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Albrecht von Minden

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Impressum


©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2020

www.herasverlag.de

Layout Buchdeckel Rainer Schulz

Unter Verwendung eines Fotos von Harald Rossa



Am Abend des 1. September 1609 nahm der zwanzigjährige Albrecht von Minden seinen Weg von der Stadt Tangermünde nach dem kleinen, nur etwa dreieinhalb Meilen entfernt liegenden Örtchen Bölsdorf unter die Füße. Albrecht hatte im Krug zu Bölsdorf Spielschulden gemacht und die wollte er an diesem Abend begleichen, um das Spiel endgültig aufzukündigen. Die Schuld betrug nur fünf Taler und wenige Groschen, für arme Leute sicher ein Vermögen, für den Sohn des reichen Patriziers Baltasar von Minden eine Klackssache. Albrecht hätte seine Schuld mit links bezahlen und sich dann aus dem Staube machen können. Er war dem Wirt von Bölsdorf in keiner Weise verpflichtet. Allerdings ärgerte ihn die krumme Tour, wie der Wirt zu dem Guthaben gekommen war, und Albrecht wollte sich Genugtuung verschaffen.

Der Wirt von Bölsdorf, der Kilian Kleiber, war ein gewiefter Falschspieler, der im rechten Moment manipulierte Würfel ins Spiel brachte und die gesamte Bank des Abends gewann. Das hatte sich längst herumgesprochen. Das wusste jeder. Trotzdem trafen sich bei Kleiber allabendlich die Spieler und versuchten ihr Glück aufs Neue. Zuweilen gewann einer, wähnte sich überlegen, um bald danach wieder alles zu verlieren. Bis aufs Hemd ruiniert zogen der eine oder der andere ab. Kilian Kleiber blieb immer der Sieger. Heute nicht! Heute wird der Albrecht dem Kleiber auf die dreckigen Finger klopfen, sein Geld und seine Ehre herausholen und sich dann nie wieder am Spieltisch blicken lassen.

Der Abend war schön. Die Sonne stand schon tief. Die Gegend bot mit ihren saftig grünen Wiesen und Auen an den Ufern längs von Tanger und Elbe einen herrlichen Anblick. Man konnte im flachen, leicht hügeligen Land weit schauen. Seitlich säumten Weiden und Haselsträucher den ausgetretenen und zerfurchten Weg. Die meisten Bäume waren bereits bis auf die Stümpfe herunter geschnitten und trieben an vereinzelten Stellen neu aus. Die Ruten nahmen die Bauern für Körbe und Zäune. Flechten ist eine Winterarbeit. Das wusste Albrecht, weil er häufig draußen vor der Stadt herumstromerte, hier und da bei Bauern oder Fischern in die Stube schaute. Albrecht hatte ein offenes, freundliches Wesen. Das machte ihn unter den Leuten beliebt. Er steckte seine Nase in alle möglichen Angelegenheiten, war neugierig und mitteilsam. Wenn er irgendwo einkehrte, ließen sie ihn gewähren. War er doch angesehener Bürger Spross. Zugleich sagten die Leute von ihm: Er ist ein Herumtreiber, ein Taugenichts, ein Tunichtgut.

Seine hohe Geburt gestattete ihm ein gutes Leben, doch an seiner Ausbildung oder Arbeit hatte bisher niemand Interesse gezeigt. Solange sein um zehn Jahre älterer Bruder Caspar die Hoffnungen auf Nachfolge im väterlichen Geschäft erfüllte, kümmerte sich kaum mal jemand um Albrecht. Freilich hatten die Eltern und der Großvater ihn lieb, erfüllten ihm fast alle Wünsche, aber deren Sorglosigkeit ließ den Jungen verwildern. Sie rechtfertigten sich damit, dass ihm ohnehin ein schweres Leben bevorsteht, wenn er nämlich ins kurfürstliche Heer eintritt. Dann sind Strenge, Entsagung und körperliche Ertüchtigung angesagt. Schon längst hätte Albrecht als Knappe sinnvoll beschäftigt sein können, doch die Mutter barmte, wollte den Knaben nicht hergeben, und der Großvater warnte, man wisse nie, ob der Caspar sich im Handelsunternehmen bewährt. Da ist es gut, einen Reservekandidaten vorzuhalten. Und der lebte einen angenehmen Tag zwischen Müßiggang und Spiel.

Das Spiel erregte und geißelte den Jungen gleichermaßen. Er lobte sich den Nervenkitzel zwischen Einsatz und Gewinn. Er hasste die Bettelei um Geld. Vom Vater war der Spieleinsatz niemals zu erheischen. Der Alte saß auf dem Gelde und rückte nichts für Vergnügungen heraus. Die Mutter zwackte vom Haushalt ab, was ihr Sohn hier und da nebenbei brauchte. Sie gab weichherzig nach und bangte um ihres Jungen zügellose Leidenschaft. Albrecht liebte die Mutter. Er wollte sich ändern. Er hatte die besten Vorsätze. Heute wird er ein letztes Mal spielen, nahm er sich fest vor.

An der Seite schnitt ein junger Mann Weidenruten. Albrecht passierte die Stelle. Sie begrüßten einander. Da erkannte er den Tönnies und blieb stehen. Anteilnehmend fragte Albrecht: „Nun, hast Du schon was für den Winter gefunden?“ Tönnies unterbrach die Arbeit und schüttelte den Kopf.

Er war einer der Hilfsarbeiter, wie sie die Stadt während der Sommermonate zu Hauf beschäftigte und im Winter vor die Tore setzte. Hatten sie Arbeit und Schlafstelle, war gut leben. Fehlte es daran, wurden sie ausgewiesen. Obdachlose und Bettler duldeten die Bürger nicht. Eine straff geführte Stadtwache räumte Abend für Abend die Straßen Tangermündes von herumziehendem Volk frei. Das war in der warmen Jahreszeit erträglich. In den kalten Nächten tödlich. Der Tönnies war jung, kräftig, gewitzt. Er überlebte jetzt schon das fünfte Jahr ohne feste Unterkunft und Anstellung. Albrecht von Minden und viele andere kannten den Tönnies sehr gut.

Zuweilen kam es vor, dass ein Geschäftsmann für einen größeren Auftrag vier oder fünf zuverlässige Arbeiter suchte. Dann rief der den Tönnies. Der kam mit kräftigen, jungen, zuverlässigen Kerlen und sie arbeiten die Aufgaben ab. Da wurde nicht gefeilscht, nicht gepöbelt, nicht geklaut. Da wurde rangeklotzt und der Arbeitgeber war am Ende zufrieden.

Tönnies war ein guter Fachmann. Er hatte Tischler gelernt, aber wegen der strengen monetären Auflagen seiner Zunft kein eigenes Gewerbe aufmachen können. Nun verdingte er sich als Tagelöhner. Die Alternative hieß Auswandern. Allein, der Tönnies liebte die Heimat. Seine Lebensmaxime waren der Stolz und die Bodenständigkeit. Er sagte jedem, der es hören wollte, und auch denen, die es nicht hören wollten: „Wenn die Stadt mir das Gewerbe nicht gibt, strafe ich sie mit meinem Martyrium.“ Er qualifizierte sich selbst zur leibhaftigen Anklage gegen die Engherzigkeit der Tangermünder. In der Tat verfehlte der Vorwurf den Zweck nicht ganz. Die Bürger fühlten sich durch den Anblick der Armen unangenehm bedrängt.

Albrecht bedauerte den Tönnies. Der sagte herausfordernd: „Ist eventuell ein von Minden bereit, mich über den Winter zu beschäftigen und lässt mich bei sich wohnen?“ Albrecht winkte ab. Er wusste, dass sein Vater zu den ganz hartgesottenen Bürgern gehört, die niemals auch nur einen Groschen für einen Bedürftigen herreichen, geschweige denn Quartier für die langen Wintermonate bereitstellen. Eher gab der alte von Minden sein Geld dafür aus, die Stadtbefestigung auszubauen und die Wachen hochzurüsten.

Albrecht selbst genoss Freiheiten wie kaum ein zweiter. Noch dazu hatte er sich mit dem Landsknecht Karl Hafermaß angefreundet, der ihm für ein Handgeld von nur einem Groschen Tag und Nacht das kleine Schlupftürchen im Stadttor öffnete.

„Vielleicht lässt sich mal was arrangieren“, versprach er gutmütig und dachte ehrlichen Herzens: Wenn ich große Schlachten geschlagen habe und zu Ruhm und Reichtum gekommen bin, werde ich ein schönes, gepflegtes Armenhaus einrichten. Dann braucht niemand im Winter zu hungern und zu frieren. Vielleicht gewinne ich ja auch heute die Bank, dann kann ich dem Tönnies das Geld geben und er mietet sich irgendwo ein.

Albrecht verabschiedete sich von Tönnies und lief weiter auf Bölsdorf zu.

An diesem Abend gewann Albrecht mehr als er jemals eingesetzt hatte. Er spielte zunächst sehr vorsichtig, steckte sein Geld weg und hielt sich bei den weiteren Runden bedeckt. Immer nur kleine Einsätze. Nach einer Weile hatte er seine Schuld getilgt und noch gutes Geld heraus. Entspannt konnte er dem Spiel zuschauen und zuweilen selbst mitmischen. Der Wirt, Kilian Kleiber, nahm anfänglich nur sporadisch am Spiel teil, denn er hatte Gäste zu bedienen, die Magd zu unterweisen und draußen im Hof die Pferde der Durchreisenden zu versorgen. Zu später Stunde, als im Krug nur noch wenige, sehr müde Gäste bei einem späten Bier hockten, gesellte sich Kilian fest zu den Spielern. Die Szene war bekannt: Kilian forderte den Einsatz. Die ließen sich gern überreden. Hier saßen keine Feiglinge. Kilian wechselte die Würfel aus, mischte schnell, griff sich in die Jackentasche, mischte wieder, ließ die Würfel auf die Tischplatte rollen. Sechsmal die Sechs. Erstaunen, Bewunderung, Lob. Kilian strich die Bank ein.

Neue Runde, neues Glück. Die Magd brachte Getränke auf Kosten des Hauses. Sie ließen sich nicht lumpen. Sie langten zu. Die Münzen kullerten auf den Tisch. Kilian gewann wieder, gewann in einem fort. Die verblüfften Spieler berechneten mit vernebeltem Gehirn ihre Chancen und setzten neu. Diese eine Runde noch. Der Kilian muss doch zu bremsen sein. Die Glückssträhne muss heute abreißen. Kilian war nicht zu bremsen. Die Glückssträhne riss nicht ab.

Als Albrechts Taschen restlos leer waren, gewahrte er, dass sein guter Vorsatz zerstoben ist. Wütend brüllte er: „Du Betrüger!“ Die Mitspieler griffen den Ausbruch wie einen Schlachtruf auf. Sie stürzten sich zu fünft auf den Wirt, schlugen auf ihn ein, fledderten im die Kleidung runter. Mit „Du Falschspieler!“ und „Du Betrüger!“ peitschten sie sich gegenseitig hoch. Der Wirt lag am Boden. Da sauste ein Knüppel auf den Wehrlosen nieder. Der Kopf war tief gespalten. Blut rann heraus. Der Mann hauchte sein Leben aus. Die Spieler ernüchterten augenblicklich. Die Magd schrie: „Mord!“

Sie starrten sich entsetzt an.

Die Magd geiferte: „Mörder.“ Einer sagte: „Der Albrecht hat angefangen.“ Ein zweiter sagte: „Der Albrecht hat den Wirt erschlagen.“ Da wussten alle: „Albrecht ist der Mörder.“

Die Gruppe der übrigen Spieler rückte zusammen und von Albrecht weg. Der wich zur Türe aus. Die anderen folgten ihm. Albrecht versuchte stammelnd zu erklären: Er habe doch den Knüppel nicht geführt. Er habe doch niemanden erschlagen wollen. Albrecht drückte gegen die Tür. Die Tür sprang auf. Er stolperte ins Freie.

In der tiefen Dunkelheit der Nacht, nur der Mond gab fahles Licht, strauchelte Albrecht heimwärts. Er brachte nicht zusammen, was er soeben getan hatte. Er klagte und weinte und taumelte vorwärts. An einem Weidenstumpf setzte er sich nieder und offenbarte dem lieben Gott sein Leid. Als er die ganze Litanei zum dritten Mal runter hatte, sprach eine Stimme zu ihm: „Junge, da hilft nur eins: Auswandern.“

Albrecht war so fertig, dass ihn nicht mal mehr erstaunte, wie Gott zu ihm sprach. Er führte Rede und Gegenrede mit Gott, bis der sich zu erkennen gab. Der Tönnies war durch den krakeelenden Nachtwandler aufgeschreckt und hatte ihn aufgespürt. Tönnies wiederholte: „Da hilft nur eins: Du musst auswandern.“ Er entwickelte nüchtern die Aussichten: „Auf Mord steht die Todesstrafe. Ist ganz klar. Du bist der Täter. Fünf oder mehr Zeugen gegen Dich. Du kannst das Gegenteil nicht beweisen. Die Sache ist gelaufen.“

Albrecht sank zusammen.

Tönnies behutsam: „Geh‘ heim, packe ein paar Sachen zusammen, nimm etwas Geld mit und zieh‘ in die Welt. Bevor der Mord ruchbar wird, kannst Du über die Landesgrenze sein. Man fandet nach Dir, man sucht Dich, aber niemand findet Dich. Verdinge Dich draußen, so gut es geht, und komm später als reicher Mann heim, dann ist alles vergessen. Die von Minden haben doch Geld, die werden inzwischen den Mordprozess schon niederschlagen.“

Albrecht schöpfte Hoffnung.

Er klopfte seine Kleider ab, suchte den Weg, wollte nach Hause laufen und tun, wie ihm geraten war. Da merkte er, dass ihm ja nicht mal mehr der eine lumpige Groschen, notwendiges Salär für die Passage durchs Stadttor, geblieben war. Wie ein gerupftes Huhn stand er vor Tönnies. Alles ist aus, alles ist verspielt.

Nein.

Tönnies hielt dem Albrecht ein silbern glänzendes Geldstück hin. „Nimm das und lauf!“, sagte er. Albrecht ahnte, dass dieses Geld Frühstück, Mittag und Abendessen des armen Mannes für die nächsten Tage war. Er kannte die gängigen Preise. Er umarmte und küsste den Tönnies: „Das vergesse ich Dir nie.“ Tönnies hielt barsch dagegen: „Lauf, sonst haben Dich die Häscher, bevor Du es mir vergelten kannst.“

Albrecht stob davon.

Er erreichte ungesehen das elterliche Anwesen in der Schlossfreiheit. Er schlüpfte in eine Seitengasse, erkletterte die den rückwärtigen Garten umgebende Mauer, balancierte darauf entlang bis zum Schuppendach, überquerte es, erklomm das offene Treppenhaus, stieg bis ganz nach oben, schwang sich übers Geländer zum Fenstersims, drückte das vorsorglich nur angelehnte Fenster auf und ward in seinem Zimmer. Albrecht verzichtete auf Licht und vermied jedes Geräusch. Leise, ganz leise packte er etwas Kleidung in seinen Rucksack und dazu einige Dinge, von denen er glaubte, dass sie Wert haben könnten. Er nahm sie an Geldes statt. Irgendwie musste er sich ja ernähren und eventuell Fuhrleute dingen, auch wollten der Weg durch die Stadtmauer und des Torwächters Schweigen erkauft sein.

Licht erhellte das Zimmer. Albrecht fuhr herum und schaute in die schreckensgeweiteten Augen seiner Mutter. Eine Kerze haltend stand sie im Türrahmen. „Was ist geschehen?“, fragte sie, obwohl sie längst wusste, dass ein großes Unglück passiert ist. Albrecht schilderte mit flatternder Stimme, was sich im Krug zu Bölsdorf ereignet hatte und dass er als der Mörder erkannt ist.

Der Sohn ein Mörder? Das glaubte die Mutter nicht. Wobei, er war ein Spieler. Wer weiß, was ein Spieler in seiner größten Bedrängnis tut? Sie schob zweifelnd ihre Gedanken hin und her. Eins stand jedenfalls fest: Ihr Kind ist in Not. Sie muss helfen. Er braucht Geld, dringend Geld. Geld hatte sie kaum, nur ein paar Groschen.

Die Mutter verschwand und kehrte mit den Münzen wenige Augenblicke später wieder zurück. Sie drückte dem Jungen das Geld in die Hand. Er steckte es weg. Zuwenig. Das wird kaum ein paar Tage langen. Entschlossen nahm sie ihr Goldkettchen vom Hals. Eine zierliche Kette mit einem winzigen Anhänger, der wie eine Krone geformt ist. Sie legte die Kette in ein kleines Tuch, streifte auch noch zwei Ringe von den Fingern und gab die dazu. Sie verknotete das Stück Stoff und reichte es dem Sohn.

Sie umarmten und küssten sich. Die Mutter löschte das Licht. Der Albrecht verschwand auf dem gleichen Wege wie er gekommen war. Die Mutter wachte am offenen Fenster bis der Morgen graute.

Grete Minde in Tangermünde

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