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Margarete und Albrecht von Minden

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Margarete und Albrecht von Minden durchwanderten kreuz und quer das Land. Der Geleitbrief über das Handwerk der Gaukler öffnete ihnen die Stadttore und stellte die patrouillierenden Landreiter zufrieden. Sie lebten von Gelegenheitsarbeiten in Haus und Hof. Zuweilen trat Margarete mit Gesang auf Märkten und in Gastwirtschaften auf. Allmählich kam wieder ein kleiner Hausstand zusammen. Nur leider niemals mehr so viel, dass man sich Pferd und Wagen hätte leisten können oder müssen. Sie transportierten ihr Eigentum auf dem Buckel und hofften von einer Station zur nächsten, dass es bald besser werden möge. Hin und wieder erwog Margarete das Goldkettchen, welches sie nun ständig um den Hals trug, zu verkaufen. Albrecht bestand darauf, die Kette zu behalten. Sie gab nach, und sie hungerten sich tapfer auch noch durch diese Krise. So vergingen viele Monate. Die Winter waren hart, die Quartiere eiskalt, des Sommers war die Landstraße staubig und trocken. Allein, die beiden verloren den Mut nie ganz und machten immer weiter.

Wie von einem Bannkreis umgeben mieden Margarete und Albrecht die Gegend um Tangermünde und Stendal. Man konnte nie wissen, inwieweit Albrecht noch gesucht wurde und eventuell erkannt werden würde. Obwohl Margarete nicht so recht glaubte, dass irgendjemand den Albrecht, so wie er heute ausschaute, überhaupt wiedererkennen könnte. Der Mann war in die Höhe und in die Breite gewachsen. Wetter, Arbeit, Erfolge und Misserfolge, Freud und Leid hatten ihn krass verändert. Aus dem ehemals zarten, gepflegten, verwöhnten und zuweilen unbeholfenen Knaben war ein äußerlich rein grober Kerl mit einem gewinnenden, freigiebigen Herzen geworden. Wiederzuerkennen war Albrecht bestenfalls an seiner Biografie und die musste er ja nicht jedem aufbinden. Nichtsdestotrotz schlugen die beiden um die Gegend von Tangermünde und Stendal gewissenhaft einen großen Bogen.

Im Herbst des Jahres 1613 kamen Margarete und Albrecht nach Wittenberge, eine Stadt an der Elbe. Sie hatten Glück. Der Schmied suchte gerade einen Knecht. Albrecht ward angenommen, Margarete verdingte sich als Magd im Haus, und sie bezogen ein Kämmerchen neben der Werkstatt. Das Stübchen war Tag und Nacht gut geheizt, denn das Schmiedefeuer loderte ohne Unterlass. Albrecht erhielt ausreichend Lohn, so dass sie nicht zu hungern brauchten. Wärme und Nahrung ließ die beiden aufleben und mit den Worten „hier bleiben wir endgültig“ setzten sich der Mann und die Frau in Wittenberge fest.

Albrechts Dienst war denkbar einfach: Am Tage hatte er Botengänge zu erledigen und nachts das Feuer zu hüten. Das durfte nicht ausgehen und es durfte nicht zu hoch lodern. Die Stadtväter hatten ein strenges Brandschutzreglement durchgesetzt. Der Schmied hielt sich sowohl im eigenen Interesse als auch zum Wohlsein der gesamten Bürgerschaft daran. Stadtbrände waren schon überall im Land des Öfteren vorgekommen und die Horrorvision aller Bürger. Brände aus Leichtsinn entstanden und Brände mit Absicht gelegt. Brandwachen hatte jede Stadt, eine gut ausgerüstete Feuerwehr und einen bestens durchdachten Evakuierungsplan. So war es auch in Wittenberge.

Wenn Albrecht nachts das Schmiedefeuer hütete, leistete ihm Margarete gern Gesellschaft. Da erzählte er dann in den langen Stunden bis zum Morgen von der Heimatstadt, der Familie, den Nachbarn, seiner Kindheit, von der Mutter, dem Großvater, eben von alledem, was sein früheres Leben ausgemacht hatte. In Margarete entstand das Bild bis ins Detail und sie wusste am Ende selbst die Farbe der Fensterscheiben zu beschreiben.

Irgendwann hatten sich die Erinnerungen erschöpft. So kam es dann, dass sie neue Pläne schmiedeten. Margarete träumte anknüpfend an ehemalige Erfolge von einem eigenen Theater, möglichst fest etabliert hier in der Stadt, von Publikationen, davon weitere Bildung zu erheischen und auch zu vermitteln. Albrecht sann dem ehemals flüchtig aufgekommenen Wunsch nach, ein Armenhaus einzurichten. Was hinderte die beiden, der Not so glücklich entronnenen, jungen Menschen daran, sich diesen Zielen erneut zuzuwenden? Geld war dazu nötig. Also sah sich Albrecht nach zusätzlichen Diensten um. Er nahm Tätigkeiten aller Art an, verdingte sich über seine üblichen Pflichten hinaus als Kutscher, Handlanger, Aushilfe in vielen Häusern, Höfen, auf Baustellen.

Allmählich sammelten sich Groschen und Taler im Sparstrumpf, einige Goldmünzen kamen auch dazu. In Mußestunden wurde das Geld gezählt und die Visionen zeichneten sich mit klaren Konturen ab.

Im Frühjahr des Jahres 1614 meldete sich Margaretes und Albrechts erstes Kind an. Der werdende Vater geriet vor Freude aus dem Häuschen. „Mein Kind soll es guthaben“, beschloss er froh und schuftete bis zum Umfallen. Die kleine Stube malerte Albrecht neu aus, tischlerte eine Wiege fürs Kind und eine Truhe für die Haushaltswäsche. Margarete hängte bunte Vorhänge auf und stellte Blumen ins Fenster. Sie schneiderte kleine Hemden und Höschen.

Eines Tages erwarb sie beim Gemischtwarenhändler ein Schreibbuch, Tinte und Feder. Von da an notierte sie die Annalen der Familien von Minden und Calberger. Ihrem Mann erklärte sie: „Nach der Familienchronik verfasse ich ein neues Textbuch für mein Theater.“ Sie sprudelte vor Energie. Albrecht opponierte: „Meinst Du nicht, dass vor dem Theater das Armenhaus Priorität hat?“ - „Wir können beides schaffen. Allerdings müssen wir mehr Geld hereinbekommen. Und das bekommen wir nur herein, wenn ich nicht nur ab und an als Magd Hilfsdienste mache. Sieh mal, mein Beruf ist der der Schauspielerin. Nur so kann ich richtig Geld verdienen. Zuerst kommt also das Theater“, entwickelte sie. Das hatte auch für Albrecht eine gewisse Logik. Nur ganz so einsichtig, wie er sich gab, war er indessen nicht. Er lenkte ab: „Welches Stück geben Sie zuerst, gnädige Frau?“ Margarete antwortete ernst: „Vielleicht unser eigenes: Die Wanderungen des armen Mannes.“ - „Ich weiß nicht“, murrte Albrecht, „wen interessieren denn solche Lebenswege?“ Margarete sagte nachdenklich: „Ich denke, das Publikum lässt sich bilden. Wenn man denen immer nur dieses flache Zeug anbietet, muss es ja verblöden.“ Albrecht wiegte den Kopf. Was seine Frau da vorhatte, ging weit über das Übliche hinaus. Man bot auf der Bühne Schwänke, Moritaten, Artistik, Zauber und vor allem Kaspereien. War es klug, sich derart zu profilieren? Indes hörte er: „Bedenke, ich werde älter. Das Gehopse auf der Bühne werde ich sowieso nicht ewig bringen. Da sind wir klug, wenn wir jetzt schon an gesetztere Stücke denken.“ Albrecht unternahm nichts, um seine Frau zu bremsen. Das wäre ja auch völlig zwecklos gewesen. Allein, ihre unkonventionelle Art ließ ihn immer wieder erschaudern. Freilich konnte er sich selbst auch nicht gerade einen lebenserfahrenen Mann nennen, aber er meinte fest: Eine mehr besonnenere Lebensart stünde Margarete besser zu Gesicht. Ihm lag an einer soliden Basis. Er gab sich der Hoffnung hin, sie würde ihrem Mutterglück nachgeben und sich vollkommen auf die Hausfrauenrolle konzentrieren. Er arbeitete noch besessener als zuvor.

Eines Abends saß Albrecht völlig erschlagen am Tisch. Er mochte nicht essen, höchstens etwas Wasser trinken. Margarete stellte besorgt fest: „Du hast Dich übernommen.“ Er sagte schlaff: „Mag sein.“ Forschend beschaute sie ihn: Er sieht mitgenommen und sehr müde aus. Er muss unbedingt schlafen. Die heutige Nachtwache kann er unmöglich durchhalten. Kurz und gut: Margarete steckte ihren Mann ins Bett und setzte sich selbst neben das Schmiedefeuer. Die Nacht verlief wie alle anderen ohne Zwischenfälle.

Als Margarete am Morgen ihren Mann wecken wollte, bemerkte sie, dass er hoch fiebert und nicht zu Bewusstsein kommt. Sie untersuchte ihn, stellte ein kleine, gerötete Wunde am linken Handteller fest. Die Frau versorgte die lädierte Stelle und blieb dann wachend, auf alle Lebenszeichen ihres Mannes achtend am Bette hocken. Der Mann schlief, schwitzte, stöhnte, röchelte, rang nach Luft, warf sich hoch, fiel in sich zusammen, warf sich wieder hoch und erwachte. „Margarete, ich sterbe.“ Die Frau wusste es bereits: Er stirbt am Wundfieber. Sie lächelte und tröstete: „Albrecht, Lieber, so leicht stirbt man nicht. - Wenn doch, sehen wir uns im Himmel wieder. Gott nimmt uns auf.“ Albrecht schloss die Augen und schlief ruhig.

Margarete schöpfte Hoffnung: Vielleicht hat sein Körper ausreichend Kraft, vielleicht ist meine Diagnose falsch. Wunder gibt es immer wieder. Margarete vermisste schmerzhaft ihre Apotheke. In ihrer Not lief sie zum Medicus, rang die Hände, bat um Hilfe. Der Arzt dachte: Arme Leute, die werden mir nicht mal die Mühe des Weges entlohnen. Trotzdem ging er mit, denn er meinte: Vielleicht kann ich die Frau zu irgendwas verpflichten. Jung ist die ja, kräftig und hübsch.

In der kleinen Stube überblickte der Medicus rasch die Situation: Der Mann stirbt am Wundfieber. Aber ach, was soll‘s?, zahlen muss die Frau. Er sagte schmierig: „Das ist so schlimm nicht. In ein paar Stunden ist Dein Mann wieder auf den Beinen. Ich habe ein probates Mittel.“ Er zog ein Fläschchen mit gefärbtem Wasser heraus, hielt es der unglücklichen Hausfrau vors Gesicht und versicherte: „Ganz neues Elixier, extra gegen Wundfieber. Allerdings kostet es einiges.“ Die Frau wusste, dass es immer wieder mal neue Entdeckungen gibt. Sie hörte, was sie hören wollte, und ließ sich täuschen. „Was soll es kosten?“, fragte sie. Er hielt die freie Hand bereits auf Margaretes Brust und sagte schleimig: „Eine kleine Gefälligkeit nur.“ Sie entzog sich dem Mann, nahm das Geldsäckchen aus der Truhe und schüttete ein paar Münzen auf den Tisch. Verdammt, die Frau hat Geld!, registrierte der Medicus scharf und befahl sich: Zulangen! Er trieb den Preis in die Höhe. Sie zahlte, ohne zu feilschen, immer mit dem Gedanken im Kopf: Um Himmels Willen, mir stirbt der Albrecht. Endlich händigte er ihr die Flasche aus und riet: „Einen Trank aus zwanzig Tropfen und alle Stunde wiederholen. Morgen ist er wieder wohlauf.“ Margarete eilte stehenden Fußes in die Küche und bereitete den Trank zu. Der Medicus nahm das Geldsäckchen an sich und schlich von dannen.

Der Todeskampf des Albrecht dauerte einen halben Tag.

Margarete wusch und bettete den Toten, wie es der Brauch verlangte, flocht eine Blume zwischen die steif werdenden Finger und stellte eine brennende Kerze auf. Sie setzte sich nieder, zog ihr Buch heran und notierte: „Albrecht von Minden verstarb am Abend des 1. Juli 1614 hier in Wittenberge.“ Margarete wartete bis die Tinte trocken war, schlug das Büchlein zu, verwahrte es am Busen und hielt die ganze Nacht Totenwache.

Am nächsten Morgen rief der Schmied nach seinem Knecht. Er wurde nicht gehört und betrat forschend der von Minden Kammer. Er gewahrte den Toten und die trauernde Witwe. Ein Toter in seinem Haus! Der Schmied war ein rechtschaffener Mann. Er bestellte den Medicus und ließ den Mann die Todesursache zweifelsfrei feststellen. Inzwischen kamen die neugierigen Nachbarn gelaufen und gafften. Der Medicus untersuchte, dachte nach und gab sicher an: „Wundfieber, mag sein.“ Er ergänzte schonungslos: „Es kann aber auch die Pest wieder grassieren.“

Das Wort „Pest“ zündete wie Schwarzpulver. Augenblicklich orderte der Hausherr Knechte. Der Seuchenschutz oktroyierte völlige Isolierung aller Kontaktpersonen und Abbrennen sämtlicher Gegenstände aus dem Umfeld des Verstorbenen. Die Männer luden den Toten auf einen Karren, schleppten den gesamten Hausrat der von Minden mit hinaus, türmten alles oben drauf, zogen mit der Last vor die Stadt auf freies Feld und legten Feuer an die Ladung. Schaulustige folgten neugierig, gruselig erregt, ängstlich und mitleidig der Vernichtungsaktion. Margarete stand dumpf ergeben dabei. Fast nichts hatte sie behalten dürfen und bei dem ganzen Tohuwabohu war irgendwann auch das Geldsäckchen verloren gegangen. Geduldig nahm sie hin, was nicht zu verhindern war. Margarete sah ihren Hausstand schwinden und den Toten verkohlen. Als aus dem winzigen Häufchen Asche nur noch ein feiner Faden weißgrauen Rauches in den strahlend blauen Sommerhimmel empor stieg, wendete sie sich ab.

Margarete lief und lief. Doch wohin? Möglichst weit weg, denn der Pestverdacht war so leicht nicht auszuräumen. Sie musste eine Gegend aufsuchen, wo sie niemand kennt, kein Gerücht sie verfolgt. Nach einigem Nachdenken entschied sie sich, Jörgen Haffner in Stendal um Hilfe zu bitten. Hatte der Haffner ihr nicht versprochen, ihr in der Not beizustehen? In großer Not war sie ja nun: Sie besaß nur, was sie am Leibe trug, ihr Goldkettchen mit dem Anhänger, der wie eine Krone geformt ist, den Geleitbrief für Gaukler und das kleine Büchlein mit der Familienchronik.

Am späten Abend des 1. August 1614 langte Margarete nahe Stendal an. Die Tore waren schon geschlossen. Sie lagerte wie andere Ankömmlinge am Fuße der Stadtmauer und wartete auf den nächsten Morgen. Sie überlegte, wie sie am besten in die Stadt hineinkommt. Ihr Geleitbrief als Gauklerin nutzte ihr diesmal nichts, denn in ihrem Zustand konnte sie sich nicht als Schauspielerin oder Artistin ausgeben. Unweigerlich würden strenge Verhöre bei der misstrauischen Stadtwache über ihre Ziele und Beweggründe folgen. Sie lief Gefahr, als Obdachlose abgewiesen zu werden. Am Morgen nutzte sie den Moment des größten Verkehrs und schlüpfte, sich geschickt duckend und wendend, unkontrolliert zwischen herein und heraus strömenden Menschen und Wagen in die Stadt.

Die Haffners, Jörgen und seine Frau Ottilie, empfingen Margarete mit offenen Armen. Sie waren erschrocken über Margaretes Zustand. Die war in anderen Umständen und restlos heruntergekommen. Jörgen ordnete an: „Ein Bad, frische Kleidung und Essen!“ Seine Frau und die Knechte tummelten sich. Margarete nahm die Zuwendung dankbar an.

Haffner selbst ging aufs Rathaus und meldete die Ankunft seiner Base an. Der über jeden Zweifel erhabene Ruf des Scharfrichters legitimierte den Aufenthalt der Margarete von Minden in der Stadt.

Allmählich erholte sie sich von den Strapazen der Reise und von der niederschmetternden Tatsache, dass ihr Mann verstorben war. Zug um Zug erfuhren die Haffners, was die Frau in den letzten Jahren erlebt hatte, und mit tiefem, ehrlich empfundenem Mitgefühl beschlossen sie, Margarete dauerhaft in ihr Haus aufzunehmen.

Dabei ging es im Hause der Haffners jetzt schon ziemlich eng zu. Neben Vater und Mutter, drängten sich zwei Knechte, Artur und Marcus, und Haffner junior, Otto, in den Räumen.

Haffners Beruf brachte nicht so viel ein, dass er hätte üppig leben oder sich ein größeres Haus bauen können. Die Entlohnung eines Scharfrichters ging nach Leistung: Jeder Fall bringt je nach Länge des Verhörs und nach der Art der eingesetzten Mittel entsprechend einer festgesetzten Taxe ein bestimmtes Salär ein. Haffner hatte seinerzeit das Handwerk vom Vater geerbt. Ganz natürlich reihte sich der junge Jörgen in die Familientradition ein. Er überführte Missetäter und tötete sie. Er beherrschte sein Fach und den Sittenkodex. Sein Amt war eine Wohltat für die friedlichen Bürger und das Gemeinwesen. Allerdings ist ein Scharfrichter immer auch ein Richter. Er hat Recht von Unrecht zu unterscheiden, jeglicher Willkür Einhalt zu gebieten. Wenn der Scharfrichter die Tortur anwendet, will er die Wahrheit zu Tage fördern oder bekehren, nicht aber ein vorgefertigtes Urteil bestätigt wissen. Haffner stieß irgendwann auf: Da werden Leute abgeurteilt und dem Feuertod übergeben, die nichts aber auch gar nichts verbrochen haben. Ein Scharfrichter spürt, ob einer die Wahrheit sagt oder nicht. Er kennt seine Pappenheimer. Den Haffners blieb im Getriebe der willkürlich gebrauchten staatlichen Gewalt nur eins: Den Delinquenten unter der Folter und im Feuer Milde zukommen zu lassen. Sicher gibt es unter den Scharfrichtern auch Sadisten. Ganz sicher. Aber die meisten Genossen seiner Gilde, wusste Jörgen, arbeiten im Beruf, weil sie ihn geerbt und nichts anders gelernt hatten. Da bleibt nur, Gnade vor dem so grausam wütenden Recht zu üben: Mit einem Narkotikum oder einem Halluzinogen verschafft er dem Gepeinigten Wohltat, kürzt das Prozedere ab, erleichtert sein Gewissen und versperrt sich damit selbst unweigerlich den Weg zu Wohlstand. Ganz selten kam dem Haffner mal ein Fall unter die Hände, da er ruhig die Tortur nach allen Regeln der Kunst anwenden und damit auch kräftig verdienen konnte.

Kurz und gut: Die Haffners gewährten der mittellosen Margarete Kost und Logis, obwohl sie selbst nichts im Überfluss hatten.

Völlig sorglos sah Margarete der Geburt ihres Kindes entgegen. Als Heilerin war sie mit den natürlichen Gegebenheiten von Schwangerschaft und Niederkunft vertraut. In der freundlichen, offenen Atmosphäre des Haffner-Hauses war es eine wahre Lust ein Kind zu zur Welt zu bringen, zumal der Hausherr sich selbst wie ein werdender Vater oder Großvater benahm. „Mädel, Du musst uns ein Mädchen schenken“, beschwor sie Jörgen gutgelaunt, „wir haben hier schon genug Männer im Haus. Ein Mädchen würde mal ein gewisses Gleichgewicht herstellen.“ Margarete ging frohsinnig auf die Rede ein: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Sie lachten und scherzten. Es war ihnen wohl zumute. Ottilie vertrieb den Sohn aus seinem Bereich und richtete ein Mutterstübchen für Margarete ein. Otto knurrte: „Alles für Margarete und nichts für mich.“ Die Mutter besänftigte den Halbwüchsigen: „Aber wenn Du ein Brüderchen bekommst, ist es auch nicht so schlecht.“ Otto, der absolut keinen Plan hatte, was er mit einem frisch geborenen Brüderchen anfangen sollte, gab gutwillig nach und räumte seine persönlichen Sachen in Arturs und Marcus‘ Wohnraum.

Am Abend eines Freitags Mitte September zog sich Margarete auf ihre Kammer zurück. Die Wehen hatten eingesetzt. Geduldig wartete sie, was sich ereignen würde. Wie die Kontraktionen sich allmählich verdichteten, vermerkte die Frau mit Befriedigung, dass es gut vorwärts geht. In der Nacht ließen die Wehen nach. Margarete wusste auch das richtig zu bewerten: Das Kindchen muss sich den Weg ja erst bahnen, da sind Ruhezeiten im Geburtsverlauf durchaus normal. Sie schlief darüber ein. Am Sonnabendvormittag setzten die Wehen wieder stärker ein, Kontraktion auf Kontraktion folgte. Die Kreisende atmete tief in jede Wehe hinein, gab sich vollkommen der Naturgewalt hin, allein ihr Körper wollte sich nicht öffnen. Das ging so Stunde um Stunde bis zum späten Nachmittag. Das kostete Kraft. Das erschöpfte die Frau. Sie streckte sich ermattet auf dem Bett aus und verspürte eine weitere Pause im Geburtsverlauf. Die sorgenvoll hereinschauende Hausfrau fand Margarete ruhig, aber totenblass mit spitzer Nase und tiefen Augenringen auf dem Lager liegend und fragte sorgenvoll: „Margarete, was ist Dir?“ Die Kreisende erklärte mit wenigen Worten, wie sie sich befand. Das ist nicht in Ordnung, konstatierte Ottilie Haffner, ging hinaus und rief nach dem Hausherrn.

Jörgen Haffner war in Sachen Anatomie und Physiologie ausgezeichnet unterrichtet. Das brachte sein Beruf mit sich. Mit Sachkenntnis erörterten die beiden Haffners Margaretes Zustand. Jörgen entschied: „Wir warten noch ein paar Stunden und wenn sich dann nichts getan hat, greifen wir ein.“ Vorsorglich legte der Mann ein paar Werkzeuge, Zangen, Messer, Schere und Faden, zurecht. Ottilie Haffner mischte aus den gewissenhaft gehüteten Arzneien ein Narkotikum. Als alles soweit vorbereitet war, setzten sie sich nieder und lauschten auf jedes Geräusch. Es tat sich nichts. Gegen Mitternacht gingen sie zu der Kreisenden hinein. Die reagierte kaum noch.

Mit behutsamen Handgriffen befreiten sie Margarete von ihrer Kleidung. Jörgen zog Margarete am Oberkörper hoch und hielt sie in dieser Stellung fest. Ottilie suchte und fand auf dem Bauch der Kreisenden den richtigen Druckpunkt, presste mit aller Kraft ihre eine, zur Faust geballte Hand in den hoch gewölbten Leib, mit der anderen, offenen Hand stützte sie der Frau Beckenboden ab. Ein durchdringender Schmerz nahm Margarete das Bewusstsein.

Ottilie Haffner hob ein schrumpeliges, blaurot gefärbtes, matt glänzendes Kindchen aus dem Mutterschoß. „Aha, Steißlage“, erkannte sie den Grund der Verhinderung. Jörgen Haffner brachte die junge Mutter vorsichtig in Liegeposition und bedeckte sie mit Tüchern. Der kleine Mensch in Ottilies Händen zitterte, japste nach Luft und schrie mit einem Mal, dass es einem durch Mark und Bein ging. Die Haffners schauten sich glücklich an: „Uns ist ein Jesuskind geboren.“ Jörgen Haffner kniete nieder, ließ sich das Kind auf seine großen verarbeiteten Hände legen und sprach ein Gebet.

Während Frau Haffner das Kind versorgte, kümmerte sich Jörgen Haffner um Margarete. Sie musste gewaschen, bekleidet und in frisches Bettzeug gelegt werden. Die junge Mutter erwachte aus ihrer Ohnmacht und blickte ängstlich suchend im Raum umher. Haffner: „Sei ganz ruhig, es ist alles gut gegangen. Ein kleiner Jesus ist geboren.“ Ottilie gab der Mutter das Kind in den Arm. Beide schliefen selig ein. Die Haffners räumten noch auf und gingen dann in ihr Schlafzimmer.

Am Vormittag öffnete der junge Otto Haffner ganz leise die Kammertür und lugte zur Margarete herein. Die schaute hoch und lächelte. Otto fragte unsicher: „Darf man mal das Kindchen sehen?“ Margarete lud den Jungen ein. Erklärend fügte Otto hinzu: „Die Mutter sagt, es ist ein Jesuskind geworden.“ Margarete schränkte ein: „Nun ja, nicht gerade ein Jesuskind. Ein kleiner Sebastian ist es geworden. Aber das ist ja auch schon was.“ Otto betrachtete bewundernd das Kind. So klein, so faltig, so durchscheinend. Er fragte unsicher: „Und das soll mal groß werden?“ Margarete sprach nachsichtig lächelnd: „Ja. Du warst auch mal so klein.“ Dem Jungen schien das unwahrscheinlich. Er musste es glauben und verwies dann diese Erkenntnis in die Kategorie der Wunder. Margarete war ihm jetzt eine Heilige. In der Tat strahlte die junge Mutter große übersinnliche Ruhe aus. Otto mochte die erhebende, friedvolle Atmosphäre nicht verlassen und erbot sich: „Kann ich etwas für Dich tun?“ Margarete sagte: „Aber gern. Hole eine Feder und Tinte und trage die Geburt meines Sohnes dort in mein Schreibbüchlein ein.“ Otto stob davon und kehrte wenige Minuten später zurück.

Mit seiner ungeübten Handschrift folgte er dem Diktat: „Am Sonntag, den 14. September 1614, ist den von Minden hier in Stendal ihr Sohn Sebastian geboren worden.“

Am Vormittag des zehnten Tages nach der Geburt schritten die Haffners und ihre Leute in einer kleinen Prozession zur Kirche. Vorn liefen Vater und Sohn, dahinter die Knechte und ganz hinten Ottilie und Margarete abwechselnd das Kind tragend. Die Nachbarn schauten neugierig, grüßten zurückhaltend freundlich, und spätestens zu diesem Zeitpunkt erfuhr auch der letzte Stendaler, dass den Haffners ein Enkelkind geboren ist. Allgemeinhin waren deren Familienverhältnisse undurchsichtig und indiskutabel. Wer mischt sich schon in die Privatangelegenheiten eines Scharfrichters ein?

Die Haffners trafen den Pastor in der Kirche vor dem Taufbecken wartend an. Die kleine Zeremonie verlief wie gewohnt. Salbungsvoll, ein wenig schwülstig nahm der Gottesmann das Kind in die Gemeinde der Stendaler lutherisch-reformierten Kirche auf. Jörgen Haffner schaute zufrieden. Immerhin hatte er zwei Taler vorgestreckt. Damit wurde der Junge ein Stendaler. Die Eintragung im Kirchenregister war ein Unterpfand für spätere Bürgerrechte. Sebastian sollte es gut haben.

Als das Prozedere beendet war und die Haffners sich anschickten, die Kirche zu verlassen, griff der Pastor den Familienältesten am Arm und zog ihn mit sich zur Sakristei. In dem abgeschiedenen Raum lag auf einem hohen Tischchen die Registratur des Gotteshauses aufgeschlagen. Der Pfarrer nötigte den Jörgen Haffner dorthin. Er redete schleimig: „Nun, ich will Dir ja nichts abschlagen, aber der Sebastian von Minden ist ein Illegaler. Weder die Mutter noch der Vater sind auf diesen Seiten hier zu finden.“ Er blätterte demonstrativ das Buch von vorn bis hinten durch. Ihm war bewusst: Hier will sich einer einschleichen. Da spielt er nicht mit. Für Dahergelaufene, Obdachlose, liederliche Leute sind die kleinen Landpfarrer oder die paar katholischen Priester zuständig. Der Pfarrer der reichen und stolzen Stadt Stendal muss sich mit solchen Mauscheleien nicht abgeben, es sei denn, man bezahlt ihn anständig.

Dem Jörgen Haffner schwoll der Kamm. Das Wichtigste, nämlich die Eintragung, wollte ihm dieser Sack jetzt verwehren. Gepresst schlug er vor: „Was kann ich drauflegen?“ Der Pfarrer tat überlegend und verlangte scheinbar demütig: „An die zehn Taler müsste das wert sein.“ Jörgen Haffner nahm sein Geldsäckchen hervor, zählte drei Münzen auf das Pult, behielt fünf in der Hand und zischte: „Schreiben!“ Der Pfarrer griff zur Feder und dokumentierte die Geburt und Taufe des kleinen Sohnes der von Minden. Haffner knallte das restliche Geld auf den Tisch und trat wütend ab.

Vor der Kirche traf er auf die Seinen. Er schaute in erwartungsfrohe Gesichter, schluckte seinen Ärger runter und verkündete: „Es ist vollbracht.“ Auf dem Heimweg konstatierte er trocken: „Kinder, wir sind pleite.“

Zu Hause war ein Festmahl vorbereitet. Eine Taufe will gefeiert und begossen sein. Ottilie hantierte an Töpfen und Pfannen, Margarete ging ihr zur Hand und stellte Geschirr und Trinkbecher auf den Tisch. Otto brachte die Kerzen und legte Herbstblumen als Dekoration auf das weiße Tischtuch. Vater Jörgen Haffner, die Knechte Artur und Marcus saßen abseits und probierten vorab schon mal den schweren Branntwein. Besuch wurde nicht erwartet. Sie hatten keine Verwandten in der näheren Umgebung. Nachbarn ließen sich schon gar nicht herbei. Wer gastiert schon gern bei einem Scharfrichter?

Als sie alle satt und träge wurden, nahm Mutter Ottilie das Wort: „Leider, Ihr Lieben, werden wir die nächste Zeit etwas sparen müssen. Aber das schadet nichts. Wir schaffen das schon, bis Vater wiedermal einen guten Fall hereinbekommt.“ - „Es wird zu wenig geklaut und gemordet in dieser Gegend“, gab der angetrunkene Hausherr mit schwerer Stimme zum Besten. Die Knechte lachten wiehernd. Die Mutter erzwang sich mit einem missbilligenden Blick erneut Ruhe: „Wir lassen beim Schlachter, beim Bäcker und auf dem Markt anschreiben. Wer verwehrt dem Scharfrichter schon eine Bitte?“ Das leuchtete ein. Sie werden schon zurechtkommen. Man hatte keine Lust, sich den schönen Tag mit düsteren Gedanken zu verderben.

Margarete fasste den Plan, von hier fortzugehen. Was musste sie den lieben Menschen auf der Tasche liegen?

Grete Minde in Tangermünde

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