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Keren, 11. Februar 2020

Wie schon vor ein paar Tagen festgestellt, ist der einzige echte Nachteil meiner derzeitigen gehobenen Wohnblockunterkunft ohne fließendes Wasser die Tatsache, dass man morgens um fünf oder sechs Uhr ohne eigenes Fortbewegungsmittel nicht von dort wegkommt. Es dauert entsprechend erneut eine ganze Weile, bis diesmal ein ‚contrac‘ Taxi aufgetan ist, das mich zu dem Busbahnhof bringt, von dem aus die Busse Richtung Keren abfahren. _

Große politische Leitsätze behandelt der eritreische Präsident in seinen Ansprachen an das Volk, wie zum Beispiel letzte Woche in einer Rede anlässlich des dreißigsten Jahrestages der Befreiung von Massawa. Sie wurde zum Auftakt der Feierlichkeiten Freitag abends im Radio übertragen und ohne das Geringste zu verstehen, hatte ich einer ersten Partie dieser Rede im Bus auf der Rückfahrt nach Asmara zugehört, einen weiteren Abschnitt später am Abend im Sammeltaxi Richtung Wohnung und den Rest über meine dortigen Nachbarn mitbekommen, die sämtlich ihre Radios eingeschaltet hatten und ihrem Präsidenten lauschten.

Offenbar ist man nach der Übertragung einer Präsidentenansprache im ganzen Land tagelang damit beschäftigt, konkrete Anhaltspunkte aus diesen Botschaften heraus zu analysieren und alle dazu Befragten beschreiben seinen Redestil als wolkig und wenig konkret. In der aktuellen Ansprache – so haben mir Gesprächspartner inzwischen übereinstimmend erklärt – deklinierte er, nicht zum ersten Mal, sämtliche außenpolitischen Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarländern und dem Rest der Welt durch. Er erklärte dabei nächste oder geplante Schritte der Zusammenarbeit oder aber auch, warum es Maßnahmen zum Aufbau einer solchen Zusammenarbeit nicht gebe. Abgesehen davon blieben seine Aussagen aber anscheinend eher vage. Jüngere Eritreer bemängelten außerdem im Nachgang, dass sie von ihrem Präsidenten keine allgemeine Betrachtungen und Philosophien über das Leben hören wollen, sondern konkrete politische Pläne, Entscheidungen und Aktionen von ihm erwarten. Es scheint fast, als prallen hier Lebens-, Erfahrungs- und vielleicht auch Alterswelten aufeinander, die sich gegenseitig kaum mehr verstehen können.

Auf der Taxifahrt zum Busbahnhof höre ich die Rede des Präsidenten vom vergangenen Wochenende erneut und der Fahrer bestätigt, dass ihre Übertragung über Tage mehrfach wiederholt wird. Vielleicht um sicherzustellen, dass wirklich alle Bewohner des Landes sie mitbekommen? Und er, der Fahrer, bestätigt auch noch einmal, dass in dieser Rede keine der auch von ihm heiß ersehnten Erleichterungen des täglichen Lebens angekündigt wurden. _

Der Andrang an der Bushaltestelle Richtung Keren ist gemäßigt, entsprechend braucht es diesmal keine Filzstiftmarkierung auf den Handrücken der Passagiere und gegen viertel nach sieben rumpelt der Bus von dem Sandplatz, der, von etlichen Verkaufsbretterbuden umgeben, als zentrale An- und Abfahrtstelle gen Norden dient. Vor Reisebeginn sind noch Hundertschaften fliegender Händler durch den schmalen Gang des Busses gezogen und haben alles zum Kauf angeboten, was üblicherweise auf so einer Fahrt irgendwann benötigt werden könnte. Erstmalig im Angebot sind allerdings diesmal gebrauchte kleine schwarze Mobiltelefone, wie man sie vor dem flächendeckenden Siegeszug der Smartphones auch bei


Straßenszene in Keren

uns kannte. Die Fahrt nach Keren führt über eine einspurig geteerte löchrige Straße und durch verschiedene Vegetationszonen während man zugleich viele hundert Meter Höhenunterschied überwindet. Dichterer Baumbestand wechselt mit trockenen Böden, bessere Straßenabschnitte mit Schlaglochpisten, die zu einer maximalen Fahrgeschwindigkeit von vielleicht dreißig Stundenkilometern nötigen. Die Entfernung zwischen Asmara und Keren beträgt sechzig oder neunzig Kilometer, je nachdem in welcher Quelle man die Information recherchiert. Beides sind beileibe keine gigantischen Distanzen, aber trotzdem braucht der Bus mehr als drei Stunden, bis er kurz vor halb elf Keren erreicht.

Auch bei der Anzahl der Einwohner von Keren können sich die diversen Nachschlagewerke nicht einigen und geben die Gesamtzahl der Bevölkerung mit entweder fünfunddreißig- oder siebzigtausend Menschen an. Einig ist man sich im Gegensatz dazu, dass die Stadt stark von einer muslimischen Mehrheit geprägt ist und diesen Eindruck kann ich nach einem ausgiebigen Stadtbummel nur bestätigen. Überall begegnen dem Besucher Männer in blütenweißen, knöchellangen Gewändern, während die Frauen in den verschiedenen Abstufungen muslimischer Kleidung bis hin zur Vollverschleierung in der Hitze unterwegs sind. Auffallend auch der Bekleidungsunterschied bei den Schulkindern. Wie überall im Land gibt es in Keren Schuluniformen. Während in Asmara aber Jungen und Mädchen quasi Unisex die gleichen Hosen und Blusen tragen, stecken die kleinen Mädchen hier in bodenlangen Abayas mit fest unter dem Kinn zugebundenem Kopftuch. Und auch das Verhalten Fremden gegenüber ist deutlich weniger entspannt und vorbehaltlos, wie man es zum Beispiel in Asmara erlebt. Jungs rufen mir hier öfter etwas hinterher, Männer mustern


Schulmädchen in Keren

die allein und unverschleiert umherwandernde Frau mit einer gewissen Respektlosigkeit und die einheimischen Frauen fremdeln ob der vergleichsweise wenigen Bekleidung. _

Während der Kolonialzeit erbauten die Italiener in Keren neben vielen Wohnhäusern auch ein hübsches Bahnhofsgebäude, da 1922 zwischen Asmara und Keren Schienen verlegt worden waren und sie zwischen den beiden Städten seitdem vor allem landwirtschaftliche Güter transportierten. Diese Bahnlinie wurde während der eritreischen Befreiungskämpfe zerstört und seitdem nicht wieder instand gesetzt.

Die Stadt selbst wurde während des zweiten Weltkriegs zum Wendepunkt der italienischen Kolonialherrschaft, als britische Truppen unter der Führung General Platts vom Sudan aus hierher vordrangen und das italienische Heer vernichtend schlugen. Vierundfünfzig Tage dauerte der Kampf und kostete rund dreitausendzweihundert Italiener, neuntausend Askari und vierhundertvierzig Briten das Leben. Der Ausgang dieser Schlacht war der Anfang vom Ende des italienischen Kolonialabenteuers und mündete in dessen Kapitulation, in deren Folge die britischen Verbände nahezu ohne weitere Gefechte ganz Eritrea einnehmen konnten. Briten und Italiener legten im Nachgang zu den Kämpfen in Keren Militärfriedhöfe für ihre gefallenen Soldaten an, auf dem italienischen Friedhof sind zudem mehrere Hundert namenslose Askaris beerdigt.

Den strategischen Wert der Stadt als Teil des nördlichen Zugangs nach Asmara und ihrer Verbindungsstrasse Richtung Agordat und dem umliegenden Tiefland erkannten Jahre später auch die äthiopischen Besatzer und errichteten hier einen Stützpunkt, der sechsunddreißig Jahre nach den militärischen

Auseinandersetzungen zwischen Briten und Italienern im Juli 1977 von der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) zerstört wurde. _

Ungeachtet der schon seit der vorletzten Jahrhundertwende hier lebenden muslimischen Bevölkerungsmehrheit oder vielleicht gerade deswegen, errichtete die katholische Kirche im Windschatten der italienischen Kolonialbestrebungen 1920 eine Kirche – Sankt Antonius – deren kleine Gemeinde bis heute fortbesteht. Betreut wird sie aktuell von fünf Franziskanermönchen, die als Splitter des insgesamt einhundertfünfzig Männer starken eritreischen Ablegers dieser Glaubensgemeinschaft in Keren die Stellung halten. Einer der Brüder zeigt mir sowohl das ursprüngliche Kirchengebäude als auch den 2006 eingeweihten größeren Neubau. Er erzählt unter anderem auch, dass die Altersgrenze für Reisen ins Ausland auch für Geistliche bei fünfzig Jahren liege und er deswegen noch nie in Italien, respektive in Rom und dem Vatikan gewesen sei.

Nahe der Kirche wohnen in einer großartigen ehemaligen italienischen Villa, deren sämtliche Türen weit offen stehen und die meisten Fenster keine Scheiben mehr haben, eine Reihe von Migranten aus dem Sudan. Lauter junge Männer, die sich zu je viert, fünft oder sechst ein paar karge Zimmer teilen, welche außer einem Bett für jeden von ihnen, kein Mobiliar aufweisen. Keiner von den dreien, die ich mittags in dem Gebäude antreffe, spricht ein Wort Englisch. Entsprechend ist nicht herauszubekommen, warum sie hier sind und was sie hier machen. _

Keren ist unter anderem eine Hochburg der eritreischen Goldschmiedekunst und beherbergt daher unter anderem mehrere Straßen, in denen sich Juweliergeschäft an Juweliergeschäft reiht. Neben wenigen modernen Schmuckvariationen werden überwiegend neue, aber traditionell designte Stücke für Kopf, Haar, Stirn, Ohren, Hals und Finger angeboten. Ein ausführlicheres Gespräch mit einem der dort arbeitenden Männer offenbart, dass die Händler alten Silberschmuck vornehmlich von der ländlichen Bevölkerung aufkaufen und einschmelzen, um so Material für neue Arbeiten zu bekommen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wieviel tribales Kulturgut auf diese Weise schon vernichtet wurde und beschließe ab sofort per Ankauf das ein oder andere Stück vor dem Tod im Schmelztiegel zu bewahren. —

ERITREA

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