Читать книгу Entgleist - Katharina Glück - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL DREI
Am nächsten Morgen stand Heinrich schon unter der Dusche, als Susannes Wecker klingelte. Sie stand einige Sekunden ratlos vor der transparenten Tür der Duschkabine und schaute ihm verständnislos zu, während er ungerührt seine Haare einseifte.
»Was tust du da?« Ihre Stimme war rauchig vom Schlaf, aber er konnte den Vorwurf trotzdem heraushören.
»Ich bin sofort fertig.«
Er spülte sich hastig den Rest Shampoo vom Körper, während sie sich bereits aus ihrem Pyjama schälte. Als er die Tür öffnete und auf die Badematte trat, zwängte sie sich sofort an ihm vorbei.
»Ich habe es eilig.«
Flüchtig berührte ihr Po seinen nassen Schenkel. Der leichte Druck, das Nachgeben ihrer Haut, die Schlafwärme, die noch auf ihrem Körper hing. Susannes Schultern zuckten bei der Berührung zusammen und sie zog ihre Hüfte weg wie eine Bauchtänzerin. Mit tropfenden Haaren verharrte er auf der Badematte und hielt mit der Hand die gläserne Tür. Ihm wurde bewusst, dass er Susanne seit Jahren nicht mehr nackt gesehen hatte. Natürlich waren sie nackt gewesen, hatten ab und an mal Sex gehabt, aber meist im Dunkeln und unter der Decke. Er hatte immer nur Teile von ihr gesehen: eine Brust, die Schultern, ein Bein, aber seit Jahren nicht mehr ihren ganzen Körper. Sie war alt geworden, ihre Brüste hingen, auf ihrem unteren Bauch hatte sich ein kleines Fettpölsterchen gebildet. Ob er es schön fand oder nicht, konnte er nicht sagen. Er betrachtete sie einfach, prägte sich das Bild ein, jedes Detail, bis sie ihn schließlich brüsk anfuhr.
»Darf ich, bitte?«
Er schloss die Tür, Susanne schaltete das Wasser ein, und Heinrich trocknete sich ab. Vor dem Spiegel föhnte er sein Haar und rasierte sich gründlich, während der zitronige Duft von Susannes Duschcreme den Raum erfüllte. Als er sich die Reste des Rasierschaums vom Gesicht wusch, stellte Susanne gerade das Wasser ab, trat aus der Kabine und wickelte sich sofort in ihr Handtuch.
Im Hinausgehen sagte Heinrich: »Machst du dir deinen Kaffee heute bitte selbst? Ich habe es eilig.«
Sie schaute ihn verwirrt an. »Was ist los mit dir?«
Er lächelte. »Nichts. Ich habe es nur eilig.« Er schloss die Badezimmertür, bevor sie etwas sagen konnte.
Um acht Uhr kam er im Büro an, eine halbe Stunde früher als üblich. Trotzdem war er nicht der Erste; es war Freitag und viele Mitarbeiter kamen früh, um ebenso früh ins Wochenende entfliehen zu können. Voller Elan marschierte er über den blassblauen Teppich des Flurs zu seinem Büro und grüßte jeden, an dem er vorbeikam. In seinem Büro schloss er die Tür, warf seine Aktentasche auf den Boden und setzte sich sofort an den Computer. Er hatte eine Aufgabe. Die Erkenntnis war in der vergangenen Nacht gekommen, einer weiteren schlaflosen Nacht. Er hatte wieder an die Decke gestarrt und Susannes Atem gelauscht, während Yvonnes Worte in seinem Kopf Reigen getanzt hatten. Sie wissen schon, wer es war – alles kameraüberwacht – den ganzen Bahnhof geräumt. Er hatte versucht, sich ein Gesicht vorzustellen, dem Jungen ein Äußeres zu geben, aber es war ihm nicht gelungen. Die Worte tanzten weiter, und dann hatte er verstanden. Es gab einen Grund, aus dem er noch lebte, und er musste diesen Grund kennen, ihn verstehen. Dann würde alles einen Sinn ergeben.
Er klickte sich durch die Nachrichtenseiten und suchte nach Artikeln über die Bombendrohung. Alle schrieben das gleiche: Ein anonymer Anruf habe die Sicherheitskräfte des Hannoveraner Bahnhofs dazu veranlasst, alle ein- und ausgehenden Züge zu stoppen und das Gebäude zu räumen. Wie sich jedoch herausstellte, habe es keine Bombe gegeben. Der Anruf sei von einem jungen Erwachsenen von einer Telefonzelle aus getätigt worden, der mit einer linken Organisation in Verbindung gebracht werde. Er sei dank der kürzlich installierten Kameraüberwachung schnell identifiziert und aufgegriffen worden und werde bald dem Landgericht vorgestellt. Der Bahnverkehr sei schon zum späten Mittwochabend wieder aufgenommen worden, viele Tausend Bahnfahrende hätten dennoch in ganz Niedersachsen und darüber hinaus mit erheblichen Verspätungen und Zugausfällen zu kämpfen gehabt.
Heinrich las jeden einzelnen Artikel genau durch. Es dauerte, bis er auf der Seite einer Boulevardzeitung endlich auf einen Namen stieß: Felix T. Felix. Es klang nach jemandem, der gute Noten in Mathe und Physik hatte, nach jemandem, der zu schüchtern war, um ein Mädchen zu fragen, ob sie mit ihm gehen wolle. Es klang nicht nach jemandem, der einen ganzen Bahnhof außer Gefecht setzte.
Heinrich suchte weiter. Er tippte ein paar Stichwörter bei Google ein und stöberte durch die Suchergebnisse. Erst auf der vierten Seite stieß er auf einen Kommentar in einem Forum. Der Text war kompliziert geschrieben und sprach von Dingen, die Heinrich an eine längst vergangene Zeit erinnerten: bürgerliches Aufbegehren, antikapitalistische Revolution, Arbeiterbewegung. Der Autor theoretisierte über viele Absätze darüber, ob und wie notwendig radikale Aktionen seien, und begrüßte ganz ausdrücklich, was in Hannover passiert war. Heinrich überflog den Großteil des Textes, bis er im vorletzten Absatz plötzlich aufmerksam wurde:
»Der Täter wird aus unbestätigten Quellen mit einer kleinen Hannoveraner Gruppe namens HaKom 42 in Verbindung gebracht. Früher als linksradikale Zelle mit Verbindungen zur RAF bekannt, ist die HaKom 42 heute wenig mehr als eine Gruppe junger Menschen, die gemeinsam in einem Haus wohnen und gelegentlich öffentlichkeitswirksam gegen Konsumismus und Kapitalismus demonstrieren. Wieso ein Mitglied einer so handzahmen Gruppe zu einem doch so drastischen Mittel greift, ist dem Autor schleierhaft. Vielleicht sehen wir hier ein neues Aufleben des bürgerlichen Aufbegehrens.«
Heinrich öffnete ein weiteres Browserfenster und gab »HaKom 42« in die Suchmaschine ein. Sie schienen keine eigene Webseite zu haben, aber Heinrich fand einige Artikel über frühere Aktionen der Gruppe. Im Frühjahr hatten sie vor dem Hauptsitz einer lokalen Zeitschrift ein kleines Theaterspiel veranstaltet, in dem es um die angebliche Unfreiheit der Presse ging. Im Winter davor hatten sie auf allen Weihnachtsmärkten der Stadt Flugblätter verteilt, auf denen Bilder von chinesischen Kindern beim Besticken von Weihnachtspullis zu sehen waren. Die Artikel waren meist kurz und beschränkten sich auf die wichtigsten Fakten; es wurden weder die Mitglieder noch andere Details erwähnt. Heinrich suchte weiter, durchforstete das Netz nach Aktionen bürgerlichen Aufbegehrens in Hannover in den letzten Jahren. Er fand wenig, ein paar Blogeinträge von Aktivisten, die sich meist über den Zustand der Politik ausließen, wobei sie kein verbales Klischee scheuten – zum ersten Mal seit Jahrzehnten las Heinrich Worte wie Proletariat, Arbeiterrevolution, systemimmanente Unterdrückung. Natürlich hatte er sich in seiner Jugend mit all diesen Themen auseinandergesetzt. Er hatte Marx gelesen, nicht zuletzt wegen seiner Eltern. Mit ihnen war er auf die Straße gegangen, hatte Kundgebungen besucht. Die Begriffe und Ideen waren ihm nicht neu, aber als er sie jetzt las, als er sah, dass es immer noch Menschen gab, die Großkonzerne anklagten und kommunale Projekte ins Leben riefen, kam er sich alt vor. Alt und verknöchert.
Je weiter Heinrich sich durch die Suchergebnisse klickte, desto dünner wurden die Informationen. Er hatte schon fast aufgegeben, da fiel ihm ein Eintrag auf: Runaway Hannover. Der Auszug, der als Beschreibungstext dabeistand, lautete: »… wusste ich nicht, wo ich hin sollte. Ein Freund hat mir von einem Haus erzählt, wo ein Typ junge Leute aufnimmt, die kein …«
Heinrich klickte auf den Link und gelangte auf die Startseite eines Forums. Man bat ihn, sich einzuloggen oder einen Account zu erstellen. Er versuchte, das Menü zu bedienen, aber jeder Link führte ihn zurück auf die Hauptseite. Er blickte auf die Uhr. Inzwischen war es nach elf, bald würde die Abteilungsassistentin kommen, um die Prüfberichte abzuholen, die er noch keines Blickes gewürdigt hatte. Er minimierte das Browserfenster auf seinem Bildschirm, nahm sich eine Handvoll Papiere von dem Stapel zu seiner Linken und setzte in aller Eile sein Kürzel auf die Seiten, ohne auch nur einen Satz zu lesen. Früher hatte seine Firma mal echte Medikamente geprüft, Pillen gegen Migräne, gegen kreisrunden Haarausfall, Cremes gegen Hautausschlag und Hormonmangel. Heute ging es nur noch um Marken. Die Produzenten ließen sich immer spannendere Namen einfallen für etwas, das lediglich eine neue Dosierung eines alten Medikaments war. Schmerzmittel speziell für Teenager, weil Eltern offensichtlich vergessen hatten, wie man Pillen in zwei Hälften bricht. Pillchen und Pülverchen in schicken Döschen mit einprägsamen Namen, die genau genommen niemand brauchte. Im Labor testeten sie die Zusammensetzung, und er musste entscheiden, ob ein Mittel in die Produktion gehen konnte oder nicht. Nur selten gab es Einschränkungen zu melden.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er seine Arbeit genossen. Zugegeben, als Kind hatte er von einer anderen Karriere geträumt. Auch als Teenager. Er hatte Ideale gehabt, hatte die Welt verändern wollen. Eine Art Familientradition: Seine Eltern hatten ihn mit auf die Straße genommen, als man noch Pflastersteine warf. Als die demokratische Idee einer Gleichschaltung durch die Große Koalition zum Opfer zu fallen drohte. Er hatte erst mit seinen Spielzeugautos und dann mit seinen Comicbüchern unterm Küchentisch gesessen, als seine Eltern mit ihren Freunden über diversen Packungen Roth-Händle und einer Kiste Müller-Thurgau Marx und Engels diskutierten. Seine Eltern gaben sich radikal, beschrien das Ende des sozialen Zusammenhalts. Sie besuchten die örtlichen Demonstrationen, nahmen ihren Sohn zwischen sich, um ihm ein politisches Bewusstsein zu vermitteln.
Als Heinrich älter wurde, erkannte er die wahre Natur seiner Eltern. Sie konzentrierten sich immer mehr auf ihre Arbeit, den schnöden Gelderwerb, für den sie ihre eigenen Eltern angeprangert hatten. Die täglichen Sorgen um Auto, Lebensversicherung und Osterdekoration verdrängten die sozialistischen Ideale aus ihrem Bewusstsein wie aus dem Bewusstsein der gesamten Republik. Als die RAF den Anschlag auf Ramstein verübte, saß Heinrichs Mutter kopfschüttelnd vorm Fernseher und murmelte etwas von sinnloser Gewalt. Sein Vater kletterte währenddessen die Karriereleiter hinauf, vom kleinen Redakteur zum Ressortleiter. Er hörte auf, die spannenden Fragen zu stellen, und schaute stattdessen auf die Verkaufszahlen. Noch immer, wenn genug Müller-Thurgau floss, rühmten die Eltern sich als Revoluzzer der ersten Stunde. Aber die eigentlichen Ideale waren vergessen.
Aber Heinrich hatte nicht vergessen. Er verweigerte den Kriegsdienst. Seine Eltern rühmten ihren Erziehungsstil, aber Heinrich sprach ihnen jeden Anspruch auf seine Entscheidung ab. Anfang der 90er, als das Land sich vereint und satt fand, als die Bedrohung aus dem Osten verschwunden war und Kohl mit seiner Kanzlerschaft verwachsen schien wie ein Efeu mit einer vorstädtischen Betonfassade, begann Heinrich, Wirtschaft und Politik zu studieren. Er wollte gewappnet sein für den Kapitalismus, träumte davon, das System von innen heraus zu zersetzen. Wieder klopften seine Eltern sich gegenseitig auf die Schulter und schenkten ihrem Sohn wohlwollende Blicke über den weihnachtlichen Festtisch hinweg. Zum Eklat kam es erst, als Heinrichs Mutter nach einer seiner üblichen Predigten über die Gefahr der Wirtschaftskriege ihre Hand auf seinen Arm legte und sagte: »Ich sehe so viel von deinem Vater in dir.« Da flippte er aus. Nannte seinen Vater einen bourgeoisen Blender, einen Standardkapitalisten. »Dein Gewissen ist genauso schmutzig wie das eines Großindustriellen«, schrie er. »Du glaubst, es reicht, hier und da mal die Grünen zu wählen«, schrie er. »Euer Leben ist so scheiß-normal, ihr ward nie echte Revoluzzer«, schrie er und übersah die Tränen seiner Mutter, als er aus dem Haus stürmte.
Sie rief ihn ein paar Tage später in seiner Studentenwohnung an, aber er entschuldigte sich nicht und sie drückte sich um das Thema. Seine Besuche wurden seltener, stattdessen verbrachte er seine Zeit mit Susanne, die er gerade kennengelernt hatte. Obwohl sie selbst unpolitisch war, lauschte sie seinen Ansprachen mit großen Augen. Er genoss es, ihr die Welt verständlich machen zu können. Er warnte sie vor Konsum und Umweltverschmutzung, sie machten Picknicks im Park im Einklang mit der Natur und besuchten Vorträge an der Uni. Sie tippte seine Seminararbeiten ab und kümmerte sich um seine BAföG-Unterlagen. Praktisches und Organisatorisches lagen ihr, sie behielt den Überblick und wusste immer, was getan werden musste. Sie hatten eine bequeme Beziehung.
Bis Heinrichs Eltern starben. Es war etwa ein Jahr nach dem verhängnisvollen Weihnachtsessen, bei dem Heinrich den Keil zwischen sie getrieben und ihn nie wieder gelockert hatte. Zweimal hatte er seine Eltern seitdem besucht, einmal waren sie in der Stadt gewesen und er hatte sie in einem Café getroffen. Susanne hatten sie nie kennengelernt. Der Anruf kam an einem kalten Donnerstagabend im November, Heinrich hatte ein paar Freunde zum Essen eingeladen. Er konnte den Polizisten am anderen Ende kaum verstehen, weil das Gespräch in der Küche laut geworden war über der Frage, ob Günther Grass ein guter Schriftsteller sei oder nicht. Er musste sich das freie Ohr fest zudrücken, bevor er verstand, was der Mann ihm sagen wollte. Der Andere sprach schnell, reihte Fakten aneinander von einer glatten Straße und einer scharfen Kurve und einem zweiten Fahrzeug. Immer wieder wiederholte er: »Es tut mir wirklich leid«, aber Heinrich verstand nicht. Er stand nur da, presste die Hand auf sein eines Ohr und den Hörer auf sein anderes und schrie in die Muschel: »Ich verstehe nicht.« Irgendwann zog Susanne ihm fast gewaltsam den Hörer aus der Hand und schob ihn beiseite. Es war still geworden mit einem Mal, er spürte die Blicke der Gäste auf seinem Rücken. Susanne hörte zu, sagte etwas, hörte wieder zu, dann bedankte sie sich und legte auf. Sie ließ Heinrich stehen, wo er war, komplimentierte die Gäste aus der Wohnung, setzte ihn an den noch gedeckten Tisch und stellte ihm einen Schnaps hin. Sie saßen zwei Stunden wortlos voreinander, Heinrich trank fünf Schnäpse, dann begann er zu weinen.
Die Wochen und Monate danach fühlten sich an wie ein zäher Sirup, jeder Schritt war unfassbar anstrengend, jede Bewegung ein Kampf. Susanne übernahm die Kontrolle, organisierte die Beerdigung, suchte Blumen aus, sortierte die Besitztümer von Heinrichs Eltern, verkaufte das Haus. Er lag währenddessen im Bett und starrte die Decke an. Seine Prüfungstermine kamen und gingen, er versäumte es, sich für das nächste Semester einzuschreiben oder das übernächste. Immer wieder sah er sich am Esstisch seiner Eltern, wie er ihnen Gemeinheiten entgegenbrüllte, immer wieder sah er das Gesicht seines Vaters vor sich, die Lippen fest aufeinandergepresst, die Augenbrauen zusammengezogen. Immer wieder die Kälte zwischen ihnen, wenn sie sich danach trafen. So hatte er sie zurückgelassen.
Sie zogen in Susannes Heimatdorf, sie suchte ein Haus aus und bezahlte es von seinem geerbten Geld. Sie besorgte ihm eine Ausbildungsstelle im Chemiebetrieb ihres Vaters, der ein einfacher, anständiger Mensch war. Und dort lernte Heinrich die Schönheit der Chemie kennen, die sauberen Versuchsaufbauten, die klare Vorhersagbarkeit. Es war ehrliche Arbeit. Damals. Er hatte ein schnelles Chemiestudium angehängt, war aufgestiegen zum Kontrollleiter, durfte Personal führen, die Arbeit anderer überprüfen. Der Weg hatte zu gerade vor ihm gelegen, um ihn nicht zu gehen. Entscheidungen waren ihm abgenommen worden, er hatte sich ausgeruht, sich führen lassen. Die klaren Strukturen hatten ihm einen beruhigenden Rahmen gegeben. Damals. Irgendwann wurde es zur Routine, dann zur Qual. Und dann hatte er sich entschieden, sich auf die ICE-Trasse zu legen. Es war viel Zeit vergangen.
Heinrich kritzelte gerade seine Unterschrift auf eines der letzten Papiere, als ein leises Pochen ertönte.
»Kommen Sie herein, Sonja.«
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und die Teamassistentin der Prüfungsabteilung schlüpfte hinein. Auf dem Arm trug sie bereits einen Stapel Faltmappen, die sie in den umliegenden Büros eingesammelt hatte. Sie blieb an der Tür stehen und hielt den Blick gesenkt, wartete darauf, dass er seine Berichte in eine Faltmappe schob und in sein Postausgangsfach legte. Dann würde sie durch den Raum huschen, die Mappe an sich nehmen und verschwinden wie jeden Tag, ohne eine Spur ihrer Anwesenheit zurückzulassen. Heinrich zeichnete schnell den letzten Bericht ab und griff schon nach der Mappe, als ihm ein Geruch in die Nase stieg. Ein sanfter Duft, trocken und leicht herb, der ihn an Meer und Sonne erinnerte. Er blickte auf. Sonja stand wie immer an der Tür und wartete geduldig.
»Sonja, haben Sie ein neues Parfum?«
Bei dem Klang ihres Namens zuckte sie merklich zusammen. Es kostete sie einige Überwindung aufzublicken, und auch dann konnte sie seinem Blick kaum standhalten, sondern schaute im Raum umher wie ein scheues Reh. »Das ist vielleicht mein Shampoo.«
Heinrich konnte sich nicht erinnern, jemals ihre Stimme gehört zu haben. Sie war tiefer, als er erwartet hatte, etwas rau. »Es riecht sehr gut.«
Er legte seine Berichte in die Faltmappe und streckte sie ihr entgegen. Sie zögerte einen Moment, dann trat sie an seinen Schreibtisch und griff nach der Mappe.
»Danke«, sagte sie.
Heinrich lächelte. »Ich habe zu danken.«
Sonja lächelte zurück, dann drehte sie sich um und verließ sein Büro. Mit ihr verschwand auch der Meeresduft. Heinrich nahm sich vor, sie am nächsten Tag zu fragen, welches Shampoo sie benutzte.
Dann widmete er sich wieder seinem PC. Er rief das Browserfenster auf, auf dem ihn das Forum immer noch bat, ein Benutzerkonto einzurichten. Er klickte sich durch das kurze Formular, trug eine alte E-Mail-Adresse ein, die er eigentlich nicht mehr benutzte, und kam ins Stocken, als er einen Benutzernamen wählen sollte. Er überlegte, probierte einige Abkürzungen und Kombinationen seines Namens aus, zögerte aber. Er kam sich nackt vor, sichtbar. Schließlich tippte er »ICE 74« in die Zeile und speicherte seine Daten.
Das Forum war einer der traurigsten Orte, die er je erlebt hatte. Hunderte von Einträgen reihten sich aneinander, und alle trugen ähnliche Überschriften: Ich muss weg von Zuhause, wo soll ich hin? Wo schlafen auf der Straße? Jugendamt anrufen, ja oder nein? Vater schlägt, was soll ich machen?
Er gab »HaKom 42« in das Suchfeld des Forums ein und erhielt eine Liste an Einträgen, in denen der Name vorkam. Er klickte auf den Ersten:
tom01
hey ich bin 15 und muss von zuhause weg. hab schon ein paarmal bei freunden übernachtet aber von da holen sie mich immer zurück. vor der straße hab ich irgendwie angst. weiß jemand was wo man hin kann? wäre echt dankbar für hilfe.
TankBoy
hey tom01 voll scheiße tut mir leid dass es so schlimm ist bei dir. ich hab mal ne Woche in der HaKom 42 gepennt. das ist in der steigertahlstraße. frag nach roger merani der leitet das. ist ganz cool aber halt auch ein bisschen politisch. hat mich dann genervt und ich bin zu nem kumpel nach berlin. aber für wenn du nix hast ist es vielleicht ganz gut. sonst jugendamt?
tom01
danke TankBoy. ich weiß echt nicht weiter jugendamt will ich nicht wegen meiner mutter die wäre dann voll traurig. vielleicht schau ich da mal vorbei klingt aber komisch. muss man da bei irgendwas mitmachen? auf so sekten scheiße hab ich gar keinen bock.
SweetStray99
ist keine sekte. sind voll liebe menschen, die einfach noch ein paar ideale haben und sich für eine bessere gesellschaft einsetzen. da zwingt dich keiner zu irgendwas. geh da ruhig hin, die sind super.
TankBoy
hey SweetStray99, eben, total politisch. aber für ein paar nächte ist es sicher okay.
tom01
Danke euch ich überlegs mir.
Heinrich las sich noch zwei weitere Unterhaltungen durch. Die Meinungen über die Kommune gingen auseinander: Die einen hielten sie für einen Ort, an dem junge Menschen gemeinsam für ein höheres Ziel kämpften, für die anderen war die Organisation zu extrem.
Er suchte auf Google Maps nach der Adresse. Obwohl er nur zwei Stunden von Hannover entfernt wohnte, war er nur selten dort gewesen und kannte sich nicht aus in der Stadt. Der kleine Pfeil zeigte ihm ein Haus in einem engen Wohnviertel, rote Dächer, Grünflächen in den Innenhöfen. Die Straße lag direkt am Fluss, machte einen Bogen um einen lang gezogenen Wohnblock herum. Zum ersten Mal in seinem Leben probierte Heinrich die Street-View-Funktion aus. Vor seinen Augen flog die Kamera in die Straße hinein und zeigte ihm das Haus: weiß-beige Fassade, fünf Stockwerke. Um die Fenster waren Rahmen auf die Wand gemalt. Vor dem Haus stieg eine Frau aus einem Auto. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Junge mit einer Sporttasche an die Häuserecke gelehnt. Er versuchte, an die Klingelschilder heranzuzoomen, konnte aber nichts erkennen. Er zoomte wieder raus und schaute das Haus an. Teile waren verpixelt, andere von Bäumen verdeckt. Es gab viele Eingänge in den Wohnblock, und keiner ließ erkennen, ob er derjenige war, den Heinrich suchte. Es hing nichts in den Fenstern außer ein paar Vorhängen. Er schaute jedes Fenster einzeln an. Irgendwo im ersten Stock stand eine Blume auf dem Sims. Hier und dort konnte er eine Lampe oder ein Regal erkennen. Und dann, im dritten Stock des letzten Hauses, sah er hinter einem der Fenster eine Silhouette. Schmale Schultern, viel Haar, kaum zu erkennen, als sähe er einen Geist. Er zoomte erneut ran. Das Gesicht blieb unkenntlich, die Konturen unscharf. Dort, wo er den Kopf vermutete, leuchtete ein heller Punkt – wahrscheinlich zog sie gerade an einer Zigarette. Sie. Genau genommen konnte er nicht erkennen, ob es sich bei der Person um einen Mann oder eine Frau handelte. Er zoomte wieder raus, stellte sich vor, er stünde auf der Straße und sähe hinauf.
Er hatte sich angestrengt, mit allem fertig zu sein, bevor Susanne nach Hause kam. Er wollte ihr so wenig Zeit wie möglich geben, ihn ausfragen zu können. Sein Vorwand war fadenscheinig, das war ihm klar, aber auch wenn er den ganzen Heimweg gegrübelt hatte, ihm war nichts Besseres eingefallen. Es würde reichen müssen, und so sollte die Eile ihm helfen, sich herauszuwinden.
Er stellte gerade seinen Koffer im Flur ab, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Er hastete zur Garderobe, griff nach seinem Mantel und schob seinen Arm hinein. Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Er war es nicht gewohnt, Susanne anzulügen.
Sie blieb in der Tür stehen, als sie ihn sah. Ihr Blick glitt über seine Stirn, über seinen Arm, der unbeholfen im Mantel steckte, und fiel dann auf den Koffer. »Heinrich?«
Eine Sekunde lang starrten sie sich an. Heinrich suchte in seinem Kopf nach den Sätzen, die er sich so pfleglich zurechtgelegt hatte, aber er fand sie nicht. Stattdessen fiel ihm ihr Haar auf und wie grau es geworden war in den letzten Jahren. Wieder hatte er das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen.
Erst, als Susanne sich wieder bewegte, einen Schritt auf ihn zu machte, brach der Damm in seinem Kopf. »Schatz, es tut mir leid, ich muss auf eine Konferenz.« Jetzt kamen die Worte wie aus der Pistole geschossen, seine Stimme klang wie die eines Roboters. Mit Gewalt schob er seinen Arm in den Mantel. Er spürte, wie das Futter einriss.
»So plötzlich?«
»Drechsler sollte hin, ist krank geworden. Der Chef will, dass wir Präsenz zeigen. Also muss ich ran.« Er lächelte gequält, als wäre es für ihn eine lästige Pflicht. Susanne legte langsam die Schlüssel auf die kleine Anrichte im Flur und schälte sich aus ihrer Jacke.
»Aber du warst seit Jahren nicht mehr auf einer Konferenz.«
»Ich weiß.« Endlich hatte er es geschafft, seinen Mantel anzuziehen. Er warf sich den Schal über die Schultern und griff nach seinem Koffer. »Es tut mir leid, ich muss los. Heute ist noch ein Empfang, da muss ich mich sehen lassen. Am Sonntag bin ich wieder da.«
Er schob sich an ihr vorbei, zog den Rollkoffer ungeschickt hinter sich her und fuhr ihr beinahe über die Füße. Er war schon durch die Tür, hatte fast sein Auto erreicht, das am Bürgersteig parkte, als Susanne ihm hinterherrief. »Heinrich!«
Er blieb stehen, drehte sich um und versuchte, ein entspanntes Lächeln aufzusetzen. »Was denn?«
»Wo fährst du überhaupt hin?«
»Nach Hannover, Schatz. Nur nach Hannover.«
Sie stand in der geöffneten Tür, das Licht fiel aus dem Flur auf die Schwelle und beleuchtete sie von hinten. Er konnte ihr Gesicht nicht genau erkennen. Sie sah mit einem Mal sehr klein aus. Kurz spürte Heinrich den Impuls, zu ihr zu gehen und sie in den Arm zu nehmen, aber er hielt sich zurück.
»Ich rufe dich an, okay?«
»Okay.« Ihre Stimme klang höher als sonst, dünner. »Gute Fahrt!«
»Danke.« Er drehte sich wieder zum Auto, packte den Koffer auf den Rücksitz und stieg ein. Susanne blieb in der Tür stehen, bis er den Wagen anließ, dann ging sie zurück ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment blieb Heinrich mit laufendem Motor vor seinem Haus stehen und atmete tief durch, bis seine Hände nicht mehr zitterten. Er legte den Gang ein und fuhr los. Sonntagabend musste er wieder hier sein. Was genau er in diesen zwei Tagen tun wollte, wusste er nicht. Es würde sich ergeben. Er steuerte den Wagen über die Landstraße Richtung Autobahn, das Leder des Lenkrads fühlte sich warm und trocken an unter seinen Händen. Er schaltete das Radio ein und suchte einen Sender, auf dem Klassiker aus den 60er und 70er Jahren liefen. Leise summte er mit, als Earth, Wind & Fire das Boogie Wonderland verkündeten. Zum ersten Mal, seit er sich vor zwei Tagen von den Gleisen erhoben hatte, auf denen er hatte sterben wollen, war er entspannt.