Читать книгу Entgleist - Katharina Glück - Страница 4
ОглавлениеKAPITEL EINS
An einem sonnigen Mittwochnachmittag, genauer gesagt um 16 Uhr 42, legte Heinrich Knopp sich auf die ICE-Trasse, die durch das Wäldchen hinter seinem Haus verlief, und wartete auf den ICE 74. Er hatte sich ein kleines Sofakissen mitgebracht, um seinen Nacken zu schonen. Immerhin konnte es trotz aller Vorbereitung zu Veränderungen im Fahrplanablauf kommen, und er wollte keinesfalls mit einem steifen Nacken sterben. Er hatte sich eine besonders dunkle Stelle ausgesucht, hohe Eichen zu beiden Seiten der Trasse, ausladende Brombeersträucher. Heinrich war ebenfalls dunkel gekleidet, hatte sich genau hinter die sanfte Kurve gelegt, die die Schienen hier machten. Auch deswegen hatte er den ICE 74 gewählt: Es wurde langsam Abend, die Sonne neigte sich jetzt im frühen Herbst schon dem Horizont entgegen. Die Bäume warfen Schatten, überall Zwielicht. Mit etwas Glück würde der Zugführer ihn gar nicht bemerken und das Rumpeln für einen Ast halten, einen Fuchs vielleicht. Im besten Fall würde er überhaupt nichts mitbekommen. Heinrich Knopp würde genau das besonders passend finden. Es schien ihm ein ehrlicher Abschluss.
Er hatte diesen Tag von langer Hand geplant, wie es seine Art war. Er überließ die Dinge ungern dem Zufall. Nach einer taktischen Überprüfung diverser Suizidmethoden hatte er sich für den Zug entschieden. Bei allem, was man gegen die Deutsche Bahn sagen konnte, Heinrich hatte sie immer imponiert. Dieses exakte Uhrwerk von Zügen, Gleisen und Weichen, die in penibler Choreografie Menschenmassen durch das ganze Land transportierten, ohne dass jemand zu Schaden kam – für Heinrich war das eine Meisterleistung. Als Kind hatte er mit seinem Vater ganze Wochenenden im Keller verbracht und kleine Modellzüge durch eine Landschaft aus Plastik und Bauschaum gleiten lassen. Sie hatten sich codierte Signale zugerufen, auf Knöpfe gedrückt, Weichen umgestellt, die Gleisansagen abwechselnd mit tiefer Stimme in die Fäuste gesprochen, sodass sie verzerrt klangen. Runde um Runde hatten die Züge durch Dörfer und Tunnel gedreht, bis Heinrichs Mutter sie irgendwann zu Tisch gerufen hatte. Die Modelleisenbahn gab es noch, sie stand jetzt in Heinrichs Keller. Aber die Züge fuhren nur noch selten.
Über Wochen hinweg hatte Heinrich Zugstrecken und Abfahrtszeiten aufgeschrieben und verglichen und sich schließlich für den Mittwoch entschieden, an dem es auf dieser Strecke nur selten zu Verspätungen kam. Dann hatte er sich unter Berücksichtigung der Sonnenuntergangszeit für ein Datum entschieden. Und dann hatte er gewartet. Jeder Tag in dieser Zeit war gewesen wie der vorherige: stummes Frühstück mit Zeitung und dünnem Kaffee, endlose Stunden im Büro, Abendessen vor dem Fernseher, Einkaufen am Samstag, Tatort am Sonntag. Heinrich betrachtete sich von außen, als nähme er selbst schon gar nicht mehr teil an seinem Leben. Der August verstrich, heiße Tage, schwüle Nächte, die Klimaanlage im Büro leistete Schwerstarbeit. Und dann wurde es endlich Herbst.
Als der Mittwoch gekommen war, den Heinrich sich ausgesucht hatte, wachte er in der Frühe auf und suchte in sich nach einer Emotion. Er war nicht traurig, nicht besorgt, nicht verzweifelt – er hatte auf die Gefühle gewartet, hatte in den vorangegangenen Wochen in sich hinein gelauscht, aber sie hatten sich nicht eingestellt. Wie an jedem anderen Morgen machte er dünnen Kaffee für sich und Susanne, lauschte dem Kratzen, mit dem sie Butter auf ihrem Toast verteilte, stellte den Fuß auf die kleine Kommode im Flur, um sich die Schuhe leichter binden zu können. Wie jeden Morgen verließ er gegen halb sieben das Haus und stieg in seinen Wagen. Er bog aus der Einfahrt, fuhr bis zur nächsten Kreuzung, doch anstatt dort wie üblich rechts abzubiegen, bog er nach links und manövrierte den Wagen rückwärts in die Mündung eines kleinen Waldwegs. Fünfzehn Minuten später sah er Susannes roten Corsa um die Ecke biegen. Er wartete noch mal fünfzehn Minuten: Es kam vor, dass sie ihr Handy oder Portemonnaie vergaß und noch mal umdrehte. Als sicher war, dass sie nicht zurückkommen würde, fuhr er zurück, stellte das Auto in die Garage und räumte das Handschuhfach auf. Dann ging er ins Haus.
An seinem Schreibtisch, einem alten Erbstück seiner Großmutter, dessen Holz jedes Jahr eine Spur dunkler wurde, verfasste er den Abschiedsbrief. Dieser Schritt fiel ihm nicht leicht, obwohl er schon seit Tagen die Formulierungen in seinem Kopf herumwälzte, neu zusammensetzte und umstrukturierte. Das Ganze auf Papier zu bringen, kostete ihn Überwindung. Er war es nicht gewohnt, sich mitzuteilen. Am Ende klang sein Brief dann auch hölzern und weniger poetisch, als er es sich gewünscht hatte. Er schrieb etwas von Sich-nicht-die-Schuld-Geben, von Angelegenheiten regeln, davon, dass er ihr das Beste wünschte. Es waren Gemeinplätze, aber schlussendlich fand er sich damit ab und klebte das Kuvert zu, schrieb in seiner krakeligen Sechstklässlerschrift den Namen seiner Frau darauf und legte ihn im Erdgeschoss auf den Esstisch.
Die nächsten Stunden verbrachte Heinrich damit, seine Kleidung in Kartons zu packen und im Arbeitszimmer zu verstauen. Er wollte Susanne diese lästige Tätigkeit nach den sicher aufwendigen Arrangements seiner Beerdigung ersparen. Sein Ableben würde ihr noch genug Scherereien verursachen. Seine Kleider, sowohl aus dem Schrank im Schlafzimmer als auch aus dem im Keller, füllten kaum zwei normale Umzugskartons.
Als er fertig war, setzte er sich im Wohnzimmer vor den Fernseher, um den Rest der Zeit zu überbrücken. Auf einem der dritten Programme fand er eine Dokumentation über die Tiefsee. Die hielt ihn anderthalb Stunden bei Laune, darauf folgte eine Viertelstunde Bundestagsdebatte, der er nicht so recht folgen konnte oder wollte, dann ein alter Western aus den 50ern. Er liebte solche Filme, schaute sie aber nie an, obwohl quasi jeden Abend einer ausgestrahlt wurde. Susanne mochte sie nicht. Dieser hier war sehr gut, er hatte ihn noch nie gesehen. Ein kerniger Lonesome Ranger verteidigte die Familie einer schlauen und vorwitzigen Schönheit gegen wild bemalte Indianer. Die Geschichte strotzte von epischen Schießereien und schwülstigen Blicken, und an ihrem Ende verliebte die Schönheit sich natürlich in den Ranger. Nichts an der Geschichte überraschte Heinrich, aber genau das war es, was er an diesen Filmen so schätzte. Die Regeln waren klar, der Ausschnitt begrenzt, und man verließ den Schauplatz immer an dem Punkt, an dem die Figuren am glücklichsten waren. Niemand wollte sehen, wie sie sich später mit fünf Kindern über das Bestellen des Maisfeldes stritten, aber Heinrich war sich sicher, dass es genauso kommen würde.
Als es endlich Zeit war aufzubrechen, nahm er nichts mit außer einem beigen Sofakissen. Er ging ohne Jacke, der Tag war warm genug. Er steckte seine Brieftasche ein, damit man ihn identifizieren können würde, klemmte sich das Kissen unter den Arm, ging hinaus, schloss die Haustür zu und ließ sein Leben hinter sich.
Bis zu dem Ort, den er sich ausgesucht hatte, war es ein mäßiger Spaziergang von etwa fünfzehn Minuten. Das Wäldchen war verlassen und er begegnete niemandem, was ihm sehr recht war. Immerhin ging er ohne Jacke und mit einem Sofakissen unter dem Arm spazieren. Langsam sank die Sonne und warf helle Strahlen durch das dichte Blattwerk. Der Anblick war schön. Heinrich fühlte sich, als würde die Welt sich noch einmal von ihrer besten Seite zeigen, um sich gebührend zu verabschieden. Insgeheim dankte er ihr. So ging er fast beschwingt durch das Wäldchen, wie ein Wanderer, der nach langer Zeit heimkehrt.
Um zu den Gleisen zu kommen, musste er sich etwa fünfhundert Meter durchs Unterholz schlagen. Als er auf der Trasse herauskam, war seine Kleidung voller Kletten. Es dauerte etwas, bis er sie alle abgeschlagen hatte, und als er plötzlich ein tiefes Grollen aus der Ferne hörte, hatte er Angst, sich in der Zeit geirrt zu haben. Kurz haderte er: Sollte er sich einfach blitzschnell hinlegen und es hinter sich bringen? Aber das war ihm dann doch etwas zu holterdiepolter, plötzlich so ein Stress, das hatte er sich anders vorgestellt. Er sprang von den Gleisen und riss seine Uhr hervor. Noch etwa zwölf Minuten. Hatte er die Uhr falsch gestellt? Er wartete und horchte auf das Grollen, das erst lauter zu werden schien, dann aber doch abflaute und schließlich ganz verschwand. Heinrich atmete tief durch. Dann stieg er wieder hinauf zu den Gleisen, legte sich hin, den Kopf auf die eine Schiene, die Beine über die andere, und schob sich das Kissen unter den Nacken. Er tat dies fast andächtig und langsam. Immerhin war es das Letzte, was er tun sollte. Und so, mit den Händen auf dem Bauch verschränkt, lag Heinrich Knopp da und wartete auf den ICE 74.
Der Himmel über ihm wurde langsam dunkler. Ein paar vereinzelte Schäfchenwolken zogen gemächlich vorbei. Eine hatte die Form eines Schmetterlings, eine andere die eines Hammers, dann veränderte sie sich und wurde zu einem Hasen. Ein Schwarm Gänse zog in V-Form vorbei. Sein Rücken begann zu schmerzen. Heinrich ärgerte sich, dass er nicht auch dafür ein Kissen oder eine Decke mitgebracht hatte. Die Schwellen waren schmaler als gedacht, und nun bohrten sich die groben Steine in seine Muskeln. Zusätzlich schliefen seine Füße ein; die Schiene, auf der seine Waden lagen, schnürte die Blutzufuhr ab. Heinrich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Es konnten zehn Minuten sein, dann würde der Zug gleich kommen, es konnte aber genauso gut eine Stunde sein. Er wollte auf seine Uhr schauen, hielt sich aber zurück. Wie schrecklich wäre es, wenn das Letzte, was er tat, auf die Uhr schauen wäre. Außerdem hatte er das Letzte, was er jemals tun sollte, schon getan, nämlich sich auf das Gleis zu legen. So hatte er es geplant, und so würde es passieren. Er blieb regungslos liegen.
Schließlich wurde ihm kalt. Die Sonne musste schon untergegangen sein, es wurde dunkel. Sein Rücken schmerzte jetzt so sehr, dass er es kaum noch aushielt, und er hörte nirgends einen Zug. Er setzte sich auf, warf einen Blick auf seine Uhr: 17 Uhr 58. Über eine Stunde. Er hatte über eine Stunde auf den Gleisen gelegen, und sein Zug war nicht gekommen, war einfach nicht aufgetaucht. Benommen blieb er sitzen. Er hatte sich nie überlegt, dass etwas schiefgehen könnte, dass er überleben würde, das war nicht Teil seines Konzepts gewesen. Für diese Situation gab es keinen Plan. Er geriet in Panik. Sollte er jetzt einfach nach Hause gehen? Susanne würde in einer halben Stunde von der Arbeit kommen. Sie würde den Brief finden. Sie würde vielleicht die Polizei rufen, sie würden ihn suchen, würden vielleicht eine ganze Hundertschaft durch das Wäldchen jagen. Und dann? Irgendwann würden sie ihn finden. Lebendig. Unversehrt! Wie peinlich! Sie würden ihn für einen Loser halten. Jemand, der es nicht schaffte, den einfachsten Suizid reibungslos über die Bühne zu bringen. Und sie hätten recht.
Heinrich sprang auf, aber seine eingeschlafenen Füße klappten unter ihm zusammen, und er schürfte sich ein Knie an den kantigen Steinen auf. Es schmerzte höllisch. Langsam richtete er sich wieder auf. Seine Fußsohlen prickelten, als liefe er auf einem Nagelbrett. Er griff sich das Sofakissen und ging, so schnell er konnte, nach Hause. Er musste vor Susanne ankommen.
Auf dem Weg begegnete ihm eine ältere Dame, die ihren übergewichtigen Pudel spazieren führte. Die Frau nahm kaum Notiz von ihm, wahrscheinlich erkannte sie im Dämmerlicht nicht, dass er ein Kissen dabeihatte und dass sein Knie durch die Hose blutete. Heinrich eilte an ihr vorbei, an den Rand des Weges gepresst und mit gesenktem Kopf, als könne sie ihm sein Scheitern ansehen. Das kurze Stück auf der Straße zu seinem Haus legte er im Laufschritt zurück. Schon aus der Entfernung sah er, dass Susannes Auto noch nicht in der Auffahrt stand. Er stürmte ins Haus, ließ das Kissen im Flur fallen und lief als Erstes ins Esszimmer. Der Brief stand an den Salzstreuer gelehnt, unberührt, Wahrzeichen einer anderen Realität, in der er jetzt ein toter Mann war. Er nahm ihn in die Hand, starrte ihn einen Moment an, ohne eine Ahnung, was er damit machen sollte. Dann faltete er ihn zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. Er sackte auf einen der Stühle und stützte den Kopf auf die Hände. Das war er also gewesen, sein Ausbruchversuch. Er konnte sich nicht erklären, was schiefgegangen war. In all den Wochen, in denen er die Züge überwacht hatte, war es maximal zu zehn Minuten Verspätung gekommen. Dass ein Zug gar nicht kam, war nie vorgekommen. Heinrich rieb sich die Augen. Er saß fest. Er hatte es versucht, hatte es wirklich versucht, aber jetzt saß er fest. Er würde hierbleiben müssen, für immer in diesem Haus, in diesem Ort, in diesem Leben. Der Ausbruch war eine Illusion, ein Hirngespinst. Er sah seine Hände an, die aussahen, wie sie immer schon ausgesehen hatten. So würde es sein: wie immer.
Dann hörte er das Auto in der Auffahrt. Der Motor ging aus. Die Tür wurde zugeschlagen, Absätze auf dem schmalen Betonweg, das Klappern der Schlüssel, das Knarzen der Haustür. Dann ein: »Heinrich? Was macht denn das Kissen hier im Flur?« Erst jetzt sprang er auf. Das Kissen. Sein Knie. Die Kartons. Er hatte sich so sehr auf den Brief konzentriert, dass er alles andere vergessen hatte. Er rannte nach oben ins Arbeitszimmer und verschloss die Tür hinter sich. Von unten hörte er Susannes Stimme: »Ich komme nach einem harten Arbeitstag nach Hause und muss quasi sofort aufräumen. Ein bisschen Ordnung könntest du auch mal schaffen.« Er öffnete einen der Kartons und griff wahllos eine Hose und ein frisches Hemd heraus. Sein Knie blutete stark, mit einem alten T-Shirt wischte er es ab. Er zog die frischen Sachen an und verstaute die schmutzigen in einer Schreibtischschublade. Susanne kam bereits die Treppe herauf, als er die Tür öffnete.
»Wieso antwortest du mir nicht?«, fragte sie und stapfte an ihm vorbei ins Badezimmer.
»Entschuldige«, sagte er und ging hinunter. Susanne hatte das Kissen wieder auf das Sofa gelegt. Er untersuchte es kurz auf Spuren seines Ausflugs, aber es war nichts zu sehen. Dann ging er in die Küche, um wie jeden Abend mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen. Als er gerade den Kühlschrank öffnete, ohne eine Ahnung, was er herausnehmen sollte, rief Susanne: »Was sind das für Kartons?«
»Ehm …«
»Da ist ja Kleidung drin.«
Heinrichs Gedanken rasten, während er festgefroren in den Kühlschrank starrte. »Altkleider«, rief er dann. Sie antwortete nicht, also glaubte sie ihm, oder es interessierte sie nicht mehr. Es herrschte einige Minuten Stille, in denen er weiter in den offenen Kühlschrank schaute, ohne wirklich etwas zu sehen. Es bedurfte einiger Kraft, sich zu konzentrieren, aber als es ihm gelang, griff er nach Käse, Butter, Aufschnitt und stellte alles auf den Küchentisch. Er kochte einen Tee, als er oben die Dusche angehen hörte. Genau zwölf Minuten später kam Susanne hinunter und sie aßen still zu Abend, während die Nachrichtensprecherin über das Elend in der Welt berichtete. Hätte jemand durchs Fenster gesehen, hätte alles so ausgesehen wie immer: Sie die gelbe Tasse, er die grüne. Sie ein Vollkornbrot mit einem Hauch Margarine und Salami, er ein Knäckebrot mit altem Gouda. Gelegentliches Schlürfen an den heißen Tassen. Nichts deutete mehr darauf hin, dass Heinrich Knopp vor wenigen Stunden beinahe sein Leben beendet hätte. Alles sah aus wie immer. In ihm tobte es.