, ich stiess die Tür noch etwas auf und wir schauten hinein. Sie hockten auf dem Boden vor dem Kamin und spielten ein Spiel. Max, eine deutlich sichtbare Beule auf der Stirn, stapelte farbige Klötzchen zu bizarren Figuren, unterbrach sich immer wieder, um sich fest an seine Mutter zu drücken. Wärme schien sie alle einzuhüllen, ausgehend von dem Feuer vielleicht, vielleicht auch von der Frau, die mit dem Rücken zu uns im Schneidersitz am Boden sass, und nur zu gern wäre ich eingetreten in diesen Dunstkreis kindlichen Vergessens der Welt über einem Spiel; aber James rührte sich nicht von der Stelle und so blieb ich draussen. Viktoria zog eine Karte.
„Mist!“ „Das schaffst du nie, Vicky“, Michael krähte, „niemals! Der ist auf der anderen Seite.“ Sie schob Max etwas von sich, setzte sich aufrecht, „ich versuch’s.“ „Du verlierst! Darauf wette ich. Richard?“ „Ich auch.“ Sami rutschte etwas näher, sie übersetzte und ihren Protesten zum Trotz schloss er sich den Jungen an. „Ihr wollt mich also verlieren sehen. Kein Problem“, und James trat ein in den Kreis, der zerstob und zerfiel, ungerührt über die Unruhe, die er verbreitete, zog er sich einen Stuhl heran, bat Michael ihm die Regeln des Spiels zu erklären.
„Sie haben die Wette angenommen, Mrs. Tavares?“ Ich hatte gesehen, wie ihr Nacken steif, ihre Schultern starr geworden waren bei seinem plötzlichen Erscheinen, ganz offensichtlich mochte sie nicht, dass er sie ansprach, rutschte nervös hin und her, die Augen stur auf das Spielbrett gerichtet. „Ich wette nur, wenn ich sicher bin, dass ich gewinne. Hoheit.“ „Und das ist hier nicht der Fall?“ „Nein.“ „Sie könnten sich irren, Mrs. Tavares.“ Ruhig auf einmal legte sie die Hände in den Schoss, hob den Blick. „Ja“, sagte sie und mit einem plötzlichen Schmerzensschrei stiess sie Max von sich, rieb sich aufgebracht den Arm; erneut nahm er Anlauf, wie Klammern legte sie die Arme um ihn, stand auf und wutentbrannt brüllte er los. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“ Mit dem schreienden Kind unter dem Arm ging sie in Richtung Schlafzimmer, sprach leise auf ihn ein, „schrei du nur, capeta, das ist mir ganz egal, schrei du nur“, und verschwand im Zimmer.
Über alle Massen erstaunt starrte James auf die geschlossene Tür, richtete dann eine steinerne Miene auf seine Söhne. „Wie alt ist das Kind?“ „Max ist drei, und das war ein Biss aus Liebe.“ „Was war das?“ „Es heisst, ich habe dich zum Fressen gern.“ „Ist das so?“ Um Fassung bemüht, nicht genau wissend, wie er reagieren sollte, sass James da und die Spannung, die sich in Viktorias Schrei entladen hatte, baute sich erneut auf; unsicher standen die beiden Jungen vor ihrem Vater und ich empfing stumme Hilferufe.
„Sami? Was heisst Capeta?“ Er kam zu mir, zögernd und auf Umwegen, wie es seine Art war, aber er kam, mochte mich, auch wenn ich sein Body-Board kaputt gemacht hatte in Brasilien. Ich war auf den Strand aufgelaufen, war wohl zu schwer gewesen und es hatte einen Riss bekommen. „Capeta heisst kleiner Teufel.“ „Was ist los? Was sagt ihr?“ „Ich wollte wissen, was Viktoria zu Max gesagt hat. Ich hatte ein Wort nicht verstanden.“ „Welches Wort?“ „Capeta.“ „Und was heisst das?“ „Kleiner Teufel.“ Die Worte vor sich hin murmelnd wurde Sami hastig von Michael fortgezogen vor der drohenden Zurechtweisung über diesen unbekümmerten Umgang mit Fremden, und mit einem leisen Seufzer wandte sich James an seinen Ältesten.
„Ich reite morgen aus, Richard, und ich möchte, dass du mich begleitest.“ „Muss ich denn mitkommen, Dad? Wir wollten eigentlich zu den Steinen.“ „Wer ist wir?“ Ganz sein altes, kühles Selbst musterte er seinen Sohn; „wir haben einiges zu besprechen, Richard, und ich möchte, dass du mich begleitest. Ich habe dir schon erlaubt, vom Tee fernzubleiben.“ „Vom Dinner auch, Dad. Bitte!“ „Sami“, die Schlafzimmertür war aufgegangen, mit einer Hand konnte sie Max gerade noch festhalten, „du bleibst hier. Sami!“ Er fing an zu jammern, erhielt augenblicklich Unterstützung von Michael und sich gegenseitig in der fremden Sprache nachahmend, bettelten sie um fünf Minuten. Ergeben hob Viktoria die Hände, prompt wollte Max sich aus dem Staub machen und sie erwischte ihn an seinem Pyjama, „du bleibst hier. Fünf Minuten.“
Nicht aus den Augen hatte James sie gelassen. Bis die Tür sich wieder schloss, hatte er unbeweglich dagesessen, sie beobachtet, während Richard sämtliche Sensoren ausfuhr. „Viktoria kann nicht reiten, Dad. Ich habe ihr von den Steinen erzählt, aber heute war keine Zeit mehr, um hinzugehen.“ „Du hast Mrs. Tavares versprochen, sie zum Steinkreis zu begleiten?“ „Ja, eigentlich schon. Wir wussten ja nicht, dass du kommst.“ „Und das Versprechen, das du einer Dame gibst, gilt natürlich mehr als der Wunsch deines Vaters.“ Richard hob den Kopf, „kommst du mit, Dad?“ „Ich werde es mir überlegen. Michael, ich glaube, die fünf Minuten sind um.“ Nach einem Blick auf seinen Vater unterbrach Michael widerspruchslos sein Spiel und wünschte Sami gute Nacht. Ich ging zur Schlafzimmertür, klopfte, Viktoria öffnete, blieb unter der Türe stehen, auch als Max zwischen ihren Beinen hindurch entwischte, sich auf Richard stürzte, der ihn hoch hob, Schreihals nannte; „ich erwarte dich um halb zehn, Vic.“ Sie nickte, lächelte zerstreut, wiederholte, als sei sie die Zeitansage, nahm Max aus Richards Armen und schob sich Stück für Stück zurück in ihr Schlafzimmer.
„Onkel Rob? Heiratest du Viktoria? Weil, wir könnten sie dann öfters sehen. Sie ist eine nette Mutter, und sie hat keinen Mann mehr. Hast du das gewusst?“ „Ja, das habe ich gewusst. Ich glaube aber nicht, dass ich sie heiraten werde. Hat sie dir erzählt, dass sie keinen Mann mehr hat?“ „Nein, das war Sami. Warum heiratest du sie nicht?“ Ohne das leiseste Interesse an einer Antwort liess er meinen Arm los, hängte sich an James, „aber dann kannst du sie ja heiraten, Dad“, und aufseufzend, als lägen grosse Lasten auf seinen kleinen Schultern, liess er los, trottete mit hängendem Kopf neben uns her; „aber das geht ja wohl nicht.“Das ging nicht, nein, war ausgeschlossen, völlig undenkbar. Ich warf einen Blick zu James, ungerührt wurde er erwidert; und ich überliess ihn seinen Söhnen, zog mich zurück, wollte Ruhe, um Ordnung in meine Gedanken über den unerwünschten Verlauf dieses Wochenendes zu bringen. Viktoria würde Beistand nötig haben, wenn sie alle, mit James vorneweg, zur Jagd auf sie bliesen, so viel war sicher; ich hatte sie zu schützen, sie war mein Gast und wir nur befreundet, wie ich gesagt hatte.
Als es dann an der Zeit war, machte ich mich bereit, ging hinunter, gelassen wieder, richtete mein Augenmerk auf Sandra. Schlecht hatte sie ausgesehen bei ihrer Ankunft, beide hatten sie schlecht ausgesehen, gereizt und gelangweilt. Seit Längerem hatten sie sich nichts mehr zu sagen, blieben zusammen, weil es erträglicher schien, verbitterten an der vermeintlichen Ausweglosigkeit ihrer Lage, die jetzt so jählings in Bewegung geraten war; und sie gelang ihr nicht ganz, die Rolle der kühlen Gelassenen. Ich sah sie beben vor unterdrückter Erregung, bereit für die Jagd, dann bemerkte ich, dass Viktoria fehlte. Als ich in die Halle trat, sie eben rufen lassen wollte, kam sie, behutsam auf die Stufen achtend, über die Treppe und in diesem Augenblick meines Lebens bedauerte ich zutiefst, kein Mann der überschwänglichen Gefühle zu sein und schmerzhaft wurde mir bewusst, dass ich es nicht werden konnte, auch wenn ich es noch so wollte. Ich hätte mich wohl für immer lächerlich gemacht.
Sie sah atemberaubend aus, trug ein Kleid aus einem schwarzen, fliessenden, glänzenden Stoff, der sie umfloss, verhüllte, bei jeder Bewegung zeigte, wie sie gebaut war. Ich hätte ihr sagen wollen, wie schön sie war, wie sehr ich sie mochte, hätte sie bitten wollen, mit mir zu schlafen, meine Frau zu werden; doch die Erkenntnis, dass das Leuchten auf ihrem Gesicht nicht mir galt, war wie ein Messer ins Gekröse.
„Du siehst gut aus, Vic.“ „Danke, du auch.“ Ich nahm ihren Arm, führte sie über die letzten Stufen, sah oben auf der Galerie James erscheinen; „ich hasse hochhackige Schuhe, Rob, mir tun jetzt schon die Füsse weh. Man muss auch anders gehen, weisst du, man muss sich etwas nach hinten lehnen, um nicht zu stolpern. Aber dann geht man so wiegend.“ Aufrecht schritt sie an meinem Arm, warf einen schnellen Blick durch die offenen Flügeltüren, kurz nur blieb er an Sandra hängen und leicht, als habe sie Durst, fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich habe eine Frage an dich, Robert. Soll ich wiegen oder soll ich stolpern?“
„Hast du geraucht?“ „Natürlich nicht. Wenn, dann hätte ich jetzt schreckliche Kopfschmerzen und würde ganz tief schlafen. Ja.“ Fast unmerklich nickte sie, warf einen weiteren raschen Blick in die Runde, wieder blieb er kurz auf Sandra liegen, dann schaute sie zu mir. „Ich hätte es tun sollen und ich habe noch andere Fragen an dich, für später“, und sie entschloss sich zu wiegen. Leicht, als ginge sie barfuss durch den Sand, schob sie die Hüften vor, zielstrebig war James die Treppe herunter gekommen, nahm ihren anderen Arm, leicht, für einen Schritt nur; „was für ein schönes Kleid, Mrs. Tavares.“
Erneut sass sie zu meiner Rechten, still, als wolle sie sich unsichtbar machen, nippte nur manchmal am Wein und Ryan begann sie mit Fragen zu bombardieren. „Sie haben in Südamerika gelebt?“ „Ja.“ „In Brasilien, nicht wahr?“ „Ja.“ „Wo in Brasilien?“ „In São Paulo.“ „Mir ist unerklärlich, wie man an einem solchen Ort leben kann.“ Es hatte begonnen, Rebecca blies zum Angriff, und ungerührt, als habe sie als einzige nicht verstanden, galt Viktorias Interesse ausschliesslich dem Dinner, obwohl sie bisher kaum etwas angerührt hatte.
„Nun, Mrs. Tavares, wollen Sie uns nicht sagen, wie man an einem solchen Ort leben kann?“ Ruhig lag James‘ Blick auf ihr, er wartete, bis sie den ihren heben würde, doch sie liess ihn liegen. „Man kann fast überall leben. Hoheit.“ „Sie sind aber trotzdem zurück an den Busen von Mutter Helvetia.“ Ryan grinste, und erleichtert widmete sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. „Ich sage ja, leben kann man überall.“
„Man darf doch aber sicher davon ausgehen, dass das Leben in der Schweiz dem in einer dreckigen Hütte in Südamerika vorzuziehen ist, trotz der skandalösen Tatsachen, die über Ihr Land ans Licht gekommen sind. Beschämend das Verhalten der Schweiz im Krieg, finden Sie nicht auch, Mrs. Tavares?“ Sandras Stimme klirrte vor eisiger Geringschätzung, ebenso wie Rebeccas Lacher, der in indignierte Ausführungen über eine Fernsehdokumentation zum Thema überging, in Empörung über ein Sendeverbot in der Schweiz, und verwundert begann Viktoria sich zu bewegen. Sie konnte nicht widerstehen, es war ihr nicht gegeben. „Verboten?“ „Das habe ich gelesen. Der Film ist in der Schweiz nicht gezeigt worden.“ „Ist er doch, Diskussionsrunde inklusive. Wir sind einmal verhaftet worden, in Paraguay, und der Offizier auf dem Posten hatte in der Zeitung gelesen, dass die Schweizer Armee kein Geld mehr habe, um den Soldaten Schuhe zu kaufen. Man kann nicht immer alles glauben, was man liest.“
Rasch legte Lucie die Hand über den Mund, verbarg ihr Lachen, denn Rebecca sah aus, als hätte sie tatsächlich eine Kröte verschluckt. Zwei Finger an der Kehle rang sie nach Luft, Viktoria übersah, überhörte verärgert, sie hatte sich hinreissen lassen, und geradezu bebend vor Schadenfreude lehnte Ryan sich zu Rebecca, öffnete sein Maul, aber dann war es die kühle Stimme von James, die sprach. „Sie wurden verhaftet, Mrs. Tavares? In Paraguay? Das müssen Sie uns erzählen.“ Er sass mir gegenüber, und ich konnte ihn beobachten. Hören wollte er, sehen, wie sie sprach; er gab ihr Raum und ich fragte mich, wann sie vergessen würde, dass er nicht nur ein Mann war, der sie in Bewegung brachte, fühlte heisse Eifersucht in mir hochsteigen.
„Es ist keine interessante Geschichte, Hoheit.“ Nervös spielte sie mit dem Verschluss ihrer Uhr und verstohlen, wie ein kleines Mädchen, das verzweifelt hofft, nicht zu einer lächerlichen Darbietung genötigt zu werden, äugte sie zu mir. „Erzähl schon, Viktoria, was hast du aufgefressen in Paraguay?“ Aufmunternd grinste ich ihr zu, „oder traust du dich nicht?“ Sie lächelte verlegen, als schäme sie sich meiner dummen Frage; „ich habe nur ein grässliches Stück Pizza gegessen in Paraguay und ich bin dort nur hin gegangen, um mein Touristenvisum zu erneuern.“ „Der Brasilianer.“ Sie rutschte etwas hin und her, lächelte zu Ryan, „genau, und darum sind wir nach Paraguay. Das ist die nächste Grenze, bei Foz d’Iguaçu.“ „Bei den Fällen?“ „Ja! Kennen Sie sie?“ Sie hatte es vergessen, ich war überrascht, wie schnell es gegangen war; strahlend fiel ihr Blick auf James und dann erinnerte sie sich. „Hoheit?“ Er nickte. „Sie sind unglaublich. Unglaublich schön. Erzählen Sie weiter, Mrs. Tavares.“
Die Welle aus kaltem Hass, die jählings durch den Raum wogte, nahm mir fast den Atem und Viktoria sprach weiter, schnell und ganz auf Lucie konzentriert; „ja, also, ich musste Brasilien für vierundzwanzig Stunden verlassen und der Ort auf der anderen Seite des Flusses war ein ziemlich mieser Ort, ein Schmugglernest, und so fuhren wir weiter bis Asuncion, Capital, und dort wurden wir verhaftet, einfach so, mitten auf der Strasse.“ „Einfach so?“ „Ja. Wir wurden aufgehalten von einem“, sie hielt inne, sah mich fragend an, „Esquadrão?“ „Schwadron, Viktoria.“ „Ah ja, die Römer, blöd, also, von einem Schwadron Soldaten wurden wir aufgehalten und ich verstand kein Wort, von dem, was sie sprachen. Aber der Anführer war sehr böse auf Henrique und befahl einen Soldaten mit Maschinenpistole auf den Rücksitz unseres Autos.“ „Das ist nicht wahr?!“ „Doch.“ „Wie alt waren Sie damals?“ „Zwanzig, der Junge war höchstens achtzehn.“ „Und dann?“
„Ach, ich war sicher, er würde uns erschiessen. Er sagte Henrique, wie er fahren musste und wir kamen in eine sehr arme Gegend. Der Asphalt hatte aufgehört und die Strasse war voller Schlaglöcher und Wasserlachen, unglaublich heiss war es gewesen und feucht und alles, was ich je über südamerikanische Bananenrepubliken gehört hatte, lief Amok in meinem Kopf. Ja, ich habe wirklich Angst gehabt. Dann hielten wir vor einem Polizeiposten und Henrique sagte, ich solle im Auto bleiben, aber als der Junge bemerkte, dass ich nicht ausgestiegen war, kam er zurück, mit seinem Gewehr im Anschlag.“ „Was war es jetzt, Mrs. Tavares, ein Gewehr oder eine Maschinenpistole?“ Wie es ihm Spass gemacht hatte, sie in Bewegung zu halten; James versuchte gar nicht erst sein Interesse an ihr zu verbergen, warum hätte sich da mein Neffe Ryan zurückhalten sollen? Spöttisch schaute sie ihn an. „Etwas, das schiesst, eine Maschinenpistole, egal, ich bin ganz schnell ausgestiegen und er führte mich in das Haus, einen hohen Raum, schön kühl, achteckig, blau und grau getüncht, und an den Wänden standen lange Bänke. Sie waren voller Leute, die da einfach sassen und schwatzten.“
Selbstvergessen lächelte sie plötzlich, schüttelte leicht den Kopf, als könne sie noch immer nicht begreifen, wie man sich für ein Schwätzchen in einem Polizeiposten niederlassen kann; „und dann?“ „Da war ein Mann in Uniform, er sass mitten in dem Raum an einem Holztisch, versuchte zu telefonieren, hieb auf die Gabel. Er war sehr zornig. Der Tisch war ganz wackelig und das Telefon funktionierte nicht. Dann sah er mich.“ „Ich hätte sie gerne gekannt, als sie zwanzig waren, Mrs. Tavares.“ „Waren Sie da schon geboren? Wohl kaum, oder?“ Lucie lachte laut und fröhlich, und Ryan sah auf einmal sehr jung aus. „Die gerechte Strafe für diese unverschämte Unterbrechung, erzähl weiter, Viktoria“, und sie wurde lebhaft.
„So nett war er plötzlich, weisst du, furchtbar höflich. Er war begeistert. Eine Schweizerin in seinem Revier! Er wusste, dass die Schweiz mehrsprachig ist und er war sehr stolz, dass sie alle neben Spanisch auch noch Guaraní sprechen, nahm meinen Pass, zeigte ihn den Leuten; er ging von Hand zu Hand, jeder einzelne musste ihn sich anschauen, dann versuchte er noch einmal zu telefonieren und dann brüllte er. Wir hätten keine Stempel im Pass, seien illegal eingereist, ein schlimmes Verbrechen! Er brüllte und ich heulte sofort los, wollte die Schweizer Botschaft anrufen, aber das ging nicht, das Telefon war doch kaputt; es war ihm sehr peinlich und er wurde wieder freundlich. Aber ich habe nicht mehr vergessen, wo ich war und was er war.“ Ihr Blick ging ins Leere und sie schwieg.
„Was war er, Mrs. Tavares?“ Langsam wandte sie den Kopf, liess ihre Augen James‘ Gesicht streifen. „Er war bewaffnet, Hoheit. Ja, und dann warteten wir, stundenlang, und er erzählte uns von den unhaltbaren Zuständen in der Schweizer Armee.“ „Womit bewiesen wäre, dass man nicht alles glauben kann, was man liest, weder über noch in südamerikanischen Bananenrepubliken.“ Das Thema war erledigt, entschlossen verwickelte mich Paul in ein hochinteressantes Gespräch über eine weitere Poloniederlage, Lucie besprach mit Ryan die Pläne von morgen, selbst James zeigte sich kooperativ, antwortete gedehnt auf Rebeccas Fragen nach der letzten Filmpremiere, und dann durchschnitt Sandras scharfe Stimme die allgemeine Unterhaltung.
Ich habe sie nie für eine dumme Frau gehalten, kann bis heute nicht verstehen, warum sie sich nicht zurückgehalten hat an jenem Abend, ihre Lust zu reissen nicht bezähmte, den Wunsch ihr das Fell abzuziehen, es ihm zu Füssen zu legen. Sie hätte erkennen müssen, dass Viktoria nichts zu verlieren hatte.
„Wollten Sie mit Ihrer kleinen Geschichte vom Thema ablenken, Mrs. Tavares? Sie haben uns noch immer nicht gesagt, was sie von dem Skandal um die Schweiz halten.“ Träge richtet Viktoria sich auf, widerwillig. Ein sinnloses Spiel, sie wollte es nicht spielen; mit jeder Silbe der Sprache ihres Selbst brachte sie es zum Ausdruck, so aufreizend deutlich. „Traust du dich schon wieder nicht?“ „Was?“ „Zu antworten.“ „Nein“, beschwörend sah sie mich an, „das ist es nicht, es ist“, und sie stockte, versuchte ein Lächeln, suchte zu entkommen, „es ist nur, ich bin Schweizerin; neutral, absolut neutral.“
Ich kam ihr nicht zu Hilfe, dachte nicht einmal daran; „du hast also die Dokumentation gesehen. Was hältst du davon?“, und sie wandte sich ab, liess ihre Augen liegen, irgendwo mitten auf der Tafel. „Ich fand, sie war sehr gut geschnitten.“ „Wie meinen Sie das?“ „Gut geschnitten eben, zusammengefügt, editiert.“ „Wollen Sie damit sagen, dass die Aussagen in ihrem Kontext verändert wurden?“ Als müsse sie jedes Wort, das er eben gesagt hatte einzeln übersetzen, schaute sie auf Paul, dann lächelte sie. „Ganz genau.“ „Können Sie das begründen?“ „Ryan, Lieber, es geht nicht um den Film. Ich habe Mrs. Tavares gefragt, was sie von dem Skandal um ihr Land hält.“ Viktoria lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust, schaute in ihren Schoss und schwieg.
„Wollen Sie die Frage nicht beantworten, Mrs. Tavares?“ „Eigentlich nicht. Hoheit.“ „Und wenn ich darauf bestehe?“ „Tun Sie das?“ „Allerdings.“ Leicht hob sie den Kopf und so atemlos wie alle anderen sass ich da, verfluchte mich, weil ich ihr nicht beigestanden war, verfluchte James, warum konnte er es nicht gut sein lassen? Starr blickte ich sie an, wie sie an meiner Seite sass und nachdachte. Dann schaute sie auf und mit demselben durchdringenden Blick, der dieses Unbehagen in mir hervorgerufen hatte, den Gedanken, dass er sieht, was man nicht zeigen will, schaute sie direkt in Sandras Augen, richtete ihn dann auf mich.
„Also gut. Ich bin die Schweiz und ihr seid das besetzte Europa, mit Ausnahme von England und Portugal, natürlich. Habe ich eine Chance? Eine winzigkleine Chance mit dem Leben davonzukommen, zu verhindern, dass ich überrannt und niedergemacht werde, wenn ich mich nicht arrangiere? Oder glauben Sie im Ernst, dass die Schweiz dem tausendjährigen Reich den Krieg hätte erklären sollen?“ „Wollen Sie damit sagen, dass die Schweizer Regierung recht daran getan hatte, mit den Nazis zu paktieren?“ „Ich denke, dass unsere Regierung während des Krieges genau das tat, wofür sie bezahlt wurde. Sie schützte ihr Land, und basta.“
„Und dass einige ihrer Landsleute grossen Profit aus dem Krieg zogen, während die anderen Nationen bluteten, geht für Sie demnach auch in Ordnung?“ „Es gibt immer welche, die fett werden vom Leid anderer. Immer, überall, bei jeder Gelegenheit!“ Ganz stachelig war sie geworden und ich erinnerte mich nur zu gut, wie unglaublich wütend sie auf Fábio losgefahren war. Jemand würde sie zu weit treiben und ich befürchtete plötzlich, dass dieser jemand Viktoria selbst sein könnte, warf einen Blick zu James, er fing ihn auf, räusperte sich und kam zu spät.
„Merkwürdig, wie leicht Sie darüber hinwegsehen, Mrs. Tavares, auf welche Art und Weise die Schweiz ihrer moralischen Verantwortung im Krieg nachgekommen ist.“ „Moral?! Im Krieg?!“ Ich kann nicht sagen, ob sie vergessen hatte, wo sie war, mit wem sie stritt, aber sie hatte eindeutig genug; hitzig beugte sie sich vor, nahm Sandra erneut ins Visier. „Und was wäre aus der Moral geworden, wenn die Nazis die Schweiz eingenommen hätten? Moral!“ Voll böser Verachtung stiess sie das Wort hervor, ihre Hände flogen, „ich kann das alles nicht mehr hören. Wie weit wollen Sie denn zurückgehen können in der Geschichte, um Schuld einzufordern? Wie viele Jahre? Fünfzig? Fünfhundert? Tausend? Wer könnte Schuld bestimmen? Wer darüber richten? Und was dürfte es denn kosten?!“ Schnaubend fiel sie zurück in ihren Stuhl, hob die Hände, versöhnlich auf einmal, sie hatte nicht streiten wollen, lächelte und ging zu weit.
„Auch Ihrem Land könnten einmal noch offene Rechnungen präsentiert werden. Kratz an einem Albioner und du findest einen Piraten.“ Sandra triumphierte! Sie hatte es geschafft, sie gejagt, gestellt, der Todesstoss noch, dann war die Sache erledigt, und Viktoria, die vielleicht nicht sofort erfasste, was sie eben gesagt hatte, begriff doch augenblicklich, dass etwas nicht stimmte. „Was? Das ist ein altes, albionisches Sprichwort. Das habe ich in der Schule gelernt“, und das kollektive Atemholen ging unter in James’ Gelächter. Ausgelassen schüttelte er den Kopf, wischte sich die Augen; „das war eine aussergewöhnliche Äusserung, Mrs. Tavares. Von einer aussergewöhnlichen Frau allerdings, das muss ich zugeben.“ Blut schoss ihr in die Wangen, dunkelrot im Gesicht erwiderte sie seinen Blick und erneut schienen sie verbunden, schienen Gedanken auszutauschen; sie lächelte, wärmer und breiter, als ich es je gesehen hatte und ein Abglanz fiel auf jeden von uns, entfachte Leidenschaften; hässliche, gemein und niedrig in den einen. „Ich habe Sie einen Piraten genannt, Hoheit. Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.“
„Du musst sie Vater vorstellen, Onkel Rob! Werden Sie ihn heiraten, Mrs. Tavares?“ Immer noch hochrot und völlig perplex starrte sie auf Ryan. „Ihren Vater?“ Die explosive Mischung, die in der Luft gelegen hatte, verflüchtigte sich etwas im Gelächter von Lucie, und Ryan legte leicht und fast vorsichtig seine Hand auf Viktorias Arm. „Viktoria, ich darf sie doch Viktoria nennen, Sie schimpfen uns zwar alle Piraten, ich halte Sie trotzdem nicht für eine Frau, die einen Mann heiratet, den sie noch nie gesehen hat. Also, werden Sie ihn heiraten? Es würde ihn umbringen.“ „Wen?“ „Meinen Vater.“ „Ihren Vater? Haben Sie nicht eben gesagt, dass Sie mich für eine Frau halten, die einen Mann heiratet, den sie noch nie gesehen hat? War das richtig?“
„Mehr oder weniger, Viktoria. Hast du das auch an der Schule gelernt?“ Ergeben legte sie den Kopf in die Hand und mit einer brüsken Bewegung wandte Sandra sich zu James, bat um Rückzug; ein Migräneanfall. Trocken wünschte er gute Besserung, erhob sich und noch bevor sie den Saal verlassen hatte, ging er auf Viktoria zu und ich nahm ihren Arm. „Wir waren alle sehr erstaunt, Mrs. Tavares, als Robert weder zu Weihnachten noch zu Neu Jahr nach Hause kam. Jetzt verstehe ich natürlich. Wie haben Sie sich kennen gelernt?“ Ungezwungen nahm er ihren anderen Arm und ich konnte spüren, wie sie weich wurde unter seiner Berührung.
„Bitte, Hoheit. Ich möchte nichts mehr sagen. Fragen Sie Robin.“ „Robin?!“ Er blieb stehen, zwang uns ebenfalls einzuhalten, „Robin! Was für ein hübscher Name.“ Spöttisch grinste er mich an, die anderen nahmen es dankbar auf, „Robin! Wie süss. Hört, hört“, und mit einer überaus italienischen Geste schlug sich Viktoria die Hände vors Gesicht, befreite sich mit einem Ruck von ihm und von mir. „Ah nein, das auch noch! Ich muss mich aufhängen.“ „Tu das, Vic, aber nicht hier, ich flehe dich an.“ Lachend trat sie weg von ihm, hakte sich bei mir unter, wir gingen in den Salon und Walter servierte den Kaffee; „also, Robin, erzähl.“
Motta hatte ihr Geld angeboten und mir wurde plötzlich bewusst, dass sie mir nie gesagt hatte, woher sie ihn kannte. Ich hatte keine Antwort erhalten auf meine Frage damals. Gedankenvoll schaute ich sie an, sie schien zu wissen, an was ich dachte, lächelte, und ich erzählte die Geschichte so, wie sie sich zugetragen hatte.
„Er hat Ihnen Geld angeboten? Damit Sie an seinem Lunch teilnehmen? Das ist ja ungeheuerlich.“ Nichts konnte Lucies einmal festgelegte Position erschüttern, Empörung klang aus ihrer Stimme und Viktoria zuckte ungerührt die Achseln. „Ja. Zweitausend.“ „Zweitausend was?“ „Das habe ich ihn auch gefragt.“ Erneut dieses Schulterzucken; vollkommen gleichgültig war die Frage nach wie viel von was, es wäre ohnehin zu wenig gewesen, und ich bemerkte, wie Rebecca ihr boshaftestes Lächeln aufsetzte; „woher kennst du Motta eigentlich?“ „Henrique hat ein paar Jahre für ihn gearbeitet und einmal, wir lebten wieder in der Schweiz, hat er uns nach St. Moritz eingeladen. Rô war auch da gewesen. Er ist ein netter Junge.“ „Den Vater mögen Sie wohl nicht sonderlich?“ „Hätte ich ein Messer dabei gehabt, ich hätte ihm die Kehle durchgeschnitten.“ Nachdrücklich fuhr sie sich mit dem Finger über den Hals, etwas Wildes lag in ihrer Bewegung, es wäre ein schneller, sauberer Schnitt geworden; unbeeindruckt nahm Rebecca erneut Anlauf., wieder kam ich ihr zuvor.
„Vic, das wollte ich dich schon lange fragen: damals am Strand, als ich ankam, spielte jemand Für Elisa, ein paar Takte nur, dann brach es ab. Ich hörte es auch später wieder, aber immer nur die ersten paar Takte.“ „Für Elisa?“ Leise summte sie vor sich hin; „das war der Gasmann, dann wissen alle, dass er da ist. Wie der Gemüsemann, weisst du noch?“, und wir lachten in Erinnerung an die Sprüche, mit denen der Mann die Neuigkeiten des Tages über Lautsprecher kommentiert, zwischendurch sein Obst und Gemüse angepriesen hatte, waren vertraut, und für einen Augenblick gehörte sie nur mir. „Gehört es zu Ihren Gewohnheiten fremde Männer in Ihr Haus einzuladen, Mrs. Tavares?“ Behutsam stellte Viktoria ihre Tasse hin und hob stolz den Kopf. Sie war eine freie Frau und als ich auf das verbissene, angemalte Gesicht von Rebecca schaute, wurde mir klar, wie frei sie effektiv war; „wenn sie mir gefallen.“ „Und wenn Sie ein Messer bei sich haben, schneiden Sie demjenigen, der Sie beleidigt die Kehle durch?“
James erhielt keine Antwort mehr auf seine Frage, die Türen gingen auf, Walter trat ein, einen verschlafenen, den Tränen nahen Sami an der Hand, der ein ziemlich fleckig aussehendes Kissen an sein Gesicht drückte, mit einem erleichterten Schluchzer in die Arme seiner Mutter rannte, den Kopf an ihrer Brust vergrub, und beruhigende Worte murmelnd strich sie mit der Wange über sein Haar. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Mrs. Tavares.“ Verwundert hob sie den Kopf, erstaunt wohl über die Schnelligkeit, mit der James gelernt hatte sie zu verstehen, konnte ihn dennoch nicht ansehen, war beschäftigt, löste sich sanft aus den Arme des Jungen, der scheu und verwirrt hinter seinem unansehnlichen Kissen hervorschaute, und ich stand auf.
„Ich bringe dich hinauf.“ „Nein, bitte nicht. Gute Nacht.“ Abwehrend hatte sie die Hände erhoben, lächelte entschuldigend, Sami hielt sie erneut umklammert und sie tat ein paar schwankende Schritte, blieb stehen und zog die Schuhe aus. In der einen Hand die Schuhe, die andere fest um die Schultern des Jungen gelegt, ging sie zur Tür. „Das ist nun wirklich“, „Piraten! Freibeuter! Alle zusammen! Wie fies, von dir auch Rob, richtig fies, wie ihr diese reizende Frau gejagt habt!“
Aufgebracht war sie Rebecca über den Mund gefahren, wurde ausgesprochen frostig von Paul zurechtgewiesen. „Lucie, Gutes, ich glaube nicht, dass Mrs. Tavares deine Unterstützung benötigt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich gut genug zu verteidigen weiss; und ich bin ganz einer Meinung mit Ryan, Rob. Dein Bruder würde eine Begegnung mit ihr nicht überstehen.“ Verärgert schaute er mich an und mit einem entwaffnenden Lächeln wandte James sich an Rebecca, bat sie nach Sandra zu sehen. Sofort stand sie auf, drückte kurz die Hand auf Pauls Schulter, ging ab und mir zumindest wurde entschieden leichter.
„Sie wollte zuerst nicht kommen. Ich musste ihr zuerst versprechen, alle Fettnäpfchen aus dem Weg zu räumen.“ „Aus dem Weg räumen? Du hast sie eingemauert mit Fettnäpfchen. Robin!“ Sie lachten mich aus, spotteten über meinen neuen Namen und Ryan stand auf, nahm Lucies Hand, „komm, Liebes, gehen wir üben.“ Sie liessen uns zurück und ich bedauerte, auch heute ohne die Wärme einer Frau einschlafen zu müssen, bekam umgehend Pauls Unwille zu spüren.
„Unglaublich, Rob, dass du dich noch immer mit Frauen einlässt, die so gar nichts zu verlieren haben.“ Hitzig auf ein Mal wollte ich ihm antworten, als James aufstand und mir ins Wort fiel. „Ich denke, du dich irrst dich, Paul, ich denke, Viktoria hat etwas zu verlieren, das wir alle nicht besitzen. Ach, das hätte ich fast vergessen; Richard hat mich gebeten, ihn zu begleiten morgen. Ich werde nicht ausreiten. Gute Nacht.“
„Du musst dafür sorgen, dass er sie nicht mehr zu Gesicht bekommt!“ Gereizt schenkte sich Paul einen Cognac ein und ich weidete mich an den hofpolitischen Sorgen, die so plötzlich über ihn hereingebrochen waren; „hast du gesehen, wie er sie anschaut? Und er wird nicht ausreiten morgen! Gut gemacht! Wirklich, Robert, das war sehr unvorsichtig von dir, mein Lieber.“ Ich hatte es gesehen, ja, und Wut kroch in mir hoch, nur mit Mühe konnte ich mich beherrschen; „er hatte abgesagt. Er sagt immer ab, wenn die Jungen hier sind. Bis morgen.“
Wie konnte er es wagen?! Sie war keine Spielerin! Sonst hätte sie mit mir geschlafen. Gestern; vor dem Feuer waren wir noch gesessen, nur sie und ich. ‚Wie lange warst du verheiratet, Robin?’ ‚Sechs Jahre.’ ,Sechs Jahre? Dann warst du aber nicht sehr glücklich’, und ich hatte mich gezwungen gesehen, an meine verflossene Ehe zu denken. ,Nein, nicht sehr.’ Sie hatte etwas sagen wollen, hatte es sich anders überlegt, sich umgeschaut; ‚musst du eigentlich arbeiten?’ ‚Nicht unbedingt’, und sie hatte das toll gefunden, wissen wollen, warum ich es dann tue.
‚Ich glaube, es wäre mir schlicht zu langweilig und Politik mag ich nicht.’ ‚Langweilig?‘ Wieso langweilig?’ ,Was würdest du tun, wenn du nicht arbeiten müsstest, um zu leben, Viktoria?’ Auf dem Boden war sie gesessen, angelehnt an einen Sessel, hatte die Beine angezogen, nachgedacht. ,Ich denke, dass ich ein paar Jahre aufwenden würde, um meine Kinder grosszuziehen.’ ,Tust du das nicht bereits?’ ,Eben‘, und sie hatte gelacht. ‚Deine Kinder wären an einer Schule, Vic.‘ ,Internat, meinst du? Nein, das würde ich nicht wollen. So viel bräuchte es gar nicht zu sein. Und ich habe dich gefragt, warum du arbeitest, obwohl du nicht musst, nicht umgekehrt. Darf ich einen Apfel nehmen?‘ ‚Ja, aber sicher’; und fasziniert hatte ich zugeschaut, wie auch das letzte Stück des Kerngehäuses in ihrem Mund verschwunden war. ‚Du hast den ganzen Apfel gegessen!’ ‚Ich mag Äpfel, also, bekomme ich jetzt eine Antwort?’
Ich hatte ihr sagen wollen, dass ich einer Beschäftigung nachgehe in der Hoffnung, dass sie mich eines Tages in ein fernes Land führen, ich dort die Frau finden würde, die hier vor mir auf dem Boden sass, soeben einen Apfel mit Stumpf und Stiel gegessen hatte. ‚Ich arbeite, weil ich gern die Welten wechsle, Viktoria, weil es mich offen hält für das Leben, in seinen unterschiedlichsten Erscheinungen.’ Mit dem kleinen Finger nur hätte sie mich anzustossen brauchen, hatte es nicht getan und ich, ich hatte Geduld, viel Geduld. James! Ausgerechnet James! Ruhelos wälzte ich mich hin und her, sah sie vor mir, versunken im Anblick des anderen, sah keine Hoffnung auf Schlaf, warf mir einen Morgenmantel über, und als ich durch die Halle ging, hörte ich Stimmen, erkannte, dass James und Sandra in der Bibliothek waren und sich stritten.
„Spass nennst du das? Du schaust sie an, als wolltest du sie anfallen, lässt zu, dass sie dich beleidigt und lachst auch noch darüber! Es ist unerträglich!“ Sie begann zu weinen und für einen Moment tat sie mir aufrichtig leid, fühlte ich mit ihr, teilte ihren Schmerz. Er war dem meinen so ähnlich. „Spass!! Wie ein Lakai hältst du dieser Göre die Tür, dieser hergelaufenen Zigeunerin! Und du gehst spazieren! Zu den Steinen! Weil Richard dich darum gebeten hat! Wie rührend! Scharf bist du auf dieses Luder! Aber ihr könnt sie euch ja teilen, du und dein Busenfreund. Ich bin sicher, sie wird nicht abgeneigt sein!!“ „Reise ab!“ So eisig war seine Stimme, so plötzlich hörte sie auf zu schimpfen und zu schluchzen, dass in mir das Bild eines gefrorenen Wasserfalls aufstieg. „James?!“ „Tu was du willst, nur lass mich zufrieden. Ich will nichts mehr hören!“ Für einen Moment herrschte Schweigen, ich ging weiter, als sei ich eben erst herunter gekommen, und aufgelöst stolperte sie durch die Tür.
„Sandra? Alles in Ordnung? Soll ich Mrs. Blaire rufen?“ Mit einem Blick schüttete sie ihn aus, ihren jahrelang gehegten Hass, und ich trat zur Seite, liess sie hoch stürmen in ihre Zimmer, trat in die Bibliothek, fand James mit einem Buch am Feuer sitzen. „Was liest du da?“ „Sonette. Bist du verliebt, Rob?“ „Ich denke, dass die Frage so nicht richtig gestellt ist.“ Er klappte es zu, forsch sah er mich an, dann grinste er und stand auf. „Ich seh dich morgen.“ Das Buch nahm er mit, und am nächsten Morgen war er kühl und abweisend.
Von Walter hatte ich schon erfahren, dass Sandra abgereist war, Paul mit Viktoria und den Kindern gefrühstückt hatte und jetzt Seiner Hoheit Gesellschaft leistete. „Ryan und Lucie?“ Die schliefen noch, was für eine Frage.
„Wir fahren auch gleich, Robert, Rebecca macht sich bereit.“ Pauls Leichenbittermiene liess mich fast aus der Haut fahren. Ich hatte eine schlaflose Nacht hinter mir, war eben erst aufgestanden an diesem Sonntagmorgen, den ich mir so ganz anders vorgestellt hatte, wollte meinen Kaffee, aber da war eine verschreckte Heather, die von James nach seinen Söhnen befragt wurde. Sie waren bei den Ställen, mit Mrs. Tavares, und kalt wandte er sich ab. „Ich bin mir nicht bewusst, ein neues Kindermädchen eingestellt zu haben, Miss. Sorgen Sie dafür, dass meine Söhne sich von Lord Roberts Gästen verabschieden.“ Eingeschüchtert knickste sie, floh, und sein kalter Blick fiel auf mich.
„Ich gehe davon aus, dass du sie hast abklären lassen.“ „Nein, das habe ich nicht.“ „Du lässt meine Söhne mit einer Frau umherziehen, von der niemand weiss, wer sie ist? Sie duzen sich. Wie kommt es, dass sie meine Söhne duzt?“ Ich verstand es nicht, das Theater, das er aufführte, sie hatten sich gestern schon geduzt, in seiner Anwesenheit, dann fiel mein Blick auf Paul. James, Paul und ich, und irgendwann sind wir zu Konkurrenten geworden. Ja, man könnte dem auch so sagen. Theater? Wäre es möglich? „James, die Jungen wollten einmal einen Menschen kennen lernen, der vielleicht nicht sofort weiss, wer sie sind und haben Onkel Rob gebeten, sie nicht als Prinzen vorzustellen; und ich weiss, wer sie ist, ich war zehn Tage…“, „du brauchst dich nicht zu wiederholen, und du bist nicht mein verdammter Bruder.“ „Nein, aber ich bin dein verdammter Freund. Was ist? Magst du ihnen das bisschen Wärme nicht gönnen?“
Mit seinem Haben-Wir-das-richtig-verstanden-Gesicht sah er mich an, Lucie und Ryan traten ein, jung und frisch und sehr verliebt. „Dicke Luft, was?“ Ungnädig drehte James den Kopf, Ryan entschuldigte sich augenblicklich und ich seufzte. „Es wird nicht wieder vorkommen, James.“ Mit einem missbilligenden Schnaufer erklärte er die Angelegenheit für erledigt, trank seinen Tee, dann unterbrach Walter das unbehagliche Schweigen mit der Meldung, dass Rebecca bereit, der Wagen vorgefahren war. James stand auf und als wir hinter ihm in die Halle traten, kamen uns Viktoria und die Kinder auf Socken entgegen geschlittert; kreischend rutschten sie heran und ich bemerkte plötzlich, dass Viktoria nicht würde bremsen können, trat vor, fing sie auf, hielt ihren pulsierenden Körper an mich gepresst und hätte am liebsten um mich geschlagen.
„Wie alt bist du eigentlich, Viktoria?“ „Gerade eben?“ Verlegen lächelnd machte sie sich steif in meinen Armen, ich hörte wie James von Michael bestürmt wurde, uns zu den Steinen zu begleiten, hörte sein knappes Ja; er verabschiedete Paul und Rebecca, ging nach oben, langsam wand sich Viktoria aus meiner Umarmung und mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken ging das Paar an uns vorbei. Sie bemerkte es nicht, starrte erschrocken auf Lucie, die sich auch gleich verabschieden wollte, ihr lächelnd die Hand entgegen streckte, nahm sie, hielt sie fest, als hinge ihr Leben davon ab. Michael und Sami waren bereits hinaus gerannt, nur Richard stand noch da, nahm still und aufmerksam alles in sich auf.
„Sie kommen nicht mit uns?“ Lucie bedauerte aufrichtig, sie wurden in der Stadt erwartet, gab Viktoria ihre Karte, „meine sind oben. Ich hol schnell eine“, und von der Tür kamen fordernde Rufe von Max. „Macht, dass ihr wegkommt, Vic. Wenn Lucie dich kontaktieren will, gebe ich ihr deine Nummer. Wartet am Teich auf uns“, schob sie energisch Richtung Tür, wollte sie draussen haben, alle zusammen, wollte meinen Kaffee, und böse schüttelte sie meinen Arm ab, wich zurück wie eine Schwanz peitschende Katze. „Hey?! Lass mich. Ist der immer so?“ Ryan bestätigte ernsthaft und dann erschien auch noch Walter, überreichte ihr förmlich den kleinen Rucksack. „Tee und Verpflegung für alle, Mrs. Tavares, und eine Windel für Max.“
Es war zu viel für sie. Als habe er ihr eben mitgeteilt, er sei die Dame vom See, starrte sie ihn an, Richard nahm den Rucksack aus ihrer leblosen Hand, zog sie fort, „das ist sein Job, Vicky. Komm, gehen wir endlich“, und Max stiess einen seiner unwahrscheinlich hohen Schreie aus. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt Richard sich die Ohren zu, dann hob er ihn hoch, schwang ihn durch die Luft, setzte ihn sich auf die Schultern und lachend verschwanden sie nach draussen. „Auf der Seite wird er wohl kaum auf Widerstand stossen.“ Eigentlich hätte ich Ryan zurechtweisen müssen, es ging nicht an, dass er solche Bemerkungen fallen liess, tat es nicht, liess mich von Lucie unterhaken, zurück zu meinem Kaffee führen; schweigend kümmerten wir uns um unser leibliches Wohl, bis Ryan schliesslich nach dem Warum der überbordenden Liebenswürdigkeit Seiner Hoheit fragte.
„Er müsste doch jubilieren, jetzt, wo Sandra abgereist ist.“ „Mach dir bloss nichts vor. Auf der Seite wird er garantiert auf Widerstand stossen.“ Lucies Stimme klang besorgt, und ich liess meinem Ärger freien Lauf. „Habt ihr Wetten abgeschlossen?“ „Rob, hast du nicht gesehen, wie Viktoria ihn anschaut? Sie ist eine nette Frau, du darfst nicht zulassen, dass er sie ausnützt.“ „Liebes, es gibt tatsächlich Frauen, die alles tun und alles in Kauf nehmen, um an einen Mann wie James zu kommen, glaub mir. Warum also sollte er sie ausnützen und nicht umgekehrt? Oder hast du etwa nicht gesehen, wie er sie anschaut?“ „Sie ist nicht diese Art von Frau und er sieht schnell einmal eine so an, vor allem wenn sie so“, „schön?“ „Ist sie das? Rob?“
Trocken erklärte ich, schon vor Jahren gelernt zu haben, mich nicht nur und ausschliesslich mit der Form eines Gesichts oder eines Körpers zu begnügen und fast schuldbewusst senkte Lucie die Augen; sie hatte mich nicht an unangenehme Zeiten erinnern wollen. Ich tätschelte ihre Hand, strich ihr aus einem plötzlichen Impuls heraus über die Wange, „falls Ryan zu blöde sein sollte, um dich zu heiraten, Kindchen, werde ich es tun.“ Er lachte mich aus, spottete über die Erkenntnisse meines jahrelangen Lernens, da ich einer hässlichen Schrulle wohl kaum nachgelaufen wäre, und ich schaute ihre mitleidigen Augen, wusste, dass ich mich letztendlich doch zum Narren gemacht hatte. Nicht nur gefolgt war ich Viktoria, nein, so sehr hatte sie mir gefallen, dass ich sie hierher gebracht hatte, auf dass es alle sehen konnten.
James’ Eintreten unterbrach meine spassigen Gedanken. Wie weggeblasen war die schlechte Laune, aufgeräumt verabschiedete er sich von Ryan und Lucie und wir machten uns auf nach draussen. Der Wind hatte sich gelegt, es war wärmer als am Tag zuvor, trocken, und James sprach über die bevorstehende Auseinandersetzung mit seinem ältesten Sohn. „Überleg dir gut, was du tust, James.“ „Ich denke doch, dass die Zeiten sich geändert haben, er nicht so“, er hielt inne, blieb stehen, schien sich endlich einmal zu erinnern. „Du hast Recht. Ich werde es mir gut überlegen.“ Schweigend gingen wir weiter und als wir beim Teich anlangten, sahen wir Viktoria mit den Kindern im Wald verschwinden.
„Warum hat der Mann sie als Hure hinstellen wollen, Rob? Sie sagte, sie wüsste es nicht.“ „Sagte sie das?“ „Ja, sie war in der Bibliothek gestern Nacht, und ich denke, dass man ihr in diesem Fall nicht glauben darf. Warum bist du ihr gefolgt?“ „Nicht, weil ich vorhatte eine Million hinzulegen, und das darfst du mir ohne weiteres glauben.“ Er lachte, ich wünschte ihn ins Pfefferland, wir gingen weiter, kamen in den Wald und sahen sie plötzlich vor uns. Sie schimpfte Max aus und wutentbrannt schreiend ging er ein paar Schritte rückwärts, setzte sich auf den Boden, legte den Kopf auf seine Knie und sah unwahrscheinlich traurig aus.
Viktoria hob einen Stein auf, wog ihn in der Hand und Richard sprach eindringlich auf sie ein. Wir konnten nicht verstehen, was er sagte, aber er schien sie zu bedrängen und sie trat um ihn herum, zielte; haarscharf flog der Stein an einem Baum vorbei und mit gesenktem Kopf ging sie hierhin, dorthin, hob Steine auf, liess sie wieder fallen, schien plötzlich fündig geworden, denn sie richtete sich auf, sagte etwas, das Richard zurücktreten liess. Locker warf sie den Stein ein paar Mal in die Höhe, liess ihn dann blitzschnell von der Hand schnellen, dumpf prallte er gegen den Baum und Richards Stimme wurde plötzlich laut. „So gut könntest du gar nicht sein!“ Lachend kniete sie sich zu Max auf den Boden, der mittlerweile angefangen hatte, an ihrem Pullover zu zerren, sie offensichtlich um Verzeihung bat, und umarmte ihn. Ich schaute zu James. Bewegungslos stand er da, betrachtete sie, als sei sie eine Erscheinung, die er für immer in sich aufnehmen wolle, eine Waldfee, die zusammen mit seinem Sohn Steine an die Bäume warf.
Wie unter einem Zauber ging er auf sie zu, wie sie da am Boden kauerte, die Arme um Max gelegt, und als gelte es sie zu schützen, trat Richard vor, hob den Jungen auf seine Schultern, erklärte uns schnell den Verbleib von Michael und Sami. Mit einem Ruck kam sie hoch, vermied jeglichen Blickkontakt, ging vor, ging hart hinter Richard, drängelte sich vorbei und verschwand unten in der Mulde. „Ich möchte wissen, ob sie noch gelesen hat gestern. Ich habe ihr ein Buch gegeben.“ „Ein Buch?“ „Ja, Kurzgeschichten.“ „Wie passend.“ „Kurze Geschichten meinst du? Ich weiss nicht, Rob, ich weiss nicht.“ Als Letzte erreichten wir die Mulde, suchend liess er seine Augen schweifen, fand Viktoria neben einem der Steine stehen, jeden Abwärtstritt von Michael und Sami aufmerksam verfolgend, und ging geradewegs auf sie zu. Sie wich aus, floh hinein in den Wald, schaffte zusammen mit Sami Holz heran und die Tatsache, dass es ihr gelang ein Feuer zu entfachen, brachte ihr die grenzenlose Bewunderung von Michael ein. Sie vergass James und mich, erzählte Geschichten von Fröschen und Ringelnattern; wir hockten um das Feuer, tranken Tee, assen, was Walter uns eingepackt hatte, dann machten Michael und Sami sich davon, Richard nahm seinen Vater in Beschlag und ich setzte mich zu Viktoria in die Nähe eines der Steine. Aufgehoben sass Max zwischen ihren Beinen und spielte mit Dingen des Waldes.
„Wie klug von dir, diese Plache mitzubringen. Der Boden ist eisig.“ Flüchtig schaute sie mich an, hielt Ausschau nach den Jungen; „es ist schön hier, still, wie die Steine. Bei uns in der Nähe gibt es einen Findling. Er kommt aus den Glarner Alpen, die Gletscher haben ihn liegen lassen. Ich mag ihn nicht besonders.“ Zärtlich liebkosten ihre Hände das Köpfchen von Max, fuhren sanft über seinen Nacken, seine Schultern, ganz unbewusst schien sie das zu tun, dann verschränkte sie die Hände vor seinem Bauch, zog ihn noch etwas näher zu sich heran, schaute auf den unregelmässigen Kreis der Steine, schaute nach Michael und Sami.
„Und warum magst du ihn nicht?“ „Wen?“ „Den Findling.“ „Ich weiss nicht. Vielleicht weil das Glarnerland ein so absonderliches Tal ist, so düster. Das Licht kommt dort sehr spät. In Glarus wurde die letzte Hexe der Schweiz verbrannt.“ „Und was hat das mit dem Stein zu tun?“ „Er kommt von dort, es ist ein schwerer Stein.“ „War das eine Verwandte von dir, diese letzte Hexe?“ Als wäre meine Nase gewachsen, grün geworden vielleicht, schaute sie mich an und ihre Augen funkelten. „Ich habe immer gewusst, dass dein Charme einmal durchbrechen wird, mein Lieber, und fühle mich geehrt, an diesem Moment teilzuhaben.“ Wie gerne hätte ich sie auf die Plache geworfen, Hexe, die uns alle verzauberte, sie geschüttelt, mich an ihrem Hals fest gesogen; „Viktoria, was erwartest du von mir? Du machst Feuer mit nassem Holz, sprichst von Steinen, als seien es lebendige Wesen“, „und du? Wirst du mich gleich an Händen und Füssen gefesselt, mit einem Stein um den Hals in den Bach da werfen und dann erklären, dass ich keine Hexe war, weil ich ertrunken bin?“ Ich lachte immer noch und ungeduldig stand sie auf; „gibt es hier einen See?“
Überrascht blickte ich zu ihr hoch, leicht hatte sie den Kopf erhoben, stand reglos, als könne sie ihn riechen. „Ja, es gibt einen See. Warum fragst du?“ „Ich muss gehen, Robin, ich muss nach Hause. Kannst du Max tragen? Ich glaube nicht, dass er es den ganzen Weg schaffen wird. Bitte, können wir gehen?“ Fröstelnd begann sie das Feuer auszutreten, rief nach den Jungen, die schon angerannt kamen, packte hastig zusammen und James stand auf. Wohl hatte er seinem Sohn zugehört, ihm dann und wann eine Frage gestellt, einen Kommentar abgegeben, aber mir war nicht entgangen, dass er uns stets im Auge behalten hatte. „Sie wollen fort, Viktoria?“ „Ja, ich muss gehen. Ich muss nach Hause.“ Stur beendete sie die Packerei, ich hob Max auf meine Schultern, Richard nahm den Rucksack, Michael und Sami rannten voraus, waren schon fast ausser Sicht, als ich bemerkte, dass James und Viktoria zurückblieben, und jedes Mal, wenn ich auch nur daran dachte mein Tempo zu drosseln, ging Richard etwas schneller.
„Ich mag sie, Rob.“ „Das freut mich.“ „Sie war auch nur ein klein wenig verärgert, dass wir sie reingelegt haben. Sie wollte wissen, ob bei uns die Stelle des Hofnarren noch frei ist.“ Ich lachte, lachte aus vollem Hals, weil Viktoria und ich uns den Job eigentlich teilen könnten, lachte auch, weil ich traurig war; das war nicht mehr möglich, es war mir eben klar geworden, „und sie hat gesagt, dass ihr das Dinner ausgezeichnet geschmeckt hat. Wie war es? Warum sind sie alle abgereist?“ „Was hat sie dir sonst noch gesagt?“ „Nichts.“ „Frag deinen Vater.“ „Rob, bitte, du kennst seine Antworten.“ Ich blieb stehen und schaute ihn an. „Frag deinen Vater, Richard. Ich habe heute schon meinen Teil abbekommen, von wegen duzen und so.“ Er wurde unruhig, das könnte ihm auch noch bevorstehen, nahm mir Max ab und als wir beim Teich anlangten, warteten wir, bis wir sie von weitem kommen sahen, dann drängte er darauf zum Haus zu gehen.
Heather hatte dafür gesorgt, dass Michael und Sami nicht mehr aussahen wie Wegelagerer, Viktorias Gepäck stand bereits in der Halle, und still und schweigsam traten sie ein, setzten sich hin, so, wie sie waren; durstig trank Viktoria ihren Tee, ass nichts, sprach nur mit ihren Kindern in dieser kehligen Sprache und ich hatte den Eindruck, als sei sie schon vorausgegangen. Dann war es Zeit und schnell, als hätten sie sich abgesprochen, umarmten die beiden Jungen Viktoria, schniefend steckte Sami eine Hand in seine Hosentasche, brachte ein Taschenmesser zum Vorschein, blickte fragend auf seine Mutter, gab sich dann einen Ruck und hielt es Michael hin. „Für dich.“
Michael nahm es, verdächtig lang wurde sein Gesicht und Viktoria fuhr ihm mit der Hand durch die Haare. „Hey? Was ist das denn? Seid ihr Männer oder Ratten?“ Warm lächelte sie auf, schaute zu James, halbwegs erwartete ich, sie würde die Frage wiederholen, wissen wollen, was er nun war. „Viktoria, ich darf doch davon ausgehen, dass Sie mir dasselbe Recht einräumen wie meinen Söhnen.“
Für einen Augenblick lag ihr Kopf an seiner Schulter, dann liess er los, sie hob Max hoch, drehte sich um, ging zur Tür, sass wenig später abwesend und einsilbig neben mir im Auto; Sami schwatzte, sie antwortete mit Mhms und Ja jas, wollte dann ziemlich mürrisch wissen, wann wir ankommen.
„Bist du müde?“ „Ja.“ „Hattest du keine gute Nacht?“ „Nein, ich habe zu viel Kaffee getrunken!“ Ryan hatte auf ihren Kaffeekonsum hingewiesen, dass sie nicht würde einschlafen können und spasseshalber hatte ich erwähnt, dass sie sich in dem Fall einen Joint drehen würde; war jetzt beschäftigt, musste mich auf den Verkehr konzentrieren, spürte nur die unwillige Bewegung, mit der sie den böse leuchtenden Blick von mir nahm.
„Du hast das mit Absicht gemacht!“ „Was? Die Sache mit dem Joint? Komm, Viktoria, wir sind doch alle erwachsen.“ „Nein, Robinzinho, nicht die Sache mit dem Joint, die auch, aber nicht nur die. Bist du eigentlich verrückt geworden? Du kannst mich doch nicht einfach absetzen inmitten dieser Bande. Ich konnte kaum atmen, weil ich nicht wusste, ob das erlaubt war.“ „Du hattest immerhin genug Luft, um Prinz James einen Piraten zu nennen. Und was heisst hier Bande, Viktoria, ich muss doch sehr bitten.“ „Ach, musst du das? Und ich habe mich entschuldigt. Das war nicht fair, Robin, du hättest mich warnen können, ich bin nicht gern der Hofnarr.“
„Das hast du Richard schon gesagt.“ „Ja. Stimmt. Aber Richard ist ein Junge, und du bist erwachsen. Warum hast du das getan? Los, sag schon! Warum antwortest du mir nicht?“ „Was habe ich denn so Schreckliches getan, Viktoria?“ Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte ich sie hierher gebracht, hatte sie nicht beschützt vor Sandras Hass, sie gejagt wie alle andern, versucht, sie blosszustellen, weil ich eifersüchtig war auf den Zauber, der diese bedingungslose Bereitschaft auslöst, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dunkel nur ahnte ich all dies, musste mich auf den Verkehr konzentrieren, war bereit auf die Beantwortung meiner Frage zu verzichten und ihr Lachen klang an mein Ohr. „Wie machst du das, Robin? Du siehst immer gleich aus, ausser wenn du lachst. Wie geht das? Wie lange muss man üben, damit man immer gleich aussieht?“
Vielleicht hätte ich es ihr sagen sollen in jenem Moment auf dem Weg zum Flughafen, sagen, dass man ein Leben lang üben muss, immer wieder aufs Neue. „Was soll ich zuerst beantworten, Vic? Das Wie oder das Warum?“ „Ach, lass es bleiben, ich will es gar nicht wissen.“ Sie versank in ihre Gedanken und wir sprachen nicht mehr, bis wir am Flughafen anlangten.
„Ich komme schon zurecht, du brauchst nicht mit hineinzukommen.“ Schnell nahm ich zwei von den Taschen auf, ging Richtung Check-in, „so einfach wirst du mich nicht los. Komm, sei nicht zimperlich, lass dir von mir helfen“; und dann hatte sie eingecheckt, war bereit zu gehen. „Also“, lächelnd sah sie mich an, „danke, Robin. Es war sehr interessant bei dir.“ „Kommst du wieder?“ „Klar. In meinem nächsten Leben.“ Sie küsste mich auf beide Wangen, hob Max hoch und ging, ein Kind auf der Hüfte, das andere an der Hand, durch die Passkontrolle.
Sie:
„Ich will nicht schon wieder im Flugzeug schlafen. Und warum müssen wir überhaupt gehen?“ „Wir müssen nicht, und der Flug dauert nur etwas mehr als eine Stunde.“ „Und wie lange bleiben wir?“ „Bis Sonntag.“ „So lange? Kann ich den Gamer mitnehmen?“ „Er funktioniert dort nicht.“ „Dann geh ich nicht.“ „Dann bleibst du hier. Ich habe schon mit Sibylle gesprochen, kein Problem.“ „Was ist mit Max?“ „Max nehme ich mit.“ Aber Max will nicht mit, nicht ohne Sami, dickste Freunde sind sie plötzlich, und entschlossen gehe ich zum Telefon. „Wen rufst du an?“ „Sibylle.“ „Also gut, dann komm ich halt mit“, und Max will auch.
Vielleicht sollte ich aber doch besser allein gehen, sie nicht verwickeln. In was denn verwickeln; „ich glaube, ihr bleibt besser hier.“ Er protestiert, immer ändere ich meine Meinung, einmal so, einmal anders, das ist nicht zum Aushalten; „aber vielleicht wird es furchtbar öde. Ich glaube nicht, dass Robin einen Nintendo hat.“ „Dann besuchen wir halt Claire und Ian. Die wohnen doch auch dort. Oder nicht?“ Die wohnen auch dort, ja, das ist ein Argument mit Hand und Fuss; ich lasse mich überzeugen, und Recht hat er auch. Ich sollte mir im Klaren sein, um was es gerade geht bevor ich den Mund aufmache. ‚Du wirst ein eigenes Leben brauchen, Viktoria.’
Wie denn? Wie soll ich sie abstreifen, die Schlingen aus Fleisch und Blut, die sie an mich binden? Oh Mann, also gut, wir gehen zusammen. Er hat uns zusammen eingeladen. Vielleicht ist er ja doch ein Frauenmörder, oder ein Kinderfresser? Nein, Kinder mögen ihn, und er mag sie auch. Und mich? Und ich? Ach, vergiss es, leg alles beiseite, freu dich auf die Reise, auf etwas Neues, und er ist nett, ein Freund vielleicht. Vielleicht ist er schwul? Hör auf, Viktoria! Geh hin! Lass die Dinge auf dich zukommen oder dann bleib zu Hause, verschanz dich in deinem Bau, geh nur hinaus wenn es dunkel ist, damit niemand sieht, dass es dich noch gibt.
Totenstill ist es im Flieger, sogar den Service haben sie eingestellt, nur Max findet es megacool, wie auf dem Karussell, Sami tippt sich an die Stirn und ich bin so froh, sind sie hier, halten mich aufrecht in solchen Zeiten.
„Wie war euer Flug?“ „Frag Max.“ Er fragt, Sami erzählt, weil es doch so megageil war, und dann lacht er ganz offen über das Portugiesisch von Robin. „Warum sprichst du so komisch?“ „Die Portugiesen sprechen so.“ „Bist du ein Portugiese?“ Sie schwatzen, Max möchte auch noch etwas sagen und jedes Mal wenn Robin falsch einspurt, habe ich das dringende Bedürfnis zu schreien; „der Flug war fürchterlich!“
Was für ein lustiger Junge, dieser Patensohn, hat auch einen netten Götti; und kurz überlege ich, wer denn meiner war, ist oder hätte sein sollen, wirklich nur ganz kurz, weil da ist dieses Haus, dieses wunderschöne Haus, du heilige Scheisse; und was für ein seltsamer Junge, dieser Bruder von dem Patensohn, hat nicht sagen wollen, was er geladen hat. Vielleicht war es der Computer von Robin? Nein, der war doch dabei, versteht nichts von solchen Sachen. Vielleicht ist er ins Netz, hat sich Spiele geholt und sie wollen das nicht, weil er anfällig ist. Das könnte er sein, ja; Michael und Richard. „Wie alt ist Michael?“ „Zehn.“ Im Alter von Claires Junge, vielleicht kommt es daher und Kinder sehen sowieso alle gleich aus, ausgenommen die meinen, natürlich; „darauf freue ich mich gar nicht.“ „Worauf denn, Viktoria?“ „Pubertierende Jünglinge.“
Er lacht, ich frage nach seiner Frau und er sagt nichts, fast nichts, über gar nichts, verkehrt alles in Fragen, arbeiten muss er auch nicht, armer Junge; und ich stelle mir vor, was ich tun würde, wenn ich nicht arbeiten müsste. Wieder trainieren, singen mit einem Lehrer, alle Bücher lesen, die ich schon immer habe lesen wollen, sie zuerst kaufen natürlich; und dann ist er so erstaunt, dass ich den ganzen Apfel gegessen habe. Henrique war das auch immer gewesen, hat Äpfel mit Messer und Gabel gegessen, nicht einfach nur rein gebissen; und ich schaue auf Robin, der immer gleich aussieht, gleich ruhig, sicher und gelassen. Komm schon, Vicky, er ist ein Traummann! Ja, vielleicht, vielleicht ist er das.
„Vicky, kannst du reiten?“ „Nein, das ist mir viel zu hoch.“ „Was?“ „Ich möchte nicht aus der Höhe eines Pferdes fallen.“ Sein Gesicht bewegt sich noch und er zweifelt, ich kann es sehen. Wie machen die das bloss? Das muss man sicher üben, erarbeiten, dafür muss es eine Methode geben; das unbewegliche Gesicht garantiert in drei Tagen oder so.
„Warum gehst du davon aus, dass du vom Pferd fallen wirst?“ „Eigentlich habe ich sagen wollen, dass ich nicht reiten kann und es auch nicht versuchen möchte.“ „Und warum hast du das nicht getan?“ „Weil ich die Worte so nicht finden konnte.“ „Du bist erschrocken. Hast du befürchtet, deine Schreckensvision von der Höhe eines Pferdes zu fallen könnte grausame Wirklichkeit werden?“ „Ja, ich hab alle meine Knochen brechen hören.“
Er lacht, freut sich, ist meinen komischen Worten auf den Grund gekommen, und Robin kommt herein, fragt nach Michael und Sami, bespricht sich mit Richard. Immer ist er der Letzte, der zum Frühstück kommt, in Brasilien war das schon so, will wohl seine Ruhe; und gut sieht er aus, gut gelaunt, verkündet, dass wir in den Park gehen. Gehen, nicht reiten. Die Stiefel, eine Windel für den Notfall, Wasser, Äpfel vielleicht; und der Mann bringt alles, was ich mir wünsche in einem Rucksack. Wirklich praktisch so ein Ding, nicht mal der Name muss übersetzt werden; „bist du bereit, Robert? Können wir jetzt endlich gehen?“, und er lacht, scheint so überaus zufrieden, freut sich, dass wir uns verstehen, freut sich auf die Brötchen, und ich schaue ihn an, bin nicht sicher.
„Kommst du mit zu den Ställen, Vicky? Die Stute ist trächtig, sie wird bald fohlen.“ „Ausgeschlossen. Nach dem Lunch bringt Viktoria Gladys bei, wie man diese Brötchen macht.“ „Brötchen, Rob? Du bringst Viktoria hierher und schickst sie in die Küche?“ „Richtig, ich bin die böse Stiefmutter und Viktoria wird Brötchen für uns machen, für uns alle, mein Junge.“ „Aber wir hatten schon keine Zeit, um zu den Steinen zu gehen und jetzt…“, „Richard, ich brauche fünfzehn Minuten für den Teig, sage Gladys, wie sie sie formen und backen muss. Kann sie das, Robert? Also? Gehen wir in die Küche?“; und wie mit der Stoppuhr in der Hand steht der Junge da, beobachtet jede Bewegung, würde kaum eine unnötige tolerieren, jedes meiner Worte verschlucken, wenn er könnte. Eigenartig, und was heisst, er hat mich hergebracht?
„Du hast länger gebraucht, ganze fünfundzwanzig Minuten.“ „Ist das so schlimm?“ „Ja, das war eine 70 %-ige Erhöhung der von dir angegeben Zeit, und ich warte nicht gern.“ „Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen, und du bekommst ein Extrabrötchen, als Entschädigung.“ Sieh einer an, er wartet nicht gern, der junge Herr; „Max! Was ist hinter der Tür da?! Max!!“ Wir spurten los, Richard ist der Schnellste, hält ihn auf, „du kannst hier nicht alleine rein, Max. Komm, komm mit mir. Siehst du? Wenn sie erschrecken, treten sie dich. Siehst du diese da, sie hat ein Pferdchen im Bauch.“ Warm ist es im Stall, aber Max ist zu laut, seine Stimme zu hoch, nervös verdreht sie die Augen, schielt nach uns; ich denke, dass man Trächtige besser in Ruhe lässt, nehme ihn fest an die Hand und wir gehen hinaus in den dunkel gewordenen Tag.
Der Himmel wird gleich platzen, eilig setzt Richard Max auf seine Schultern, stürmt hinter Sami und Michael her, ich schaue hinauf in die schweren Wolken, die ich berühren könnte, wenn ich mich nur etwas streckte; und leise erst, dann immer lauter rauscht Wasser nieder, kalt fallen dicke Tropfen auf mein Gesicht, ein Ruf hallt durch den Regen, Wasser rinnt mir in den Nacken, perlt von der Krempe des Hutes, verwischt die Gestalt des Mannes und ich renne ihm entgegen, will ihn von Nahe sehen.
Wer bist du? Und du? Wer bist du? Wo kommst du her? Wo warst du? Du; und ich sehe, wer er ist, renne, renne die Treppen hoch, ziehe mich um, andere Hose, anderer Pulli, Schuhe. Schuhe!? Was soll das? Das ist doch gar nicht wahr, kämm mein Haar, starre in den Spiegel, sehe nichts. Fünf Minuten, hat Robin nicht fünf Minuten gesagt? Und ich laufe die Treppen hinunter, durch die Halle, falle fast durch die Tür, die der Mann so plötzlich öffnet. Walter ist sein Name, behalt das einfach, und sag nichts, schau ihn nicht an, auf gar keinen Fall; und dann laufe ich neben Heather ins Kinderteezimmer, werde gleich zerspringen.
„Armer Max, mein armer, armer Max.“ „Es tut so weh, Mami.“ Ja, das tut es und ich wiege ihn, blase auf die Beule; „er ist mit dem Stuhl umgefallen, Vicky. Richard hat noch versucht, ihn aufzuhalten, aber es ist so schnell gegangen.“ „Du musst aufpassen, mit den grossen Stühlen, Max, sie kippen.“ „Dumme Stühle“, und ich wiege ihn, singe das Liedchen, dann tut es nicht mehr weh. „Warum sprichst du Portugiesisch mit ihm?“ „Damit er es nicht vergisst; und das war nicht nett von euch.“ „Sei nicht böse, Vicky, bitte, du warst unser Versuchskaninchen, wir wollten wissen, ob du uns erkennen würdest.“ „Wie standen die Wetten?“ Grinsend hebt er die Schultern, Spitzbube, und ich bin nicht böse, nein, das wäre das falsche Wort, ich bin so, so anders.
„Ratten, Michael, heute benützt man Ratten, und ich bin nicht gerne eine Versuchsratte.“ „Viktoria, du bist böse.“ Verlegen sieht er aus, der junge Herr, betreten. Prinz, Viktoria! Nicht Herr; und ich spüre Max’ Wärme auf meinem Schoss, lege meinen Kopf auf sein Köpfchen, halte ihn fester, halte mich fest auf dem Boden. „Vicky?“ „Nein, ich bin nicht böse. Ich frage mich nur, ob bei euch die Stelle des Hofnarren noch frei ist.“ Sami will wissen, warum sie lachen und ich will es nicht sagen, erfinde etwas, es ist nicht wichtig.
„Spielen wir das Schatzsuchespiel? Mami? Du hast es doch mitgebracht?“ Mit Händen und Füssen macht er Michael klar, um was es geht, „Mami, was heisst Spiel?“ Ich übersetze, wir gehen nach oben, spielen das Schatzsuchespiel und ich gewinne sie alle. Glück im Spiel, Pech in der Liebe, ja, so sagt man, ziehe eine Karte, werde endlich verlieren, todsichere Sache. Wetten schliessen sie ab und ich spüre Augen im Nacken, seine Augen, die Luft wird schwül, schwer zu atmen; und was will er von mir? Ich habe keinen Einsatz, habe nichts zu verlieren, spüre Max’ Zähne wie kleine Messer in meinen Arm schlagen und ihre Stiche vermischen sich mit dem Schmerz in meiner Brust, dem Schreck in meinen Gliedern, ich stehe auf, gehe meinen Mutterpflichten nach, habe nichts zu verspielen.
„Geht ihr weg?“ „Nein, wir sind unten.“ „Das ist ein grosses Haus.“ „Wir sind unten, Sami, du musst nur die Treppe runtergehen, dann findest du mich schon.“ „Er ist nett.“ „Wer?“ „Michael, und Richard auch.“ „Ja, und jetzt mach vorwärts, ich muss noch duschen.“ Schnell spült er sich den Mund aus, macht sich auf den Weg, „dürfen wir wieder in deinem Bett schlafen?“ „Ja.“ „Bleibst du noch ein bisschen?“ „Ein bisschen.“ „Michaels Vater ist sehr streng.“ „Mhm.“ „Er sieht dich immer an.“ „Wer?“ „Michaels Vater.“ „Hm.“ „Was machen wir morgen?“ „Richard hat gesagt, dass es im Wald eine Menge grosser Steine gibt. Da wollen wir hingehen.“ „Kommt er auch mit?“ „Wer?“ „Michaels Vater.“ „Kaum.“ Wir liegen auf dem Bett, Max sitzt auf meinem Rücken, will das Joggelispiel. Joggeli kannst du reiten? Ja, ja, ja. Ich bin das Pferd, er ist der Joggeli und ich werfe ihn ab, immer wieder, ein letztes Mal; Sami braucht sein Kassettengerät, es steht im Kaminzimmer, Wasser brauchen sie auch noch, ich brauche mein Kleid, die Schuhe, Unterwäsche, ziehe die Tür zu, lasse einen Spalt offen, ein Schimmer Licht für die beiden.
Wer bist du? Und du? Wer bist du? Ein Gesicht haben die Augen bekommen und ich werde Kopfschmerzen bekommen, fürchterliche Kopfschmerzen, mich hinlegen, hungrig; mache mich bereit, gehe hinunter, weiss, dass ich es nicht hätte tun sollen, als ich ihre Augen schaue, meine Vernichtung erblicke; und Robin hilft nicht! Warum auch? Er ist ein Jäger, das hier die Gelegenheit für leichte Beute, und ich möchte ihn prügeln, ohrfeigen! Das würde auch nicht helfen, sie sind alle gegen mich, alle, ausser Lucie. Nicht alle. Doch! Alle zusammen! Also gut, er sitzt auf der Mauer, ist neutral; und heiss kocht es auf, das Schweizer Urblut meiner luzernischen Grossmutter. Zwerge sind wir, und das wissen auch schon alle, Zwerge hinter den Sieben Bergen. Wo sonst sollen sie leben, wenn nicht in Stollen unter dem Fels, ihre Schätze hütend, um sich freizukaufen von der Schuld nicht zu bluten, wenn Riesen sich die Köpfe einschlagen, oder so ähnlich; vielleicht auch ganz anders, im Moment bin ich die Schweiz, genau, Mutter Helvetia umzingelt von Feinden. Ah Rob, du hast vergessen deinem Diener zu sagen, er soll die Fettnäpfchen wegstellen. Wie ungeschickt.
„Kommen Sie, Mrs. Tavares, ich helfe Ihnen.“ Er nimmt Sami auf die Arme, trägt ihn die Treppe hoch, ich trage das Kissen, das eine Wäsche dringend nötig hätte, nur riecht es dann nicht mehr und es dauert, bis er sich beruhigt, bis es wieder riecht nach ihm; laufe voraus, öffne die Tür, die zum Schlafzimmer, und geübt lässt er Sami ins Bett gleiten, ich decke ihn zu, mein Bübchen, lege das Kissen an seine Wange, sage ihm, dass ich hier bin. „Brauchen Sie noch etwas, Mrs. Tavares?“ „Nein, nein, vielen Dank, gute Nacht“, schliesse die Tür hinter ihm, nehme die Schuhe vom Tisch, denke, dass mich selten ein Mann so zuvorkommend behandelt hat. Ah, das halt ich nicht aus, das ist zu viel, zu hoch, zu weit; und ich ziehe mich aus, ziehe meinen Pyjama an, einen Pulli, weil es kühl ist, sehe das Schatzsuchespiel, sortiere die Karten, lege die Steine in ihr Fach, den Deckel auf die Schachtel, die Schachtel in die Tasche.
Haben sie nicht aufgeräumt weil sie Prinzen sind, oder wie ist das jetzt? Ach, vergiss es, und ich gehe zu Sami und Max, lege mich hin, höre ihnen beim Atmen zu; „lass mich, Dummkopf!“ Armer Max, sogar im Traum muss er sich wehren und ich habe vergessen die Zähne zu putzen, mich abzuschminken, stehe auf, gehe ins Bad, stehe vor dem Spiegel.
Wer bist du? Und du? Ich kenne dich, suche dich, so lange schon. Du; und ich öffne den Hahn, lasse das Wasser laufen, bis es warm ist, wasche mir die Schminke vom Gesicht, sehe mich an. Schminke ist wie Kokain, man braucht immer mehr davon, jeden Tag, immer mehr, dann geht die Haut kaputt, die Seele, und man braucht noch mehr Schminke. Lass den Blödsinn, Viktoria, und auf halbem Weg zurück ins Bett fällt mir ein, dass ich die Zähne noch immer nicht geputzt habe, kehre um, hole es nach, lege mich hin.
Unten ist eine Bibliothek. Ich kann kein Buch lesen in einer Nacht. Dann denk an etwas Schönes, und ich denke an Paraguay, an den kleinen, dicken General, der sicher nur ein Sargento gewesen war, einfach nur gebrüllt hatte wie ein General, denke an die Angst, spüre sie in meinem Bauch. Angst vor seiner Waffe, Angst, dass er mir etwas tut, Henrique hätte mir nicht helfen können, Angst vor seiner Angst. Denk an etwas Schönes, die Fälle, ja, er kennt sie, und sie sind schön, unglaublich schön. So viel Wasser. Nach Urwald hat es gerochen, hat zu regnen begonnen, weicher Regen, warm auf der Haut, und wir sind gerannt, sind auf den Fotografen gestossen. Kleine Fotos macht er, klebt sie auf Aschenbecher, Schlüsselanhänger, hat uns fotografiert, uns den Film gegeben. Ich habe es noch, das Bild, die Fälle sind nicht zu erkennen, sind eins geworden mit den Wassern des Himmels; und leise stehe ich auf, trete hinaus auf die Galerie, fühle mich beobachtet von den vielen Menschen auf den vielen Bildern, schleiche über die Treppe hinunter in die Bibliothek. Warm ist sie nach der Kühle der Halle und ich drehe das Licht auf, gehe etwas ran an die vielen dicken Bücher, möchte ein kleines, dünnes Büchlein, eins für eine Nacht.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes, Mrs. Tavares?“ Ja, das tue ich, und der Boden wird kalt unter meinen Füssen. „Sie mögen keine Schuhe?“ Sieh ihn bloss nicht an! „Ja.“ „Ja, was?“ „Ja, ich suche etwas Bestimmtes, und ja, ich mag keine Schuhe, und Sie haben mich erschreckt. Hoheit.“ „Ich bin auch erschrocken, als plötzlich das Licht anging. Wollen Sie mir sagen, was Sie suchen, Mrs. Tavares?“ Nein, will ich nicht! „Nun?“ „Etwas kleines, leicht zu lesen.“ „In einer Nacht?“ „Kurzgeschichten. Vielleicht hat Robin so was.“ „Warum nennen Sie ihn Robin?“ Warum soll ich ihn verdammt nicht Robin nennen? Ach, hol’s der Teufel! „Es ist etwas kürzer. Hoheit.“
„Nehmen Sie dieses hier.“ Er hält es mir hin, ich muss es nehmen, aber dann muss ich ihn auch ansehen; „erlauben Sie, dass ich Ihnen noch eine Frage stelle, Mrs. Tavares?“ Nein! „Warum wollte der Mann Sie blossstellen?“ Welcher Mann denn? Und warum fragt er? Weiss er es nicht? „Ich weiss es nicht“, schaue ihn an und die Frau kommt herein, ich nehme das Buch aus seiner Hand, „Kurzgeschichten. Rob hat so was“, sage danke, schaue auf die Frau, „gute Nacht“, suche ihre Augen, denke, dass die eines Hais auch so aussehen könnten, gehe frierend durch die hohe Halle, die endlos lange Treppe hoch. Zerfleischen will sie mich, zerfetzen, und ich presse das Büchlein an meine Brust, als könne es mich beschützen.
Wie kommt sie zu dem Hass? Zu so viel davon? Ist er angewachsen durch die Zeiten, weitergegeben von Mutter zu Tochter, geschürt durch die Angst den Platz zu verlieren, den einzigen, der dem Frauenleben Sinn geben konnte? Was waren wir denn ohne Mann? Nichtsnutzige Weiber, vertane Materie, überflüssig, seelenlos. Das durfte es nicht geben, die unbemannte Frau, lächerliche Figur, die niemand will; alte Jungfer, Hure, Hexe, die ihn verzaubert, ihn verdirbt. Soll sie brennen! Ah, so viel Hass; und leise schliesse ich die Tür hinter mir, lege das Büchlein auf den Tisch, schenke mir ein Glas Wasser ein, trinke es aus, fülle es erneut, nehme es mit zum Feuer. Einmal ja, da war das anders, vor langer Zeit. Da wurden wir geehrt und geachtet, unsere Körper verehrt als Spender des Lebens, waren noch nicht gebrandmarkt als Ursprung allen Übels, auf dass man sie verschachern konnte, missbrauchen, schänden und verbrennen; und ich schaue in die Glut, denke, dass ich manchmal meine, mich zu erinnern. Und warum hat der Mann mich blossstellen wollen?
‚Sie werden nicht schlafen können, Viktoria. Das ist schon Ihr zweiter Kaffee und erst noch schwarz.’ ,Mach dir um Vic keine Sorgen, Ryan, wenn sie nicht schlafen kann, dreht sie sich einen Joint. Komm, du hast mir erzählt, wie du Gras nach Brasilien geschmuggelt hast.’ ‚Sie haben Pot geschmuggelt, Viktoria? Das ist ja nicht zu fassen! Wie haben Sie das gemacht?’ Eine Binde hatte ich aufgeschnitten, eine Ferienration hineingestopft, zugeklebt, benutzt. Wer würde schon eine Mutter mit zwei Kindern aufhalten und einer Leibesvisitation unterziehen, und mit der Brille sehe ich eh seriös aus. ‚Ich hatte es in meine Hosentasche gesteckt.’ ‚Sie haben Pot hierher gebracht?’ ‚Nein, natürlich nicht. Ich bleibe nicht drei Wochen hier.’ ‚Und wie wollen Sie einschlafen heute?’ ‚Ich trinke noch einen Kaffee.’
Etwas blosser noch hätte er mich stellen können, vielleicht ist er ja doch ein Freund, hat nie etwas anderes sein wollen, war meine Einbildung pure Eitelkeit. Verdächtig hingegen das Interesse seines Neffen an meinen Schmugglermethoden, sehr verdächtig; und ich leere das Glas, etwas hoch für ein Näpfchen, etwas zu schmal, drehe es in meiner Hand, denke an das Mädchen, das ich einmal war, mein Schulweg sein Schiff, der Ozean, die Strasse des Magellan, er mein Held, mein allergrösster Held; und wir umsegelten die Welt, kaperten portugiesische Karavellen, brandschatzten die Spanier. Für die Königin. Er war ja doch ein edler Pirat gewesen; und ich lege mich zu den Kindern, schlafe ein, träume von dem Mann, von dem ich immer schon geträumt habe und als ich aufwache, kann ich mich zum ersten Mal an sein Gesicht erinnern.
„Sie hat gefohlt heute Nacht.“ Sami nickt aufgeregt. „Hast du das verstanden?“ „Das Pferdchen ist auf die Welt gekommen.“ Kaum Zeit zum Essen hat er und zu gerne würde ich wissen, ob der Grund für diese Eile das Pferdchen ist oder der Mann, der mit uns frühstückt, die ganze Luft für sich alleine braucht. „Kann ich vom Tisch, Mami?“ „Warte, bis die anderen fertig sind.“ Rührend kümmert er sich um Max, hilft ihm mit dem Ei; nur weg hier! „Viktoria, können wir vom Tisch?“ „Bitte, Vicky, wir waren noch nicht im Stall.“ „Von mir aus“, und als hätte er die ganze gestohlene Luft auf einmal ausgestossen, lachen wir plötzlich. Richard nimmt Max an die Hand, zusammen machen sie sich aus dem Staub, erneut wird sie dünn und zäh verteidige ich das bisschen, das ich zum atmen brauche, vergeude es mit keinem Wort, dann geht die Tür. „Kommst du, Vicky?“
„Was hat er zu dir gesagt?“ „Wer?“ „Paul.“ „Nichts.“ „Gut, er ist ein schrecklicher Langweiler und er wird meinen Vater anmachen, weil wir uns duzen.“ Weil wir uns duzen, klar, ist ja auch furchtbar; aber er geht mich nichts an, dieser Junge, seine Nöte, sein Vater, beschleunige meine Schritte, „wo ist Max?“ „Heather ist bei ihm.“ Ausgerechnet, die ist sich kleine Jungs nicht mehr gewöhnt, nicht so kleine, und ich will nicht, dass er vom Pferd getreten wird, gehe noch schneller; aber dann hält er sich an Sami und Sami hält ihn fest an seiner Hand. In respektvoller Entfernung vor dem grossen Tier und seinem Jungen stehen sie da, schauen zu, wie es säugt.
„Ich glaube, wir sollten zurück. Sandra ist abgereist und Lady Schwester wird ihr sicher folgen.“ „Ah, Schwestern sind das!?“, ärgere mich, weil sie mich doch nichts angehen, diese Leute, und Heather kommt uns entgegen, zerzaust irgendwie; die Jungen müssen ins Haus, „ja, Schwestern, und vielleicht kommt Dad jetzt mit zu den Steinen, er“, „warte! Machen wir ein Rennen. Zieht die Stiefel aus, los, wer zuerst am Ende der Halle ist. Komm Max, ich helfe dir“, sage alles noch einmal, bin sehr beschäftigt, habe keine Zeit, mich über Steine zu unterhalten, über Väter; „seid ihr bereit? Auf die Plätze, fertig, los!“ Glatt wie ein Eisfeld ist der Boden, ich sehe Türen gehen, Menschen, seine Augen, kann nicht bremsen, würde fallen, fliege durch die Halle seiner Berührung entgegen; eine Umarmung! Eine einzige nur, und Rob gönnt sie mir nicht! Elender Spielverderber; doch sie gehen, alle gehen sie weg, nur er bleibt hier, kommt mit in den Wald; Bauchschmerzen! Ich sollte fürchterliche Bauchschmerzen bekommen!
„Wie war das Dinner gestern?“ „Sehr gut. Ich würde Gladys gerne etwas in die Töpfe kucken“, laufe davon und Max rennt mir nach, ich werde langsamer, lasse mich fast einholen, werde schneller, bleibe stehen, fange ihn auf, schwinge ihn durch die Luft; auf dem ganzen Weg zum Teich spielen wir unser Spiel und dann wollen sie nicht warten, kennen den Weg durch den Wald; wir gehen weiter, es riecht nach Moos und Pilzen, feuchtem Holz, hinter Michael schlägt Sami sich durch dichtes Gebüsch einen Abhang hinunter, fast verschwunden sind sie schon, und Max wirft ihnen Steine nach.
„Nicht, Max! Keine Steine auf Leute werfen, wirf sie an den Baum, so, siehst du, getroffen, und jetzt du, ich muss nach Sami sehen.“ „Das ist eine Abkürzung, Vicky, mach dir keine Sorgen, Michael kennt den Weg, er ist nicht gefährlich.“ Ein kleiner Stein saust an meinem Kopf vorbei und schnell vor Wut ziehe ich mich hoch an einer Wurzel, packe den Wicht, habe doch gesagt, dass er das nicht tun darf, dass das weh tut, und warum muss ich immer ausrasten bevor er gehorcht? „Los, geh, geh und komm erst wieder her, wenn ich es sage!“ Empört schreit er auf, versucht Steinchen mit den Füssen zu schleudern, noch einmal gellt es durch den Wald und entkräftet lässt er sich zu Boden plumpsen, legt den Kopf auf seine Knie, weint über die Ungerechtigkeit der Welt und ich möchte mich neben ihn setzen, mit ihm weinen.
„Er wird der erste Diktator der Schweiz seit Menschengedenken.“ „Seit was?“ „Seit Menschen gedenken.“ Seit Menschen denken, das muss ich mir merken, „wäre das nicht immer schon? Und Max wehrt sich nur für das, was er für seine Interessen hält.“ „Viktoria, er hat dich mit Steinen beworfen.“ „Es war nur einer, und ich habe ihn bestraft. Ich gehe davon aus, dass Steine auf Leute werfen keine Bedeutung in seinem Leben haben wird. Ansonsten kann er immer noch mit den Bäumen trainieren“, suche mir einen Stein, fixiere einen Baum, ziele, „diesen da, den treffe ich.“ „Das war Zufall.“ „Meinst du?“ Ich schleudere noch einen; „du störst meine Konzentration“, „und du müsstest mich eigentlich Sir nennen.“ „Was?“ „Ja, du müsstest mich siezen und mich Sir nennen.“ „Ah, zu spät, tut mir Leid. Kriegst du Schelte?“ Ich will sie doch nicht wissen, seine Nöte, nehme einen Stein auf, ziele und er wartet, bis ich werfe. „Wie denkst du über die Monarchie?“
„Du störst meine Konzentration.“ „Sag mir, was du denkst.“ „Ich denke gar nichts. Ich bin Schweizerin, wir zerbrechen uns nicht die Köpfe über solche Sachen.“ „Du weichst mir aus, das tust du schon den ganzen Tag.“ „Warum sollte ich? Und warum über Dinge nachdenken, die mich nichts angehen? Ich bezahle keine Steuern hier und ich finde, du solltest mir keine solchen Fragen stellen, ich finde das“, mir fällt kein Wort ein, „unpassend?“ „Ja, genau, unpassend.“ „Und wieso findest du das? Hast du nicht eben gesagt, dass du dir über solche Sachen nicht den Kopf zerbrichst?“ Einen Stein brauche ich, nicht zu gross, nicht zu leicht, suche den Boden ab und er geht neben mir; „du bist eine Fremde, Viktoria, ein Aussenseiter, nur durch Zufall haben wir uns getroffen, werden uns nie mehr sehen. Wo also liegt das Problem, wenn ich mit dir über unpassende Dinge spreche?“ Laut ist seine Stimme geworden, fordernd, ich habe trotzdem keine Antworten für ihn, finde meinen Stein, richte mich auf.
„Du hast recht, Richard, ich bin eine Fremde, und darum könnte ich auch alles Mögliche sein. Eine Spionin zum Beispiel. Was meinst du? Angesetzt auf Onkel Robby, und ich habe meine Sache so gut gemacht, dass er mich in sein Haus einlädt, zusammen mit den Königskindern“, drehe mich um, schaue auf den Baum, nur auf den Baum, fühle den Stein in meiner Hand, lasse ihn schnellen; „niemals! So gut könntest du gar nicht sein!“ Ah, wie recht er hat, so gut könnte ich niemals sein, und zaghaft schlingen sich zwei Ärmchen um mein Bein. „Desculpa.“ „Max, Amor, das darfst du nicht, Steine auf Leute werfen. Wenn du triffst, gibt das Löcher und tut weh. So, siehst du?“ Ich gehe in die Knie, nehme ein Steinchen, klopfe sanft auf seinen Kopf, „fühlst du wie hart er ist? Steinhart.“ Fest drückt er sich in meine Arme und lange halte ich ihn, so lange, bis er mich los lässt, bis er weiss, dass ich nicht mehr böse bin, höre ein Geräusch, ein Knacken, Schritte, atmen, sehe einen Schatten, Bewegung, zwei Männer, spüre seine Augen, und wie soll ich jetzt aufstehen?
„Michael und Sami haben die Abkürzung genommen, Dad. Sie werden schon unten sein.“ Ganz locker hat er sich vor mich gestellt, wartet, bis ich hochkomme, dann hebt er Max auf seine Schultern, geht voraus und es wird eng, leicht abschüssig, zwischen den Bäumen sehe ich trübes Wasser glitzern, sehe es fliessen. „Richard! Die Steine! Stehen sie am Fluss?!“ „Nein, sie stehen unten in der Mulde, Vicky, und es ist nur ein Flüsschen. Willst du vorgehen?“ Sie sind zum Flüsschen, ganz sicher sind sie das, haben nicht widerstehen können, und geregnet hat es, viel Wasser wird es führen, kaltes Wasser; ich haste bergab, komme in eine weite Mulde, trete ein in einen verwitterten Kreis von Steinen. Verschieden hoch sind sie, verschieden breit, umgeworfen vielleicht vor langer Zeit, und Sami und Michael hocken zuoberst auf dem grössten Stein, sehen aus wie die Bezwinger eines unbezwingbaren Gipfels, sehen aus wie eine Waschmittelreklame.
„Hat Ihnen das Buch gefallen, Viktoria?“ Wieso ist er schon hier, ich bin doch so schnell gegangen, „ich habe nicht mehr gelesen gestern.“ „Schade. Ich hätte gerne gewusst, welche der Geschichten Ihnen am besten gefallen hat.“ „Die mit dem Tabakladen.“ Warum hältst du nicht einfach dein Maul? „Ja, eben, ich habe es schon gekannt“, muss etwas tun, irgendetwas, jetzt gleich! „Ich mache ein Feuer.“ „Das geht nicht, Vicky, das Holz ist nass“, und Sami will wissen, was Michael eben gesagt hat. „Wetten, dass sie das kann? Mami, was heisst wetten? Sie kann es. Wetten? Wie viel? Mami, was heisst wie viel?“ Ah, mein Sohn, mein liebes Kind, so viel Vertrauen in meine Fähigkeit, mit nassem Holz Feuer zu machen; „zwischen dem Laub musst du nachschauen, unter dem Reisig, da ist es trockener“, und wir machen uns davon, sammeln Holz, machen ein Feuer.
„Wo hast du das gelernt, Vicky, warst du bei den Pfadfindern?“ „Nein, aber wir waren immer im Wald und haben Hütten gebaut, Frösche haben wir auch gefangen und einmal fingen wir sogar eine Ringelnatter“, und ich denke an die kleine Schlange, habe keine Ahnung mehr, wie wir es angestellt hatten. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“ Oh nein, so grausam; und er sieht mich an, sieht mich immer an, „Vicky?!“ „Was?“ „Die Ringelnatter!“, „wir haben sie in ein kleines Schwimmbecken gebracht.“ „Und dann?“ Das kann ich nicht sagen, „und dann?!“, „wir haben einen Frosch hinein geworfen“, und ich sehe ihn vor mir, den kleinen, grünen Frosch.
In seinem Hals hatte es geklopft, schnell, und er war da gekauert, bewegungslos, mit seinem pochenden, gelben Hals, erstarrt, zu Tode schon. Ein Sprung hätte ihn gerettet, ein einziger nur, über den Rand des Planschbeckens hinaus, und ich schaue auf, sehe Nebel steigen, sehe seine Augen und er ist die Schlange, ich bin der Frosch und der kleine Junge vor mir packt meinen Arm. „Habt ihr zugesehen?! Vicky! Hast du zugesehen wie sie ihn gefressen hat?!“ „Sie haben ihn zum Springen gebracht, ich bin aber schon vorher weggelaufen.“ „Mädchen!“ „Ja, genau“, und zu gerne würde ich ihn etwas knuddeln, denke, dass man das nicht darf, überlasse ihm meinen Arm, bis er ihn los lässt, bis Robin nachschaut, was für Frösche der Mann uns eingepackt hat.
„Wo geht ihr hin? Ihr geht nicht allein zum Fluss. Sami!“ Brummelnd ziehen sie ab, ich schaue ihnen nach, lasse meine Augen zu Richard schweifen, wie er bei seinem Vater sitzt, auf ihn einspricht. Was für ein seltsamer Junge und wie schnell er begreift, meine Angst vor dem Fluss; Robin frotzelt über Hexen, Steine, eisig kommt der Wind zurück, zerfetzt die Nebel, weht die Jungen herbei. Ich muss nach Hause, jetzt gleich, wir müssen gehen; Sami und Michael rennen, Max sitzt auf Robins Schultern und Richard geht neben ihm. Schnell gehen sie alle, nur er geht langsam, wie eine Schnecke. „Warum wollten Sie wissen, ob es hier einen See gibt, Viktoria?“ „Wegen dem Wind.“ „Wegen dem Wind?“ „Ja, er riecht nach See.“ Stehen bleibt er auch noch, hebt die Nase in die Luft und ich schaue hinein in den Wald. „Der Wind riecht nach Regen.“ „Und nach See.“ Fragen würde ich gerne, ob er ihn kennt. Grau wird er sein, nebelgrau; und wir gehen weiter, ich sehe einen Stab, wie ein Speer ist er geformt, hebe ihn auf, würde ihn gerne werfen.
„Sie mögen Steine?“ „Ja, ich mag Steine.“ „Jedoch keine Findlinge aus den Glarner Alpen.“ „Lauschen Sie immer den Gesprächen anderer Leute, Hoheit?“ „Ja, meistens. Wie alt sind Sie, Viktoria?“ „Ich bin achtunddreissig.“ Es ist noch nicht so lange her, da war ich zwanzig, fünfzehn, dreissig, und jetzt bin ich bald vierzig. Ach, was soll’s, vierzig oder tot, dann schon lieber vierzig, und ich werfe den Stab. „Ein Akt der sinnlosen Auflehnung?“ Ja, genau, das ist es; und er steht vor mir, versperrt den Weg, ich schaue an ihm vorbei, schaue zu Boden.
„Warum sehen Sie mich nie an, Viktoria?“ Weil ich falle, wenn ich es tue, ganz tief; und seine Hand ist in meinem Haar, nimmt ein Blatt weg, legt sich um meinen Nacken, ich hebe den Blick, falle in seine Augen und er kann alles sehen, wissen; „wer bist du?“ Rau klingt seine Stimme, wie der heisere Schrei eines Vogels über unseren Köpfen, und ich trete zurück, einen Schritt nur, einen halben. „Ich bin Rumpelstilzchen“, er nimmt meinen Arm, „ich bin Viktoria Tavares, eine ganz gewöhnliche Frau und Mutter, und Sie, Sie sind ein Prinz und ein Gentleman, hoffe ich, weil wir müssen gehen, sonst verpass ich meinen Flug und komme in die Hölle morgen. Das ist so, bitte, glauben Sie mir, und da! Sehen Sie? Die Wolke? Wir werden nass!“ Er lacht, überreicht mir das Blatt, wir gehen schneller.
Habe ich alles eingepackt? Das Kissen, ja, das Nuschi, ja, habe Durst, grossen Durst, muss noch in ein Flugzeug steigen, weiss nicht, ob ich das schaffen werde, „Mami?“ „Hm.“ „Kann Michael einmal zu uns kommen?“ „Ja, ja.“ „Wann? In den Frühlingsferien?“ „Was?“ „In den Frühlingsferien? Mami?“ „Was? Nein.“ „Aber du hast doch eben gesagt“, „Sami, ich will nicht sprechen, bitte, auch nicht mit dir.“ „Vicky?“ Lasst mich in Ruhe! Ich muss in einen Flieger! „Viktoria?“ „Was?“ „Kannst du Ski fahren?“ „Ski fahren?“ Warum soll ich nicht Ski fahren können? Aber zuerst muss ich in ein Flugzeug und er grinst immer noch, dieser lustige Junge, hält mich fest und ich lasse mich halten von diesen Kindern, sollte gehen, möchte bleiben. Hier, bei dir. Für immer. Immer so. Nein. Nicht so. Nicht in der Halle; und ich ziehe seinen Geruch ein. Er riecht so gut.
Präsenz markiert mein Magen, das Ding steigt immer noch, das blöde Zeichen ist noch an, rauchen darf man auch nicht, und Max schreit voller Schmerz; es tut so weh. „Halt die Nase zu, Max. Ganz fest. So.“ Ich blase in meine Ohren, der Druck lässt nach, denke, dass ich schon lange nicht mehr rauche, dass es in keinem Flugzeug mehr erlaubt ist zu rauchen; und das Zeichen erlischt, ich hole Wasser, Max leert es aus und Sami will zu den Piloten. „Frag die Frau, Mami.“ „Frag du die Frau. Ich will nicht zu den Piloten.“ Nie tue ich etwas für ihn, nie, gemein, wie ich bin; und er fragt und Max will auch zu den Piloten.
„Du rührst nichts an. Hast du verstanden? Du wirst mir deine Hände geben und ich werde sie festhalten und du wirst nur schauen. Sonst gehen wir nicht.“ Ernst und ruhig spreche ich Portugiesisch, damit sich niemand aufregt, fange wieder von vorne an, wir treten ins Cockpit, „Mami! Es blinkt!“ „Ja, ich sehe es.“ „É Brasileira?“ Er hat den schweren Akzent der Schweizer, lacht, freut sich. „Nein, nein, ich bin aus Zürich.“ „O meu pai é Brasileiro.“ Ganz leicht nur ist sein Akzent und wir lachen, haben etwas gemeinsam mit dem Piloten. Eine Freude, eine Erinnerung vielleicht an ein Lied, ein Tag am Meer, eine Nacht in São Paulo, Baile Gay in Rio. Wer weiss?
“Was ist das?“ „Das ist der Höhenmesser.“ „So hoch sind wir?“ Sie sprechen Schweizerdeutsch, verstehen sich, ich schaue auf den Höhenmesser!! Das sind keine Meter, Viktoria, Kuh, kannst ausatmen; „sehen Sie die Alpen?“, und wie die abgebrochenen Zähne eines uralten Gebisses ragen die Gipfel aus den Wolken, wie Kliffe, Riffe in einem aufgewühlten Meer aus flockigen Wellen. Beunruhigend.
„Kann ich noch gamen?“ „Fünf Minuten.“ „Mami! Es ist erst halb neun.“ „Fünf Minuten.“ Was heisst hier erst halb neun, schon halb neun ist es, und ich gehe hoch in mein Zimmer, gehe wieder hinunter. „Los, kommt. Zähne putzen.“ „Spinnst du?! Du hast gesagt fünf Minuten! Du bist eben erst hochgegangen!“ „Sprich nicht so mit mir!“ Er wirft das Gerät hin, steht auf, weint vor Wut. „Das ist ungerecht! Du hast gesagt fünf Minuten!“ Das ist es, ja, ungerecht. Unrecht. Nicht richtig. Falsch; „Sami, ja, also gut, fünf Minuten.“ „Ab jetzt.“ Ach, vergiss es, und ich packe Max, hebe ihn hoch, kommt halt dieser hier zuerst, und er brüllt, tritt, schlägt, versucht zu beissen; ich hebe ihn noch etwas an, blase auf seinen Bauch und er schreit auf, ich blase noch einmal, er gurgelt, lacht, wird fügsam, will die Geschichte vom Krokodil, der Katze und der Feuerwehr; und Sami kommt herein, findet sie doof, echt doof, weil es gar keine Krokodile gibt an unserem Bach. „Du bist doof, Mongo!“ „Halt doch du dein Maul, du Furz!“, und Max packt etwas, es fliegt, Sami schreit, weil es ihn fast getroffen hätte, das Auto, fast!
„Raus!!“ „Es hat mich fast am Kopf getroffen, hirnamputierter Idiot!“ „Mongobilly, Mongobilly!“ „RAUS!!“, und ich denke, dass ich durchdrehe, jetzt gleich, sie totschlage, alle beide, lasse Max, wo er ist, zerre Sami aus dem Zimmer, hinein in sein eigenes; „du wolltest deine fünf Minuten, und die sind noch nicht vorbei! Treib mich nicht zu weit, Samuel! Nicht heute!! Ich werde so wütend, so wütend, wie du mich noch nie gesehen hast! Verstanden?!“ Und irgendwie schaffen wir es, bringen es irgendwie fertig; sie respektieren meine Grenzen, ich bin mir ihrer bewusst wie nie. „Dürfen wir in deinem Bett schlafen?“ „Aber nur heute“, und ich gehe mit, will nur noch träumen.
Fünf Minuten noch; und schon wieder tutet es, meine Hand sucht tastend nach dem Knopf, drückt ihn. Noch einmal, bis zehn nach; und ich erwache, sehe das Licht. „Sami! Steh auf. Jetzt gleich! Ich hab’ verschlafen“, rase aus dem Bett, hinunter in sein Zimmer, hinauf, werfe ihm seine Kleider hin, „zieh dich an, schnell“, rase in die Küche; heisse Milch, Ovi, Apfel waschen, heute ist Montag, Schwimmtag! „Hast du dein Schwimmzeugs bereit? Sami?!“, rase wieder hoch und er schläft immer noch, sitzend. „Komm, Sami, komm“, stöhnend öffnet er die Augen, ich helfe ihm beim Anziehen, „beweg dich, bitte, ich bin nicht dein Ankleider. Wo ist dein Schwimmzeugs?“
Er brummt, Max schläft, ich knurre, schiebe ihn hinaus, die Treppe hinunter, mürrisch setzt er sich hin, trinkt lustlos seine Ovi. Autoschlüssel? Schwimmzeugs? „Los, komm, die Jacke. Wo ist deine Mütze schon wieder? Mann, wann endlich legst du deine Sachen ordentlich hin, damit man sie am nächsten Tag wieder findet?“, und er motzt, ich suche die Mütze, lasse ihn motzen. Es ist nicht seine Schuld. „Wo sind meine Stiefel?“ „Weiss ich das?“ Noch nicht ausgepackt, Schlampe, ich schlüpfe in ein Paar Turnschuhe, wir rennen zum Auto, fahren den Berg hoch, dann knallt die Tür und frierend sitze ich da, sehe ihm nach, wie er über den menschenleeren Pausenplatz trottet; Max! Ich muss zurück, rase los, stelle mir vor, wie er aufwacht, ruft, keine Antwort bekommt. Immer wieder ruft er, immer ängstlicher; „ich bin hier, Max“, renne die Treppen hoch und eingewickelt in die Decke, vergraben bis zum Haarschopf schläft er selig. Los, weiter, ins Bad, duschen, Haare waschen, Flugzeuge verdrecken einem die Haare, schnell muss es gehen, und ich drehe das Wasser auf, heiss, so heiss wie möglich, lasse es dampfen, heiss und feucht.
Wer bist du? Und du? Wo warst du? Ich vermisse dich. So lange schon. Du; „Viktoria, ich bin hier!“ Die Schulbehörden! Die Präsentation! Ich komme zu spät! Er bringt mich um! Nein, ich bin krank, sehr krank, renne zum Telefon, tropfe einen See auf den Teppich; „Thommy? Ich komme zu spät.“ „Verflucht, Vicky! Das kannst du nicht machen!“ „Hab ich schon!! Sag den Leuten, Max hat Bauchgrippe. Sag ihnen, ich bin allein erziehend, die verstehen das, es sind Lehrer, die leben von Leuten wie mir. Sag ihnen, ich war die ganze Nacht auf. Sag ihnen, das Kindermädchen hat den Bus verpasst. Verdammt! Klick was an! Ich bin unterwegs!“
„Es tut mir so leid, das geschieht einfach, höhere Gewalt sozusagen“, und ich setze mich hin, möchte eine Zigarette, breite meine Sachen aus. „Sie sind allein erziehend, Frau Tavares?“ „Ja.“ Ich gehöre auch zu denen, wage ein zerquältes Lächeln, bin bereit, lege die CD ein; „also, ich habe aus dem Lehrmittel eine Art Videospiel gemacht, in dem die Kinder auf dem Weg zu den Lösungen Punkte sammeln können, Leben verlieren und so weiter, wie in einem Game“, klicke und klicke, spiele es durch, gewinne, habe ja schon Englisch gelernt in der Schule. „Könnte das nicht vermehrtes Konkurrenzdenken auslösen?“ Oh Mann, lasst es doch gleich bleiben, und gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass ich nicht dafür bezahlt bin, Grundsatzfragen zu diskutieren, lasse sie schwatzen; du, bleib bei mir. Fass mich an. Halt mich fest. Lass mich nicht gehen, „Frau Tavares?“, und ich schaue mich um, setze mich auf, bin das kleine Mädchen, das keine Ahnung hat, was der Lehrer eben wissen wollte.
„Ich glaube, ich hatte eine Absenz, tut mir leid.“ Wenn ich nur wüsste, was Thommy denen erzählt hat, sende ihm ein Lächeln, „wie geht es Max?“, sende ihm noch eines, „es geht schon. Danke. Also, machen wir weiter? Wo waren wir?“ „Die Musik gefällt mir nicht, der Verlierertitel. Das ist verletzend für die Kinder.“ Sie schwatzen schon wieder, haben natürlich Recht, ich werde die Musik ändern, sehe Olli rumlungern, schicke ihn nach Gipfel für alle, nach Kaffee mit heisser Milch. Er ist ein moderner, junger Mann, er kann das; ‚eigentlich müsstest du mich Sir nennen.’ Oh nein, nein! Reiss dich zusammen! „Da fällt mir gerade ein Stück ein. Was meinen Sie?“, und ich räuspere mich, singe ein paar Takte, schaue zu Thommy, denke, dass ich eben meinen Job versungen habe. Aber interessant, doch, sollte abgeklärt werden; und noch einmal nehmen wir sie durch, all die Änderungen, Extrawünsche, dann sind sie endlich gegangen.
„Bist du verrückt geworden, Vicky? Das Budget ist inklusive aller Rechte. Du musst dir was anderes einfallen lassen.“ „Ja, ja.“ „Was heisst ja, ja?“ „Ja, ja heisst ja, ja. Ich mache eine zweite Version, und vielleicht bekommen wir die Rechte. Ein bisschen Optimismus bitte, an diesem schönen Montagmorgen.“ Genau, das Leben geht weiter, ich muss arbeiten, Geld verdienen, mache mich an die Software für den Verband der Malermeister, bin leicht im Hintertreffen, arbeite durch, konzentriert, so konzentriert wie möglich. Du; du fürchtest mich. Nein. Ich habe keine Angst. Nicht vor dir. Wie könnte ich; „Vicky? Vicky! Was ist eigentlich los mit dir?“ „Was?“ Er zieht sich einen Stuhl heran, beäugt mich neugierig besorgt und ich strenge mich an, hebe meinen Schild.
„Bist du in Ordnung? Heute Morgen hatte ich Angst, du würdest umkippen.“ „Ich hab verschlafen, Thomas, das versaut mir den ganzen Tag. Ich hasse Stress am Morgen.“ „Rita hat mehrere Male bei euch angerufen. Sie wollte euch zum Essen einladen, Samstag oder Sonntag. Es war niemand da.“ „Wir waren unterwegs. Was, schon so spät?! Ich muss nach Hause. Die Überarbeitung kriegst du per Post, und vergiss meine Ferien nicht.“ „Vicky?“ „Was? Thommy, lieber Thommy, Begleiter meiner Kindheit, bitte, ich brauche keine Mutter, und wenn ich eine nötig habe, lass ich es dich wissen. Geht das in Ordnung? Und tschüss.“
„Mami? Wo gehen wir hin, wenn wir sterben. Glaubst du, wir kommen wieder auf die Welt?“ „Vielleicht.“ „Und wieso wissen wir dann nicht, wer wir vorher waren, wenn das so ist, und wieso müssen wir überhaupt sterben?“ Wer bist du? Ich kenne dich. So lange schon. Du; „Mami?!“ „Ja.“ „Was ja?“ Konzentrier dich, Viktoria, auf deinen Sohn, er ist hier, hat Sorgen, ist wichtig; „Sami, wir müssen sterben, weil sonst nichts Neues entstehen könnte. Stell dir vor, alles würde ewig leben. Wir müssten uns mit Dinos herumschlagen, mit Drachen, und vielleicht wären wir gar nicht auf der Welt, weil es kein Platz hätte für uns.“ Macht Sinn, doch, wo habe ich das nur gelesen? „Michaels Mutter ist auch gestorben.“ „Wer hat dir das gesagt?“ „Michael. Er hat nach Papi gefragt. Ich kenne das Wort für Tod, vom Game, es ist kill. Dann hat er mir gesagt, dass seine Mutter auch tot ist.“
Ganz eng sitzen wir, und ich denke an die Zeit ohne Worte. Im Büro hatte ich mich verschanzt, mich mit Bürokraten herumgeschlagen, mit Fábio, und dann hatte Sami angerufen, war nach Hause geschickt worden, weil er sein Turnzeug vergessen hatte. ‚Ich habe ihm erklärt, dass ich die Turnstunde verpasse, wenn ich gehen muss. Ich habe ihm auch gesagt, dass mein Papi gestorben ist. Er hat gesagt, dass das nichts mit meinem Turnzeugs zu tun hat.’ Was tust du hier, Viktoria? Verdammt! Geh nach Hause; und ich hatte Thommy angerufen. ‚Hast du einen Job für mich? Ich schliesse mein Büro, jetzt gleich.’ Er hatte einen, und ich bin nach Hause gegangen und langsam sind die Worte zurückgekommen.
‚Wenn ihr keinen Streit gehabt hättet, wäre er auch nicht fort gegangen.’ ‚Vielleicht. Vielleicht wären wir alle zusammen gegangen, wären in dem Auto gesessen, vielleicht wäre er hier geblieben und es wäre ihm hier etwas passiert. Wir können nicht bestimmen, wann wir sterben müssen, Sami, und wenn es geschieht, können wir nichts dagegen tun. Es ist stärker als wir. Wir können uns nur freuen, dass wir leben, weil es so schön ist, trotz allem.’ Sanft streiche ich über sein Haar, und bei jedem Atemzug schmerzt mein verkrampftes Herz. Ich kann sie nicht beschützen, nicht vor allem Schlimmen, Bösen, es ist unmöglich!
„Kann Michael jetzt zu uns kommen in den Frühlingsferien?“ „Ich weiss nicht.“ „Du musst mit seinem Vater sprechen.“ „Mhm.“ „Hast du seine Telefonnummer?“ „Nein.“ „Aber die von Robin, die hast du doch?“ „Ja, die habe ich.“ „Michael sagt, du kannst seinen Vater heiraten.“ „Wie bitte?!“ „Ja, der hat doch keine Frau mehr.“ „Und ist das ein Grund? Einen Mann zu heiraten, nur weil er keine Frau mehr hat?“ „Wenn er eine hätte, könntest du ihn ja nicht heiraten. Mami! Kannst du nicht mehr denken?“ „Nein, kann ich nicht. Und jetzt ist Schluss. Ich will morgen nicht noch mal verschlafen“, decke ihn zu, küsse ihn Gutnacht, höre das Telefon klingeln, hebe ab, automatisch, auf klingelklangel, denke, dass ich gewisse Mechanismen augenblicklich ausschalten sollte.
„Erwisch ich dich endlich. Schon das ganze Wochenende versuch ich dich zu erreichen, und der Beantworter war auch nicht an.“ „Mhm.“ „Ich wollte dich ins Kino einladen.“ „Ich war nicht da.“ „Das hab ich bemerkt.“ Er schweigt, ich habe nichts zu sagen; „könnten wir doch nachholen diese Woche. Was meinst du?“ „Lieber nicht. Nicht diese Woche.“ „Wie lange willst du mich eigentlich noch hängen lassen, Viktoria?“ „Wie bitte?“ „Ich war mit dir und den Kindern im Wald, wir haben gefeuert und Würste gebraten und sie hatten grossen Spass.“ „Das war im Oktober und das haben wir auch getan, als Henrique noch lebte.“ „Ja, und meine Gefühle für dich haben sich nicht verändert.“
Ah Peter, mit dem hungrigen Strassenköterblick; „meine auch nicht, Peti, und wenn dir meine Freundschaft nicht reicht, dann tut es mir leid. Mehr liegt nicht drin. Und das wird sich mit der Zeit auch nicht ändern.“ „Warum nicht?“ Was könnte wohl der Grund sein für meine beharrliche Nichtwahrnehmung von Peter Pan als Mann? Ich habe schon zwei Kinder, und geil finde ich ihn auch nicht. Ich muss es ihm sagen, irgendwann wird er darauf bestehen; „wo warst du übers Wochenende?“ „Hey?! Spinnst du?!“ „Viktoria“, „vergiss es, und wenn du es vergessen hast, ruf mich wieder an. Sonst lass es bleiben. Bis dann.“ Der hat sie ja nicht alle, und das Telefon klingelt, heute ist wohl Zahltag für alle meine Sünden, „was noch?!“
„Guten Abend.“ „Robin!“ „Ich hoffe, du dachtest an jemand anderen“, und ich lache es weg, das Gejammer des alten Kindskopfs, überlache das Hämmern in meiner Brust, „ja, wie geht es dir?“ „Gut. Ich bin heute in einer Woche in Zürich. Kommst du mit mir Mittagessen?“ „Ja, gerne. Wann und wo?“ „Um halb eins, in der Zunft, und pass auf dich auf.“ Ich will ihn wieder sehen. Das geht nicht. Ich weiss! Ich weiss es ja, gehe in die Küche, trinke Wasser, schaue hinaus in die Dunkelheit. Robin; er könnte etwas arrangieren. Arrangieren? Und dann? Mach dich nicht lächerlich, vergiss es, du hast andere Sorgen. Ja, ich habe andere Sorgen, habe zu tun, werde es vergessen. Bis Montag.