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KAPITEL ZWEI

In der Nacht lag Heinrich wach. Natürlich tat er das, dachte er. Nach so einem Tag. Aber nachdem er zwei Stunden die Zimmerdecke angestarrt hatte, fiel ihm auf, dass nicht die Vorstellung des Selbstmordes ihn wachhielt. Er hatte immer Probleme mit dem Schlafen gehabt, aber seit er die Entscheidung getroffen hatte, sich vor den Zug zu legen, hatte er eindeutig besser schlafen können. Es hatte sich weniger eng angefühlt in ihrem Ehebett, an der Seite von Susanne, die schlief wie eine Tote. Jetzt lag er wieder wach und grübelte nur über ein Detail: Was hatte er falsch gemacht? Hatte er die Zugfahrpläne nicht sorgfältig studiert, sich nicht geradezu pedantisch über Verspätungen informiert? Wo hatte er geschlampt, wo war ihm die Sache entglitten? Er schämte sich und fühlte sich gleichzeitig betrogen. Dies hätte sein Ausweg sein sollen, aber er hatte es offensichtlich versaut. Gegen vier Uhr stand er auf, ging ins Arbeitszimmer und räumte seine Kleider wieder in den Schrank. Als er zurück ins Bett kam, lag Susanne unverändert da und schlief ihren traumlosen Schlaf. Seit er sie kannte, hatte sie niemals von einem Traum erzählt. Wenn er fragte, sagte sie immer, sie hätte nicht geträumt. Früher hatte er das für Unsinn gehalten. In dieser Nacht kam es ihm sehr logisch vor.

Heinrich war immer noch wach, als um halb sieben der Wecker klingelte. Susanne stand mechanisch auf und ging ins Bad. Er hörte, wie die Dusche anging. In zwölf Minuten würde sie in die Küche kommen und einen Kaffee erwarten. Träge wuchtete er sich aus dem Bett, schlurfte hinunter und tat seine Pflicht. Er füllte ihren Becher in eine Thermotasse um, und als sie das Bad verließ und ins Schlafzimmer ging, um sich anzuziehen, schlüpfte er unter die Dusche. Er blieb so lange im Bad, bis er ihren Wagen hörte, erst dann kam er heraus. Ein Ritual, das sie in den letzten Jahren perfektioniert hatten.

Die Fahrt in die Firma dauerte wie immer 17 Minuten. Heinrichs Wagen schien den Weg allein zu finden, er jedenfalls schenkte der Fahrt keinerlei Aufmerksamkeit. Das Gebäude lag in einem unansehnlichen Industriegebiet außerhalb des Ortes, umgeben von Autowerkstätten und Getränkegroßmärkten. Heinrich stellte den Wagen auf demselben Parkplatz ab wie immer, in beachtlicher Laufdistanz zum Eingang, aber unter einem der genau sieben Bäume, die vor Jahren über den Parkplatz verteilt gepflanzt worden waren.

Die ersten drei Stunden in seinem Büro verbrachte Heinrich damit, den Bleistiftspitzer anzustarren und sich immer wieder vorzustellen, wie die riesigen Stahlräder des ICE seinen Kopf von seinem Hals trennten. Es waren Bilder wie aus einem schlechten Horrorfilm, doch er empfand sie nicht als schrecklich oder grausam. Er hatte es sich gewünscht, er hatte alles richtig gemacht, und trotzdem war er immer noch hier. Sein Büro schien noch düsterer als sonst, die Stapel der Prüfberichte, die er durchzuarbeiten hatte, waren in dem einen Tag seiner Abwesenheit merklich angeschwollen. Er nahm einen Bericht in die Hand, überflog die erste Seite: chemische Analyse eines neuen Vitaminpräparats. Schon beim Anblick der chemischen Zusammensetzung stieg ihm der fruchtig-künstliche Geruch der Brausetabletten in die Nase und ihm wurde übel, also legte er die Papiere zurück auf den Stapel und starrte wieder auf seinen Bleistiftspitzer. Von Zeit zu Zeit fühlte er Panik in sich aufsteigen, ihm fiel das Atmen schwer. Das alles hätte ein Ende haben sollen, aber es ging einfach immer weiter.

Gegen elf öffnete sich mit einem Mal die Tür und Heinrichs Chef trat in den Raum. Heinrich schreckte hoch und fummelte eilig nach einem der Berichte vor sich auf dem Tisch, um den Anschein von Produktivität zu erwecken. Manfred Strozinski war ein untersetzter Mann, der konstant schlechte Laune hatte. Über die Jahre waren seine Mundwinkel immer weiter nach unten gewandert, was seinem Gesicht den unheimlichen Anschein einer Horrormaske verlieh.

»Knopp, wo waren Sie gestern? Sie haben sich nicht abgemeldet.« Seine Stimme war fiepsig und er sprach extrem schnell.

»Nein, Herr Strozinski; Verzeihung, Herr Strozinski«, stammelte Heinrich, atmete dann einmal tief durch und sagte in einem flüssigen Atemzug: »Ich war krank und mir war zu unwohl, um zu telefonieren.«

Strozinski musterte ihn prüfend durch seine kleinen Äuglein.

»Haben Sie ein Attest?«

Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, Verzeihung, auch für einen Arztbesuch war mir zu unwohl. Aber zum Glück scheint alles überstanden zu sein.«

»Da wäre ich mir nicht sicher.« Strozinski trat an den Schreibtisch heran und beugte sich vor, um Heinrich aus der Nähe zu betrachten. »Gut sehen Sie immer noch nicht aus.«

»Es geht schon wieder.«

Der kleine Mann trat zurück, nahm ein Taschentuch heraus und wischte sich über Lippen und Nase. »Einen Virus kann ich hier im Büro wirklich nicht gebrauchen. Gehen Sie nach Hause, Knopp, kurieren Sie sich heute noch mal aus, bevor Sie hier alle anstecken.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stapfte aus dem Raum.

Heinrich wartete ein paar Momente ab, dann griff er seine Aktentasche und stürmte aus dem Büro. Vor dem Gebäude hielt er kurz inne und atmete durch. Für einen Moment kämpfte er mit einem Würgereiz, konnte ihn aber im Zaum halten. Dann stieg er in sein Auto und fuhr los.

Ganz automatisch schlug er die Route nach Hause ein. Er fuhr, ohne bewusst auf die Straße zu achten, bewegte sich mechanisch: rote Ampel, Fuß auf die Bremse, Gang rausnehmen, anhalten, grüne Ampel, erster Gang, anfahren, schalten, beschleunigen. Sein Körper machte die Arbeit, während vor seinem inneren Auge die Bilder vorbeirasten: die schlafende Susanne, der Blick in die Wolken von den Gleisen aus, die chemische Formel auf dem Gutachten, der Westernheld auf seinem Pferd aus dem Film, den er gestern gesehen hatte. Die Bilder reihten sich wahllos aneinander, keines ließ dem vorherigen genug Zeit, um es wirklich betrachten zu können, und so flimmerte es in seinem Kopf und der Druck in seiner Brust wurde immer größer.

Als Heinrich wieder zu sich kam, stand er bereits in der Einfahrt. Der Motor lief noch, seine Hände hielten das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel sich weiß färbten. Er hatte keine Ahnung, wie lange er hier schon stand. Hastig schaltete er das Auto ab, schloss die Augen und legte die Stirn auf das Lenkrad. Das Leder drückte unangenehm gegen seine Haut, aber in der Dunkelheit kam sein Geist langsam zur Ruhe. Schließlich stieg er aus und ging hinüber zur Haustür. Er blieb vor ihr stehen, hatte beinahe schon den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Was sollte er jetzt tun? Hineingehen und sich vor den Fernseher setzen? In den Keller gehen und seine Modelleisenbahn anwerfen, auf der die Züge immer genau so fuhren, wie er es sich wünschte? Er konnte nicht, wollte keinen Fuß in das Haus setzen.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Es war kühler geworden, der Himmel war bedeckt und die grauen Wolken versprachen Regen. Heinrich ging los, schaute auf den Boden und setzte stur einen Fuß vor den anderen. Mit der Zeit beruhigte er sich. Die Luft war frisch und das Laub glitschig unter seinen Füßen. Er hatte diese Art von Wetter schon als Kind gemocht. Seine Mutter hatte ihn immer zu Hause behalten wollen, damit er nicht nass wurde und sich erkältete. Aber er war trotzdem hinausgegangen. Der Spielplatz war leer gewesen bei diesem Wetter, anscheinend waren alle Mütter wie die seine. Er war dann durch die Gegend gelaufen und hatte sich vorgestellt, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der Letzte seiner Art. Er stellte sich vor, wie er in alle Häuser hineinging und mit Schuhen auf die Betten der Leute stieg, wie er in ihren Schränken nach Süßigkeiten suchte und ihre Sparschweine leerte. Und niemand wäre da, um ihm zu sagen, was er zu tun hätte. An solchen Tagen kam er oft zu spät nach Hause und fürchtete sich vor seinen Eltern, aber sie lachten nur und seine Mutter machte ihm eine heiße Milch, an der er seine kalten Hände wärmen konnte.

Als Heinrich aufschaute, sah er, dass er unwillkürlich denselben Waldweg genommen hatte, den er gestern mit einem Kissen unter dem Arm entlanggegangen war. Ohne recht zu wissen, warum, bog er ins Unterholz ab und schlug sich bis zu der Stelle durch, an der er auf den Bahnschienen gelegen und die Wolken beobachtet hatte. Von seiner gestrigen Aktion war nichts zu sehen, als hätte die Natur ihn gar nicht bemerkt. Er sah eine kleine Pflanze, die sich zwischen den groben Steinen hervorschob. Wenn sie noch ein wenig weiter wuchs, würden die Züge ihr den kleinen, grünen Kopf abschlagen. Sie tat ihm leid. All die Willensstärke, die es ihr ermöglicht hatte, sich durch die Steine zu kämpfen, würde ihr nichts nützen gegen die Kraft der Maschine. Er tat einen Schritt auf das Pflänzchen zu, es war eine winzige Eiche. Seine Hände begannen schon, die Steine um den schmalen Stamm zu entfernen, da hörte er den Zug. Er sah auf die Uhr. Er war eine Stunde früher dran als gestern, es war noch heller, und dieser Zug war nicht der ICE 74. Noch war der Zug hinter der Kurve verborgen, aber Heinrich spürte das aggressive Surren, das durch die Schienen in seine Knochen drang. Er blickte zu dem Bäumchen hinunter, zuckte mit den Schultern, als sähe es ihn. Dann drehte er sich um, trat von den Schienen und blieb neben den Brombeersträuchern stehen. Als das massige, weiße Gefährt um die Kurve kam, erklang das Warnsignal. Der Zugführer musste ihn gesehen haben, ein Mensch so nah an der Trasse, das konnte nichts Gutes bedeuten. Heinrich blieb, wo er war, und schaute dem Zug entgegen. Das Signal ertönte erneut. Gerade so konnte er das Gesicht des Fahrers hinter der Scheibe ausmachen, Panik in den Augen. Dann raste der Zug an ihm vorbei. Keine zehn Sekunden später war er weg, der Wind zerrte noch an Heinrichs Kleidern. Er stieg wieder auf die Gleise. Die winzige Eiche stand noch da, beinahe unverändert. Nur eine kleine, ausgefranste Stelle an ihrer Spitze deutete darauf hin, dass sie Schaden genommen hatte. Sie würde nie größer werden, als sie in diesem Moment war.

Erst als es dunkel war, kam Heinrich nach Hause. Als er die Tür aufsperrte, erwartete ihn Susanne in Mantel und Stöckelschuhen.

»Wir kommen zu spät.«

Sie drehte sich um, griff nach ihrer Handtasche und marschierte an ihm vorbei zu ihrem Auto. Heinrich stöberte in seinem Kopf nach einem Termin, einer Verabredung, konnte sich aber beim besten Willen nicht erinnern. Also folgte er Susanne, die bereits aus der Auffahrt zurücksetzte. Er ging hinter dem Auto lang, die Abgase wärmten für einen Moment seine kalten Waden, dann stieg er auf den Beifahrersitz. Noch bevor er die Tür richtig geschlossen hatte, fuhr sie los.

Sie glitten schweigend über die Landstraßen in Richtung des Nachbarorts. Susanne hielt das Lenkrad locker umfasst, sah gelegentlich zu Heinrich hinüber, der sich schuldig fühlte.

»Du hättest dich noch umziehen können«, sagte sie schließlich.

»Du schienst es eilig zu haben.«

»Aber so bist du wohl etwas zu leger angezogen.«

Heinrich musste lachen. Susanne warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Was ist daran lustig?«

»Ich bin immer so angezogen.«

Sie schaute wieder auf die Straße, umrundete einen Kreisverkehr. »Du hast es vergessen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Ihr Gesichtsausdruck verriet weder Wut noch Enttäuschung, vielmehr schien sie die Tatsache vollkommen neutral aufzunehmen. Heinrich meinte, einen Hauch von Resignation um ihren Mundwinkel zu erkennen. Es tat ihm leid, dass sie sich so fühlen musste.

»Ja, ich habe es vergessen.«

Sie nickte. »Es macht keinen Unterschied.«

Sie bogen in eine Auffahrt ein, an deren Ende ein großes, rechteckiges Haus stand, grauer Putz, symmetrische Fenster. Die Fensterrahmen waren aus Edelstahl und warfen das Licht der Scheinwerfer zurück. Das Haus eines Architektenpaares. Yvonne und Gerd. Yvonne war Susannes älteste Freundin, die beiden hatten sich schon in der Grundschule gekannt und pflegten seit jeher eine enge Freundschaft. Eine große Frau, hoch und dick und laut, aber erträglich. Gerd war noch größer als Yvonne, ein Berg von einem Mann mit unnatürlich starkem Haarwuchs im Gesicht. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne zeigt, was sie hat. Einmal hatte er es geschafft, Heinrich einen Abend lang jede Funktion des neu installierten Sicherheitssystems zu erklären. Er schleifte Heinrich durch das gesamte Haus, deutete in Zimmerecken und auf unsichtbare Lichtschranken, las ganze Passagen aus dem Handbuch vor und sinnierte über die vielen Einbrecher, die in der Gegend herumlungerten, während Heinrich nickte und an den richtigen Stellen die Augenbrauen hob. Das ging so weit, dass Gerd aus Demonstrationsgründen den stillen Alarm auslöste und der Sicherheitsdienst anrief, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Gerd tat die Sache mit einem kehligen Lachen ab und beendete seine Tirade wie immer, indem er Heinrich auf einen Zettel schrieb, wo er selbst sich diese großartige Technik zulegen könnte. Heinrich nahm die Zettel jedes Mal pflichtbewusst mit nach Hause, streckte sie beim Abschied noch einmal durch das offene Autofenster und winkte damit. Einmal zuhause wanderten sie direkt in den Müll.

Vor der Tür klingelte Susanne, schob ihren Arm um Heinrichs Ellenbogen und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Heinrich konnte ihre Spiegelung in der Glastür sehen: Hätte er sie nicht gekannt, hätte er ihr Lächeln für echt gehalten. So standen sie da, er, ein unscheinbarer Endvierziger mit Strickpulli und gescheiteltem Haar über der rahmenlosen Brille, der es nicht schaffte, diesen Ausdruck von Verwirrung aus seinem Gesicht zu kriegen, und neben ihm Susanne, herausgeputzt und fröhlich. Heinrich war es, als hätte er fremde Menschen vor sich. Endlich ging das Licht im Flur an und das Spiegelbild wich einer enthusiastischen Yvonne, die auf die Tür zustürzte.

Es gab Fisch in Salzkruste, dazu gedünstetes Gemüse und Salat. Brot nur für die Gäste, Yvonne hatte sich und Gerd auf eine Low-Carb-Diät gesetzt. Gerd stand auf, wenn er Wein nachschenken sollte, und legte sich ein Trockentuch über den Arm wie ein Kellner in einem vornehmen Restaurant. Die Frauen lachten jedes Mal hysterisch. Yvonne und Susanne warfen Gesprächsthemen durch den Raum wie Konfetti. Kaum hatte Heinrich sich etwas überlegt, das er beitragen konnte, ohne vollständig idiotisch zu klingen, waren sie schon beim nächsten Thema. Also blieb er die meiste Zeit stumm und beobachtete die anderen wie durch eine Glasscheibe im Zoo. Er begann, Susanne zu studieren, sich jede Bewegung ganz genau einzuprägen: ihren Augenaufschlag, wie sie ihr Weinglas hielt, mit zwei Fingern und Daumen ganz oben am Stiel, wie sie die Lippen beim Lachen weit zurückzog und viel Zahn zeigte. Er war sich sicher, in all den Jahren alles schon einmal gesehen zu haben, aber sie kam ihm nicht bekannt vor, nichts an ihr, als wäre sie über Nacht ein anderer Mensch geworden. Er versuchte, sich an die frühere Susanne zu erinnern, die Frau, die er im Studium kennengelernt hatte. Hatte sie damals schon so gelacht? Hatte er es attraktiv gefunden? Hatte sie damals ihr Glas schon so gehalten, oder hatte sie es sich später angewöhnt, es sich abgeschaut von jemandem? Er konnte sich Szenen ins Gedächtnis rufen, ein Essen beim billigen Italiener um die Ecke, sie hatte sich die Bluse mit Tomatensoße vollgekleckert und sie hatten gekichert wie Schulkinder. Aber jetzt kam es ihm vor, als wäre es eine Szene aus einem Film, den er mal gesehen hatte, nicht sein eigenes Leben. Susanne war nicht mehr diese Person, war es vielleicht nie gewesen, und bei sich selbst war er sich auch nicht so sicher. Seine Vergangenheit schien unecht, hölzern und fremd.

Dann konzentrierte er sich auf Gerd und Yvonne, beobachtete sie als Paar, registrierte jeden kleinen Blick, jede Berührung. Sie legte ihre Hand auf seine, wenn sie über ihn sprach. Er legte den Arm auf ihre Stuhllehne, ohne sie direkt zu berühren. Wenn er ihr Wein einschenkte, bedankte sie sich mit einem Luftkuss, woraufhin er jedes Mal in einer O-la-la-Manier die Augenbrauen hochzog. Heinrich erschien alles so einstudiert, automatisiert, ohne Blut. Als spielten die zwei ihre Beziehung wie vor Publikum. Susanne hätte es gefallen, wenn auch sie beide eine solche Routine gehabt hätten. Er sah es an der Art, wie sie das Gesicht senkte und ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Hatten sie das mal gehabt? Diese kleinen Gesten, die die Beziehung nach außen hin erst real werden ließen? Er wusste es nicht. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren das morgendliche Aufstehen, die Duschgeräusche, er beim Kaffeemachen. Es gab Tage, an denen ihm erst beim Hinausgehen bewusst wurde, dass er sie nicht ein einziges Mal angesehen hatte. Vielleicht brauchte es die kleinen Spielchen, die Yvonne und Gerd so meisterlich beherrschten, um sich nicht aus den Augen zu verlieren.

Statt Dessert reichte Yvonne Käse, Gerd schenkte reichlich Grappa aus, auf den Susanne verzichtete, sie müsse ja noch fahren. Heinrich merkte den Alkohol unangenehm in den Gelenken, sie wurden heiß und weich, seine Muskeln erschlafften und er fühlte sich unkoordiniert. Außerdem begann er zu schwitzen.

»Heinrich, wie wär’s, wenn wir die Damen mal ihrem Tratsch überlassen und ich dir meine neueste Errungenschaft zeige?«

Heinrich rang sich ein Lächeln ab, nichts interessierte ihn weniger, als was auch immer Gerd ihm zeigen wollte, aber es konnte nicht schaden, ein paar Schritte zu gehen, wenn auch nur durch das Haus. Er erhob sich ungelenk, schob den Stuhl quietschend mit den Kniekehlen weg und folgte Gerd in sein Arbeitszimmer. Der Raum hatte doppelte Etagenhöhe, ihre Schritte hallten leicht von den Wänden wider. Durch die Oberlichter konnte man die Sterne sehen – bei Tag war das Licht hier drin phänomenal. Gerd brauchte es für den riesigen Zeichentisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Darauf lagen Entwürfe für ein Mehrfamilienhaus, das aus aufeinandergestapelten Würfeln zu bestehen schien. Heinrich betrachtete die Zeichnungen, während Gerd durch den Raum zum Regal hinüberging und an etwas herumwerkelte. Er drehte Heinrich den Rücken zu, als habe er etwas zu verbergen, bis er sich mit einem Ruck umdrehte und ein dröhnendes »Tadaaaa!« von sich gab. Im ersten Augenblick erkannte Heinrich nicht, was Gerd in den Händen hielt. Dann stieg hinter Gerd ein kleiner Quad-Copter in die Luft, durchquerte den Raum und blieb über dem Zeichentisch in der Luft stehen. Heinrich wich einen Schritt zurück. Er spürte den Wind, den die kleinen Propeller verursachten, auf seinem Gesicht. Es war kühl und angenehm nach der Hitze des Alkohols.

»Und?« Gerd wartete auf Heinrichs Begeisterung.

»Ganz toll.«

»Ja, Drohnen sind der neueste Schrei. Gar nicht so leicht zu steuern«, er deutete mit der Nase auf die riesige Fernbedienung in seinen Händen, »aber irgendwann hat man den Dreh raus. Wenn wir draußen wären, würde ich dich auch mal lassen, aber hier drin ist es etwas gefährlich.«

Heinrich war erleichtert. »Kein Problem.« Er beobachtete, wie Gerd das Fluggerät höher steigen ließ, bis es knapp unter der Decke anhielt und sich wieder langsam senkte. »Und was macht man damit?«

»Man lässt es fliegen.«

»Schon klar, aber so rein praktisch. Also, kann es irgendwas?«

»Warte, ich zeig dir ein paar Sachen. Geh mal ein paar Schritte zurück!«

Heinrich stellte sich in die offene Tür und schaute Gerd dabei zu, wie er die Drohne in akrobatischen Manövern durch den Raum steuerte. Gerd strahlte dabei wie ein kleiner Junge, riss die Augen auf, wenn es zu Beinahezusammenstößen mit Stehleuchte oder Kunstobjekt kam, und lachte laut, wenn er den Crash gerade noch so verhindern konnte. Heinrich lachte pflichtbewusst mit. Er genoss es, wenn das Gerät in seine Nähe kam und ihm leichten Wind ins Gesicht blies. Die Wirkung des Alkohols ließ langsam nach, seine Arme und Beine fühlten sich wieder fester an und die Hitze wich aus seinem Kopf. Aus dem Esszimmer drangen leise die Stimmen der Frauen zu ihm herüber.

»… um dann zwei Stunden im Stau zu stehen«, sagte Yvonne gerade. »Weil ja alle mit dem Auto unterwegs waren, wegen des Zugs.«

Heinrich drehte den Kopf leicht, um die beiden besser verstehen zu können.

Susannes Stimme klang leiser als Yvonnes. »Welcher Zug?«

»Hast du das nicht mitbekommen? Gestern hat jemand anonym beim Bahnhof Hannover angerufen und gesagt, in einem der ICEs liege eine Bombe. Da fuhr nichts mehr, sie haben den ganzen Bahnhof geräumt.«

»Nein!«

»Doch. War natürlich nur eine Ente. Da wollte wohl so ein Teenager-Rüpel Unruhe stiften. Aber natürlich sind dann alle mit dem Auto gefahren anstatt mit dem Zug.«

Heinrich erstarrte. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er sich nicht wirklich gefragt hatte, was seinen Zug aufgehalten hatte. Er hatte es als persönliches Scheitern verbucht, als gemeinen Witz des Schicksals, aber er hatte keinen weiteren Gedanken an die praktischen Ursachen verschwendet. Aber hier war die Antwort: Es lag nicht an ihm, er hatte sich nicht selbst sabotiert. Es ging noch nicht einmal um ihn. Die Tatsache, dass er noch lebte, war das Resultat eines Streichs eines jungen Menschen. Er war nicht gestorben, weil jemand sich einen schlechten Scherz erlaubt hatte. Mit einem Mal wurde er wütend. Was für eine Frechheit! Hatte dieses Kind sich auch nur einen Moment lang überlegt, welche Pläne es da durchkreuzte? Wie viele Menschen nicht rechtzeitig nach Hause gekommen waren seinetwegen, wie viele Termine verpasst wurden? Wie viele Menschen noch lebten, obwohl sie hätten tot sein müssen?

»So was muss doch bestraft werden«, sagte Susanne mit ehrlicher Entrüstung in der Stimme.

»Sie wissen schon, wer es war. Hat sich etwas blöd angestellt, der Junge, ist ja heutzutage alles kameraüberwacht in der Stadt.«

»Na, dem wird jetzt was blühen.«

Heinrich brach erneut der Schweiß aus. Sein Blick fuhr ziellos über die Marmorfliesen, fand keinen Punkt, an dem er sich hätte festhalten können. Es war ein Mensch, ein einziger Mensch, der seinen Tod verhindert hatte. Der eine Entscheidung getroffen hatte. Und nur deswegen war Heinrich jetzt hier, in diesem Haus, überhaupt irgendwo, wenn er eigentlich nicht mehr hätte existieren sollen. Das alles machte nicht den geringsten und gleichzeitig sehr viel Sinn. Es gab einen konkreten Grund, warum er noch lebte. Und nur dieser Junge kannte ihn.

Wie in Trance ging er zurück zum Tisch und ließ sich neben Susanne auf den Stuhl sinken. Die beiden Frauen verstummten und sahen ihn fragend an. Er musste einen beunruhigenden Anblick abgeben.

Aus dem Arbeitszimmer hörte man Gerd rufen: »Heinrich? Ist alles in Ordnung?«

Susanne legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie war schwer und unangenehm, er wollte sie abschütteln, konnte aber die Kraft nicht aufbringen.

»Mir ist nicht gut«, flüsterte er.

Gerd trat an den Tisch. »Ist alles okay?« Seine Stimme dröhnte in Heinrichs Ohren.

»Ihm ist nicht gut«, antwortete Yvonne.

»Was hat er denn?« Gerd legte seine Hand auf Heinrichs Schulter. Sie war noch schwerer als Susannes. Es fühlte sich an, als würde er von allen Seiten zu Boden gedrückt.

»Ich denke, wir fahren jetzt besser.« Susanne erhob sich und zog ihn hinter sich her. Er folgte, ohne zu erfassen, was um ihn passierte. Am Rande bekam er mit, dass ihm eine Jacke in die Hände gedrückt wurde. Er hörte die Stimmen der anderen, konnte aber keine Worte ausmachen. Immer wieder sah er vor sich die Wolken, in die er gestern stundenlang geschaut hatte, als er auf seinen Zug gewartet hatte. Dann saß er plötzlich im Auto und Susanne fragte immer wieder, ob er okay sei. Er nickte jedes Mal, obwohl nichts okay war, wirklich überhaupt nichts. Sie ließ das Fenster an seiner Seite ein wenig herunter, und die kühle Nachtluft strich ihm um die Nase. Er begann zu frieren, und das Gefühl half ihm, in die Gegenwart zurückzufinden. Als sie zu Hause ankamen, hatte er sich wieder so weit gefasst, dass er die Tür aufschloss und Susanne zuerst hindurchließ. In der Diele hängte er seine Jacke auf und blieb einen Moment planlos stehen. Sie legte ihm die Handfläche an die Wange und wartete darauf, dass er sich erklärte.

»Ich gehe ins Bett«, sagte er schließlich und schob sich an ihr vorbei. Als er die Treppe hinaufstieg, spürte er ihren Blick auf seinem Rücken, und als sie sich ein paar Stunden später neben ihn ins Bett legte, stellte er sich schlafend.

Entgleist

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