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Erstes Kapitel

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Erzählt von schweißnassen Muskelbergen, einer Bestie und einer gesetzestreuen Nervensäge, die sich nicht an die Spielregeln hält. Ich habe Angst vor Tollwut und will keine Krankenvertretung. Ein ausgeheilter Fersensporn führt zu einer grausigen Entdeckung, eine Botin ohne Flügelschuhe überbringt pressfrische Nachrichten und der Fischer Xaverl erledigt Hausmeisterarbeiten in Endlosschleife.

Das Klimpern von Liebeskugeln in einem Hintern: unvergesslich.

Diese akustische Erfahrung verdanke ich einer freundlichen Feinkostverkäuferin. Mit zusammengekniffenen Pobacken ist sie in unsere Praxis gekommen, weil sie die Kugeln alleine nicht mehr herausziehen konnte. Sicherheitsband gerissen. Also metallene Klong-Geräusche bei jedem Schritt. Peinlich. Ein Notfall, hat die Frau Doktor gesagt. Die Kugeln müssen raus, egal wie. Was an einer schweren Klimbim-Kette im Enddarm erotisch sein soll, das hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Jedenfalls haben wir alles wieder ans Tageslicht befördert und die Patientin um gut ein Kilo erleichtert.

Ich bin die rechte Hand der Grödiger Hausärztin. Und neben Terminvergabe und dem Beschriften von warmen Lulubechern gehört eben auch Unappetitliches zu meinen Aufgaben. Stuhlproben umfüllen, eitrige Verbände wechseln. Solche Sachen.

Auch der Rettenbacher, unser Haus-und-Hof-Hypochonder, ist fixer Bestandteil meines Arbeitsalltags. Mindestens dreimal die Woche steht er auf der Matte, und nichts zieht ihn mehr runter als die Diagnose: »Gesund!« Dann schimpft er meine Chefin eine Kurpfuscherin und entscheidet sich für eine andere tödliche Krankheit.

In solchen Momenten träume ich mich zum Bergdoktor. Martin Gruber, die eierlegende Wollmilchsau, schreckt vor nichts zurück. Ob Kopftransplantationen oder eingewachsener Zehennagel: alles easy-going. Nach 45 Minuten sind alle gesund und happy. Martin!

So eine Arbeitswoche in der Praxis lotet die Grenzen des Erträglichen aus, keine Frage. Und wenn meine Stresshormone brodeln, blubbern und Blasen werfen wie kochende Tomatensoße kurz vor dem Überlaufen, dann hilft nur mehr eines: frische Luft. Laufschuhe an, Ear-Pods rein und los! Stress abbauen. Festplatte löschen.

Vorbei an der kleinen Kapelle, wo meine Mutter mich in einem Weidenkorb ausgesetzt hat; wahrscheinlich war sie Dschungelbuch-Fan.

Der Schlossberg, ein Waldstreifen und Fürstenbrunn ziehen an mir vorbei, das Zuviel an Reihenhäusern blende ich aus. Durch die Ohrstöpsel peitscht mich Survivor mit »Eye of the tiger« über den Straßenstaub.

»Risin up, back on the street …« Unter meinen Schuhen knirscht der Kies am Ufer der Glan.

Sylvester Stallone, der Phoenix im Boxring, ist mein Trainingspartner. Stelle ich mir vor. Das Tempo steigt, jeder Muskel leistet Höchstarbeit, ich überhole Sylvester. Ich blicke kurz zurück, er zeigt mir einen Daumen hoch und bleibt stehen, um zu verschnaufen. Ein unbeschreibliches Gefühl.

Bis er mir entgegenkommt. Ausgerechnet. Gerade jetzt, im Entspannungsmodus, kann ich nichts weniger brauchen als ihn. Hubi Pechtl, selbst ernannter Dorfsheriff. Bekannt wie ein bunter Hund, beliebt wie ein Wimmerl am Arsch und in Begleitung von Hund Othello. Links: frisch gedüngte Wiese. Rechts: Glan-Bach. Selbst wenn ich wollte: Ausweichen ist unmöglich. Dann eben weiterlaufen, lächeln, ihn vielleicht sogar ignorieren.

Der Pechtl ist kein schlurfender Nordic Walker, sondern ein weißhaariges Laufwunder. Mit 79. Seine neonfarbene Funktionskleidung hebt sich grell von der Landschaft ab. Ich nicke ihm kurz zu und will schnell weiter. Er nicht.

»Na, Trainingsrunde?«

»Mhm.« Genug geplaudert, finde ich. Er nicht.

»Die Thujenhecke, die Ihr Mann geschnitten hat, muss nachfaconiert werden.«

»Warum das?« Ich stemme meine Arme auf die Knie und keuche. Was, zur Hölle, geht ihn unsere Hecke an? Und überhaupt: Stalkt er uns?

»Sie ragt auf den Gehsteig hinaus. Der Gehweg ist jetzt um fünf Zentimeter schmäler.«

So ist es immer mit dem Pechtl: Er misst, kontrolliert und gschaftelt, was das Zeug hält. Er zeigt an, schreibt böse Briefe und spioniert aus. Er nimmt sich überall dort wichtig, wo es ihn nichts angeht. Wann immer er kann, macht er seinen Mitmenschen das Leben schwer. Meistens erfolgreich, immer mit großer Freude.

Aber nicht mit mir. Ich bin beherrscht genug, um ihn nicht in die Glan zu schubsen.

»Unsere Thujen gehen Sie einen Scheißdreck an!«, fauche ich stattdessen.

»Na, na, liebe Frau Dorn …!« Oberlehrerhaftes Kopfschütteln, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall. »Im Zentrum meiner Interessen steht einzig und allein das Wohl unserer Gemeindebürger! Die vorgeschriebene Breite eines Gehsteiges muss eingehalten werden.« Sein Grinsen ist eher Zähnefletschen als Freundlichkeit. Jede Sekunde mit dem Pechtl ist vergeudete Lebenszeit, daher endet dieses Gespräch hier und jetzt, basta!

Sylvester trabt ungeduldig neben mir auf der Stelle. Mit Blick auf den hässlichen Othello setze ich zum ersten Laufschritt an. »Nicht zu fassen …«

Und an dieser Stelle übernimmt der Hund das Ruder: Er rast auf mich zu und beißt sich in meinem Wadl fest. 42 Hundezähne in meinem rechten Bein!

Ein knurrender Höllenhund, der mit eisernem Kiefer an mir hängt und den Kopf hin und her reißt! Die ersten Schrecksekunden ist mein Gehirn im Stand-by-Modus, dann schreie ich. Ich schreie meinen Schmerz, meine Wut über den Pechtl und den Ekel über die gelben Hundezähne in die Welt hinaus.

»Jetzt tun Sie doch was!«

Der Pechtl hebt nur ratlos die schmächtigen Schultern. »Sie haben ›FASS‹ gesagt. Das hat der Othello wohl falsch verstanden!«

Schmerz, Entsetzen und … Bin ich im falschen Film? Alles, was dem Pechtl einfällt, ist Psychologen-Gefasel, während sein Hund sich durch meine Haut und Muskeln in Richtung Knochen arbeitet? Jetzt greift der Pechtl auch noch beherzt nach dem Hundehalsband und zerrt dran. Aber anstatt den Hund von mir wegzureißen, steigert er nur meine Schmerzen, was mich beinahe in die Ohnmacht treibt. Schließlich holt er aus und versetzt seinem Othello einen Tritt in die Flanke, dass der nur so jault. Und siehe da: Maul auf, Bein frei. Endlich.

Das sabbernde Hundsviech steht knurrend und schnaufend neben seinem Besitzer und leckt sich das blutige Maul. Ich schaue an mir herunter: Der Haxen ist zerbissen und zerfleischt, die Leggings hängen nur mehr in Fetzen weg. Von den pochenden Schmerzen einmal abgesehen.

Für den Heimweg brauche ich ein Transportmittel, so viel steht fest. Ich fische mit zittrigen Fingern das Handy aus der Laufjacke und rufe meinen Mann an. So gut es eben geht, wenn einem vor Schmerzen die Zähne klappern, informiere ich ihn im Telegrammstil über das Nötigste.

Er verspricht, in fünf Minuten bei mir zu sein, und legt auf. Der Pechtl bleibt pflichtschuldigst stehen, allerdings ist seine Anwesenheit eher dekorativ als sinnvoll. Seiner Verantwortung als Hundehalter ist er sich nicht bewusst, finde ich. Jedenfalls nicht in angemessener Art und Weise. Wenigstens ein herzhaftes »Pfui« in Richtung Othello hätte ich mir erwartet. Falsch. Ganz falsch. Der Pechtl krault seinem Vierbeiner Rücken und Ohren, liebevoll und wie zum Trost. Irgendetwas murmelt er dem Hund ins Ohr. Ein Lob? Das Versprechen auf ein Leckerli? Oder Anti-Aggressions-Globuli?

Ich entdecke eine Art Peilsender auf Othellos Halsband. Es blinkt und piepst leise; wie ein Smartphone, nur kleiner.

»Was ist das?«, frage ich genervt und nur, um mich vom Schmerz abzulenken.

»Ein Dogtracker. Damit misst man Strecke, Geschwindigkeit und Kalorienverbrauch des Hundes«, klugscheißt der Pechtl.

Jede weitere Konversation erübrigt sich Gott sei Dank, denn mein Mann rast in unserer Familienkutsche auf mich zu und bremst mit quietschenden Reifen auf dem Kies.

»Sie hören von uns!«, knurrt er den Pechtl an und öffnet die Beifahrertür. Ich lasse Klugscheißer und Höllenbestie links liegen und plumpse erschöpft auf den Beifahrersitz.

Eine Stunde und viel Wunddesinfektion später in der Allgemeinpraxis meiner Chefin, Frau Doktor Fleischer. Fleischer. Der Name passt so gar nicht zu dieser fürsorglichen und feinfühligen Person. Bei Fleischer denkt man an scharfes Werkzeug, Kühlvitrinen, Kettenhemden, Gemetzel und Wadschinken.

»Gott sei Dank ist der Knochen unverletzt.« Sie tupft ein letztes Mal mit dem jodgetränkten Wattebausch über die Wunde.

»Hat sich anders angefühlt.«

Sie schüttelt den Kopf und lächelt. Dann klärt sie mich noch über den Verlauf einer möglichen Tollwuterkrankung auf. Drei bis acht Wochen Inkubationszeit, drei Stadien des Krankheitsverlaufs: zuerst Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Fieber. Dann verkrampfte Schlundmuskulatur, rinnender Speichel. Schließlich das Finale grande in Form von Lähmungserscheinungen und Koma.

»Ist die Tollwut erst einmal ausgebrochen, endet sie tödlich«, plaudert meine Chefin, roh wie ein Metzgerhund. Angstbedingt steigt mein Puls und ich schwitze.

»Jetzt mach dir nicht gleich ins Hemd, Rosmarie! Der Pechtl ist ein Paragrafenreiter; der hat seinen Hund sicher gegen Tollwut impfen lassen, da passiert schon nichts!«

»Ihr Wort in Gottes Gehörgang«, murmele ich tapfer.

Meine Chefin duzt mich, aber ich sage immer noch »Sie« zu ihr. Hat sich mit der Zeit so eingebürgert und ist für uns beide in Ordnung. Wie bei SOKO Kitzbühel, wo Gräfin Schönberg und Haubenkoch Hannes seit Ewigkeiten ein Liebespaar sind und sich immer noch siezen.

»Der Pechtl ist vor allem eines: ein selbstgefälliges Arschloch. Nicht einmal entschuldigt hat er sich für seine Bestie!«

Frau Doktor Fleischer schnauft. »Er ist … wie soll ich sagen … nicht unbedingt ein Gewinn für die Gemeinde.« Diplomatisch ist sie, die Frau Doktor, das muss man ihr lassen. Über Patienten herziehen: ein No-Go! Trotz ihrer negativen Erfahrungen mit dem Pechtl.

Voriges Jahr zum Beispiel, hat er ihre Praxisräume einem Hygienecheck unterzogen. Er ist allen Ernstes über den Boden gekrochen, um Staub zu sammeln. Die Proben hat er in einem Labor untersuchen lassen. Ein anderes Mal hat er mitten im Wartezimmer, quasi vor versammelter Kundschaft, die Patientenfrequenz pro Tag berechnet und darauf hingewiesen, dass zu wenig Sitzgelegenheiten zur Verfügung stünden. Auch am Stift, mit dem die Pieselbecher bei der Abgabe von Urinproben beschriftet werden, hat er was auszusetzen gehabt. Weil der Schreiber nicht wasserfest war und somit Proben leicht verwechselt werden könnten, wenn die Schrift auf dem Becher verwischt. Die Frau Doktor hat sich aber von all der Pechtl-Schlaumeierei nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ich an ihrer Stelle hätte dem Pechtl empfohlen, sich eine andere Allgemeinärztin zu suchen. Aber da ist meine Chefin tough. Man geht Problemen nicht aus dem Weg, man geht sie an, ist ihr Grundsatz. Also hat sie die Putzfrau gewechselt, drei Stühle mehr ins Wartezimmer gestellt und einen wasserfesten Edding zu den Pieselbechern gelegt. Solche Wichtigtuer gibt es immer, sagt sie. Ist es nicht der Pechtl, dann eben ein anderer.

Die Wunde ist versorgt; meine Chefin rollt schweigend den restlichen Verband auf und fixiert ihn mit einer Klemme. Irgendwas liegt ihr auf der Zunge, das merk ich genau. Wie eine Henne kurz vor dem Eierlegen druckst sie herum, nimmt Anlauf und lässt es dann doch wieder.

»Bei einigen Herzinfarkten, die ich im Lauf der letzten Jahre hier in der Gemeinde miterlebt habe, war er … wie soll ich sagen?«

»Der Auslöser?«, souffliere ich. Sie schüttelt den Kopf und sucht nach einer entschärfteren Formulierung.

»Sagen wir so: Er ist im Leben der Betroffenen öfter aufgetaucht, als es denen gutgetan hat.«

»Soll heißen?«

»Bei Bluthochdruckpatienten fehlt oft nicht viel zum Infarkt. Jede zusätzliche psychische Belastung oder Aufregung kann sich extrem negativ auswirken; das können auch Personen sein.« Sie wickelt weiter und meidet meinen Blick. »Wie der Pechtl.« Schweigen. Ich starre auf mein verbundenes Bein und grüble über die Hauptrollen der letzten Begräbnisse. So sehr die Frau Doktor auch um den heißen Brei herumredet: Der Pechtl hat ein paar Leute ins Grab gebracht. Indirekt, aber trotzdem.

Seit seiner Pensionierung nimmt er sich als Dorfsheriff wichtig. Er sieht sich als Arm des Gesetzes, als Clint Eastwood vom Untersberg.

Ein über den Zaun wucherndes Asterl, ein schlecht gesichertes Baustellengerüst, ein unbeleuchtetes Fluchtwegschild: Pechtl-Superman kommt angedüst und gschaftelt. Als ehemaliger Jurist kennt er das Gesetz, verfasst mahnende Schreiben und zeigt ungehorsame Bürger an.

Die Frau Doktor scheint meine Gedanken lesen zu können. »Der Pechtl hält seinen Gerechtigkeitssinn für gottgegeben und entschuldigt damit alles, was er anrichtet. Wahrscheinlich hat er sich seinen blöden Othello zugelegt, weil er schon so oft bedroht worden ist.«

»Echt? Von wem?«, will ich wissen. Aber die Frau Doktor steht von ihrem Stuhl auf und reißt energisch ein Blatt von ihrem Rezeptblock; Thema beendet. »Du brauchst Ruhe! Nimm dir morgen frei, die Herta springt für dich ein.«

Herta. Der ausrangierte, Pardon, pensionierte Vorzimmerdrachen. Sie war schon Arzthelferin und Sekretärin beim Vorgänger meiner Chefin, gehörte quasi zum Inventar und wurde von der Frau Doktor in Bausch und Bogen übernommen. Zusammen mit dem alten Wasserkocher, den Arzneimittelschränken und einem wackeligen Sessel aus dem Wartezimmer. Herta ist eine Schreibtischdiva der alten Schule, fast schon eine schützenswerte Art.

Wir harmonieren ungefähr so gut wie Buchsbaum und Zünsler. Also gar nicht. Nicht nur unsere Arbeitsauffassungen sind grundverschieden, auch unser Umgang mit Patienten. Herta lässt das Telefon 20-mal klingeln, bevor sie abhebt. Auch wenn sie danebensitzt. Den Zeitpunkt für das Gespräch bestimmt sie und nicht der Anrufer. Sie vergibt Termine nach einer Sympathieskala: Antipathie proportional zur Wartezeit. Irgendwann hat sich die Frau Doktor über sinkende Patientenzahlen gewundert und Fragebögen in den Wartezimmern ausgelegt. Das Ergebnis muss nicht näher erläutert werden. Jedenfalls leite ich seitdem die Geschicke am Terminkalender. Herta kommt nur mehr als Aushilfe zum Zug.

Die Anzeige, die wir nach dem Praxisbesuch noch gegen den Pechtl erstattet haben, war zeitraubend, aber nötig. Irgendwie passt das nicht zusammen, finde ich. Warum nimmt der Dorfsheriff seinen eigenen Hund nicht an die Leine? Komisch.

Das Liegen am heißen Kachelofen macht mich schläfrig und meine Augenlider schwer. Vielleicht ist es auch das Schmerzmittel, das mir die Frau Doktor verabreicht hat. Gedanklich bin ich beim klugscheißenden Pechtl und seiner Bestie. Vielleicht hat er den Hund normalerweise angeleint, ihn aber aus irgendeinem Grund frei laufen lassen. War ich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Ausgelöst hat den Biss jedenfalls das falsche Wort. Othello hat es als Kommando aufgefasst und sofort befolgt. Ich versuche mich zu erinnern, ob der Pechtl überhaupt eine Leine gehalten hat … War sie um seine Hüfte geknotet, damit sie ihn beim Laufen nicht stört? Oder über seine Schulter gehängt …? Nein. Sieg der Schwerkraft über meine Augenlider. Und dann, kurz bevor der Gedankenstrudel mich in den Schlaf reißt, habe ich eine göttliche Erscheinung: meine Schwiegermutter.

Niemand wird seinem Namen gerechter als sie. Hermine. Weiblicher Hermes. Also die Götterbotin. Die den Sterblichen Nachrichten überbringt. Und im Überbringen von Botschaften ist Hermi unschlagbar. Top informiert und schneller als das Licht, genau wie der Kollege mit den Flügelschuhen.

»Der Fischer Xaverl ist mir hinter dem Schlossberg begegnet.«

»Das ist nichts Neues, Oma.« Um meine älteste Tochter Susi zu beeindrucken, braucht’s mehr als den Fischer Xaverl. Der sympathische Mittsiebziger mit der roten Jacke absolviert täglich seine Runde um den Glanegger Schlossberg. Genau wie Hermi. Und das schon seit Jahren, nur in entgegengesetzter Richtung zu meiner SchwiMu. Am Kreuzungspunkt, also beim Aufeinandertreffen der beiden, kommt es zum wortreichen Nachrichtenaustausch, ebenfalls seit Jahren. So gesehen ist der tägliche Spaziergang für beide eine Bereicherung.

Den Einwand ihrer Enkelin ignoriert meine Schwiegermutter komplett. Sie setzt sich zu mir auf die Ofenbank und wartet, bis die Blicke aller Familienmitglieder auf sie gerichtet sind. Und dann … Showtime!

»Was mir der Xaverl erzählt hat, ist was Neues! Es gibt eine Leiche! In Fürstenbrunn!«

»Geh!« Laurenz winkt verächtlich ab und verschwindet in der Küche. Ende der Aufmerksamkeit.

Hermi lässt sich nicht beirren. »Doch! Am Glan-Ufer, kurz vor der Grenze zu Wals. In der Nähe der Autobahn.« Dann dreht sie sich zu mir um. »Deine Laufstrecke, oder?«

Ich nicke zwar, aber an eine Leiche in Fürstenbrunn kann auch ich nicht recht glauben. Leichen kennt man vom Fernsehen, aus Kriminalromanen, aus der Zeitung. Salzburg ist nicht unbedingt ein krimineller Hotspot, muss man wissen. Umso weniger das beschauliche Fürstenbrunn, wo sich Wohnblocks und Reihenhäuser aneinanderquetschen, wo die Winter schattig und die Grundstücke teuer sind. Wo der Kirchenchor veraltet und der Ausländeranteil niedrig ist. Wo man sich bei der Mutter-Kind-Gruppe, beim Seilziehen oder beim Adventkranzbinden trifft. Wo auf den Maibaum gekraxelt, Fastensuppe ausgeschenkt und Wettbewerbe im Gummistiefel-Weitschmeißen abgehalten werden. Hier soll eine Leiche liegen?

»Und woher weiß der Xaverl das?«, hakt Susi nach.

Hermi lässt sich nicht stressen, sondern zuckt gelassen mit den Schultern. »Er hat halt wieder seine Runde gedreht. Und während unseres ›Nachrichten-Updates‹ sind die Polizei und der Leichenwagen an uns vorbeigefahren.«

Also ist es doch nicht nur leeres Gefasel? Plötzlich bin ich hellwach, meine Müdigkeit hat sich verzogen. Ein Leichenwagen fährt schließlich nicht grundlos in Fürstenbrunn spazieren.

»Der Xaverl ist jeden Tag zur selben Zeit unterwegs. Er hat’s mit dem Herzen, drum hat ihm die Frau Doktor Fleischer Bewegung an der frischen Luft verordnet. Wenn er sich nicht jeden Tag bewegt, liegt er bald ein paar Meter tiefer, hat sie gesagt. Er soll sich etwas suchen, was ihm Spaß macht, aber nichts Anstrengendes.« Dann zählt sie uns sämtliche Freiluftsportarten auf, die der Xaverl nicht ausüben kann: Mountainbiken, Fußball, Tennis, Rudern, Klettern, Skifahren.

»Sex«, flüstert sie geheimnisvoll und schaut in die Runde, aber das erwartete Interesse unsererseits bleibt aus. Einen rotgesichtigen Xaverl, der mit künstlichem Hüftgelenk mühsam auf seiner Partnerin vor- und zurückschaukelt und sich im Augenblick höchster Ekstase schmerzerfüllt an die Brust greift, will sich keiner von uns vorstellen. Also kehrt sie zum eigentlichen Thema zurück.

»Der Xaverl ist ein Sparmeister. Also hat er sich fürs Spazierengehen entschieden: Das kostet nix und tut ihm gut. Wobei … in letzter Zeit hat ihm sein Fersensporn ganz schön zu schaffen gemacht.«

»Keine Sau interessiert sich für den Fersensporn vom Xaverl!« Der Geduldsfaden meines Mannes ist heute extradünn, sein Ton gereizt. Schuld daran sind die Pläne für einen Neubau, die er heute noch fertigzeichnen sollte; der Laurenz ist Architekt und massiv unter Zeitdruck. »Du hast was von einer Leiche gesagt!«

»Aber genau wegen dem Fersensporn hat der Xaverl ja die Leiche entdeckt! Heute, zum ersten Mal seit einem halben Jahr, hat er wieder den großen Rundweg geschafft!«, rechtfertigt sich Hermi.

»Der Xaverl hat die Leiche gefunden?« Ich bin platt. »Und das hat sein Herz verkraftet?«

»Geh, wegen dem bisserl Blut! So ein Weichei ist er auch wieder nicht. Er wollte sogar noch Erste Hilfe leisten, aber der Tote …«

»Also eine männliche Leiche?«, fragt Susi. Hermi nickt zufrieden. Jetzt endlich hat sie uns da, wo sie uns haben will: Es ist mucksmäuschenstill, alle hängen an ihren Lippen und warten gebannt auf Fortsetzung. Meine Schwiegermutter holt tief Luft, um die Spannung nicht durch unnötige Atempausen zunichtezumachen. Aber Laurenz nimmt ihr den Wind aus den Segeln.

»Mama, ist dir bewusst, dass du mit deinem Getratsche vielleicht sogar Polizeiarbeit behinderst? Womöglich suchen die schon nach einem Mörder, und du bringst Insider-Infos in die Nachrichtenumlaufbahn.«

»Geh, jetzt hörst aber auf!«, ist Hermi entrüstet. Sie schaut trotzig und verschränkt die Arme unter der Brust, wobei sie selbige hochhebt. »Was soll denn da hinderlich sein? Ich sag ja nur weiter, was ich selber erfahren habe!«

»Eben.« Laurenz kennt das Stille-Post-Spiel seiner Mutter nur zu gut. Am Ende kommt immer etwas anderes heraus als das, womit es angefangen hat.

»Alles, was ich weiß, hat mir der Xaverl selber gesagt. Meine Informationen sind aus erster Hand, quasi pressfrisch. Schließlich hat ja er die Leiche gefunden und nicht die Polizei. Und überhaupt: Mörder! Wer sagt denn, dass das kein natürlicher Tod war, ha? Nur weil der arme Kerl einen zerdepschten Hinterkopf gehabt hat. Und selbst wenn’s ein Mord war: Kommunikation hilft mehr, als dass sie schadet, das sag ich euch! Zuerst einmal muss man herausfinden, wer der Tote ist, und da ist jeder noch so kleine Furz an Information wichtig!«

Sie lässt uns an den ihr bekannten Informationsfürzen teilhaben: der Tote, entdeckt vom Fischer Xaverl, war ein muskulöser Kerl, noch ganz jung. Ewig schad um ihn. Weder Hermi noch Xaverl haben ihn zuvor irgendwo gesehen. Bekleidet mit Jeans und T-Shirt, auf dem ein komischer Schriftzug war. Abgearbeitete Hände, auffallend große Füße. Für den eingeschlagenen Schädel hat Hermi bereits eine Theorie: »Der ist sicher gestolpert und ganz blöd gefallen.« Sonnenklar, Fall gelöst. Zumindest, wenn es nach meiner Schwiegermutter geht.

»Im Fernsehen machen sie doch auch nichts anderes. Wie heißt die Sendung, wo man anrufen kann, wenn man sich an irgendwas erinnert …?«

»Aktenzeichen XY.«

»Genau.« Hermi nickt meinem Sohn Max dankbar zu. »Also bei Aktenzeichen XY, da ist jeder Hinweis wichtig! Mithilfe dringend erbeten!« Sie reckt ihrem Sohn triumphierend das Kinn entgegen. Laurenz kapituliert und verzieht sich zu seinen Plänen. Hermi senkt die Stimme und blickt verschwörerisch in die Runde. Jetzt rückt sie mit den grausigen Details heraus.

»Nur das Gesicht, das hat schon sehr unappetitlich ausgeschaut, sagt der Xaverl. Fast so, als ob der arme Kerl in einen Reißwolf gekommen wär.«

»Aber dann hättest du ihn ja sowieso nicht erkannt, selbst wenn du ihm vorher schon einmal begegnet wärst?« Susis Logik: unschlagbar.

»Geh!« Über solch unwichtige Details setzt sich die Hermi hinweg. Und dann fängt sie noch einmal von vorn an mit ihrer Geschichte. Haarklein und ganz von Anfang an erzählt sie, dass der Fischer Xaverl heut Nachmittag, ungefähr um halb vier, im Gebiet zwischen Fürstenbrunn und Wals einen Toten gefunden hat.

Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Meine Träume sind ein irrer Mix aus meiner eigenen Vergangenheit und Hermis Erzählungen. Alle Gärten, Straßen und Wiesen sind bedeckt mit Bergen von buntem Herbstlaub. Kniehohe Fluten aus knisternden Blättern in Gelb, Grellorange und Blutrot, die der Fischer Xaverl im Gutshof Glanegg mit einem alten Reisigbesen zusammenkehrt. Er steht mit seiner roten Jacke mutterseelenallein im riesigen Hof der Meierei und arbeitet sich durch das Laub. Aber sobald er einen Haufen fertig hat, kommt ein Windstoß und wirbelt alles wieder durcheinander. Ich fahre mit dem Rad durch die komplett in Laub versunkene Rotbuchenallee, auf dem Gepäckträger einen Laubsauger. Wahrscheinlich, um dem Xaverl zu helfen bei seiner Sisyphusarbeit. An der Glanegger Schlosskapelle mache ich eine Vollbremsung und springe vom Rad. Irgendetwas steht auf der obersten Stufe am Eingang zur Kapelle, unmittelbar vor der schweren Holztür. Ich laufe hin. Es ist ein Weidenkörbchen, aus dem leises Wimmern zu hören ist. Das Körbchen ruckelt auf den schmalen Steinstufen gefährlich hin und her, nur ein paar Zentimeter von der Kante der obersten Stufe entfernt. Wenn ich es nicht festhalte, wird es hinunterpurzeln. Ich beeile mich, will die Stufen hinaufspringen und das wimmernde Etwas retten. Aber so sehr ich mich anstrenge, ich klebe an der untersten Stufe fest. Es gelingt mir nicht, weiter hinaufzukommen. Aus dem kläglichen Wimmern wird ein Schreien. Zuerst energisch, dann wütend. Ich strecke die Arme aus, will nach dem Körbchen greifen, erreiche es aber nicht. Das Schreien und Zappeln wird immer wilder, das Körbchen nähert sich gefährlich der Kante und kippt schließlich. Ich schreie aus voller Lunge und strecke mich nach oben. Mit den Fingerspitzen kann ich den Rand des Körbchens ertasten, es aber nicht mehr retten. Schließlich purzelt es die steinernen Stufen hinunter. In diesem Moment erscheint der Pechtl. Er kommt aus der Kapelle und putzt sich mit einem blutigen Messer die Fingernägel aus. Ich schreie immer noch, worauf der Fischer Xaverl mit seinem Reisigbesen in Zeitlupe zu mir herschlurft. Das alles, während das Weidenkörbchen im freien Fall ist. Es überschlägt sich ein paarmal, knackst, als ob es auseinanderbrechen würde, und bleibt vor meinen Füßen liegen. Ich beuge mich darüber und erstarre. Denn in die blütenweiße Tuchent mit Spitzenbesatz ist kein Neugeborenes gebettet, sondern ein abgetrennter Männerkopf mit blutigem Gesicht. Der Fischer Xaverl zuckt mit den Schultern und kehrt wortlos einen riesigen Haufen Laub über das schreiende Gesicht.

Salzburger Rippenstich

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