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Die von Minden in Tangermünde

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Das Stammhaus der von Minden in der Straße Schlossfreiheit in Tangermünde war ein großes Wohn- und Geschäftshaus mit drei Etagen übereinander. Im Erdgeschoss des Hauses hatten sich die von-Minden-Männer ihre Arbeitsräume eingerichtet. Gäste, Geschäftspartner und Agenten wurden hier empfangen, angehört, beraten, beauftragt und über den Tisch gezogen. Im ersten Obergeschoss spielte sich das Familienleben ab. Mehrere Zimmer dienten dem Aufenthalt und der Behaglichkeit des Hausherrn Baltasar, des Sohnes Caspar und seiner Frau Juliana sowie deren kleinen Töchtern, der Agnes und der Rosi. Im Dachgeschoss wohnte wie eh und je der Stammvater Conrad von Minden. Neben dem Haus gab es eine Auffahrt zu den rückwärtigen Anlagen: Ein Hof mit Stallungen für Pferde und Schuppen für Wagen und Gerät, Warenspeicher, ein kleines Wohnhaus für ständige oder temporär anzumietende Arbeitskräfte und seitlich einen Garten.

Nachdem der alte Conrad die Geschäfte in die Hände seines Sohnes Baltasar gelegt hatte, wurde der Großvater in ein Stübchen unterm Dach verwiesen. Zunächst war der Alte empört, wollte sich wehren, dem egoistischen Sohn einen Denkzettel verpassen. Allerdings fehlte ihm die Kraft dazu und mit der Zeit erschien ihm das einsame Domizil sogar recht angenehm: Von hier oben kann man die Dinge mit Abstand betrachten und sie gelassen annehmen. Was kümmern mich die Geschäfte meiner Kinder, wenn ich satt zu essen bekomme und ein Dach überm Kopf habe? Conrad war niemandem verpflichtet, zumal er schon seit vielen Jahren Witwer war. Er richtete sich unterm Dach gemütlich ein.

Seinen Altersruhesitz lobte sich der Mann umso mehr, als vor etwa zwanzig Jahren sein zweitgeborener Enkelsohn Albrecht in die Kammer nebenan einzog. Das Kind war damals gerade mal neun Jahre alt gewesen. Die Räume in der Wohnetage gaben angeblich nicht genügend Platz her. Kurz und gut: Albrecht und der Großvater bewohnten einträchtig die schrägwandigen Kammern und näherten sich allmählich einander an. Sie verbrachten viele Stunden miteinander, tauschten ihre Erfahrungen und Träume aus, fanden aneinander Halt. Conrad merkte mit der Zeit immer mehr, dass Albrecht das empfindsame Wesen seiner Mutter Ursula geerbt hat und eigentlich so gar kein echter von Minden ist. Das konnte den alten Mann allerdings nicht davon abbringen, seinen Enkelsohn abgöttisch zu lieben.

Als dann die Sache von dem Mord an dem Wirt von Bölsdorf ruchbar wurde, glaubte Conrad am wenigstens an des Jungen Schuld: Zugegeben, Albrecht ist ein Spieler, und das ist eigentlich ein Makel. Spieler sind aber auch Glücksritter. Sie vertrauen auf das schnelle Geld. Aber warum ist das so? Es ist so, weil Spieler keine Kämpfer sind, hartes Arbeiten scheuen, sich nicht durchringen wollen, sondern das Geld möge ihnen auf einen Schlag in den Schoß fallen. Spieler sind feige, introvertiert, sensibel. Wenn der Albrecht die Mordwaffe in der Hand hatte, muss ihm jemand die Hand geführt haben. Albrecht ist kein Mörder. Nun war der Albrecht seit langem fort und der alte Mann vereinsamte zusehends.

Ganz anders stellte sich der Mordfall dem Hausherrn Baltasar und seinem Sohn Caspar dar: Zunächst waren sie froh, den nutzlosen Kerl aus dem Hause zu haben. Eine ausgesprochen glückliche Fügung hatte ihn weggeschafft. Für den Eintritt in das kurfürstliche Heer hätte der Junge einer beträchtlichen Mitgift bedurft: Kleidung, Rüstung, Reittier, Waffen und Verpflegungsgeld. Dafür war eine Riesensumme zu veranschlagen, die sie nun sparten und sie lehnten sich zufrieden zurück. Aber dann kam es doch ganz anders: Die von Minden wurden von Geschäftsfreunden erst argwöhnisch beäugt, dann gemieden und schließlich angefeindet. Mit der Familie eines Mörders wollte niemand zu tun haben. Würde Albrecht gefasst, stünden sie mit ihm am Pranger.

Baltasar und Caspar rafften alles zusammen, was sie aufbringen konnten, und schmierten die Ermittlungsbehörde. Albrecht entkam. Die Geschäftsfreunde und die braven Bürger der Stadt beruhigten sich wieder. Die Leute machten mit den von Minden ihren Frieden. Baltasar und Caspar besorgten künftig ihre Geschäfte mit besonderer Sorgfalt und hüteten einen nie erlöschenden Groll gegen das schwarze Schaf der Familie.

Albrechts Mutter, die Ursula, verzweifelte an der Trennung von ihrem Kind. Sie starb kurz nachdem er fort war und seitdem ging ihre Seele im Haus um. An mondhellen oder in stürmischen Nächten erschien sie den Ihren im langen weißen Gewand. Caspar und Baltasar gaben nichts auf derartige Gespinste und wischten alle Gedanken über Ursula weg. Allein der Großvater oben im Dachkämmerchen spürte ganz genau die teure Tote durch die Räume ziehen, jammern, klagen. Manchmal erschien sie dem Alten leibhaftig, setzte sich zu ihm ans Bett, und sie verplauderten die halbe Nacht, redeten von Gott und der Welt. Das war soweit in Ordnung, denn alte Menschen brauchen nicht mehr so viel Schlaf, und sie hatten einander viel zu erzählen.

Es war ein sehr schöner Tag Anfang Oktober als Margarete mit dem Söhnchen auf dem Arm und einem Bündel aus ihren persönlichen Sachen, Wäsche und Nahrung auf dem Rücken die Landstraße Richtung Tangermünde unter die Füße nahm. Die Sonne strahlte übermütig, ohne wirklich zu wärmen, die Gegend leuchtete bunt in den Farben des Herbstes, ein leichter Wind ging und ließ abfallende Blätter lange schweben. Es war eine Lust zu reisen. Die Straße war wenig belebt, denn um diese Zeit waren die Speicher in den Städten längst gefüllt, die Wintervorräte eingebracht und der Verkehr flaute naturgemäß ab.

Die Haffners hätten ihre Ziehtochter gern dabehalten, sie mussten jedoch einsehen, dass Margarete eine selbstständige und selbstbewusste Frau ist. Mehr noch: Weil Sebastians Vater, der Spross einer reichen Familie war, wäre es verantwortungslos und unsinnig gewesen, das Kind drohender Armut auszusetzen. Die jungen Menschen sollten leben und sie sollten gut leben. Die Haffners steuerten Margarete mit Wegzehrung und Wäsche aus, wünschten ihr alles Glück der Welt und verabredeten, sich nicht aus den Augen zu verlieren. Tangermünde ist nicht weit, man wird sich alle Male an Feiertagen gegenseitig besuchen, auch Botschaften hin und her schicken können.

Gegen Mittag kam Margarete vor dem nördlichen Tor zu Tangermünde an. Sie hielt eine kurze Rast und versorgte das Kind. Dann schulterte sie ihr Gepäck, nahm ihr Kind auf und schritt auf das Stadttor zu. Der Name von Minden ließ die Wache devot zurückweichen.

Margarete fand das Haus in der Schlossfreiheit rasch. Das war unschwer nach Albrechts Erzählungen zu erkennen. Sie betrat die Geschäftsräume, grüßte und bat, zum Hausherrn vorgelassen zu werden. Die Schreiber im Kontor hörten, waren erstaunt und einer richtete einen Finger nach oben: „Die Herren sind zum Mittagstisch und wollen nicht gestört sein.“ Unwillkürlich schaute Margarete zur Decke und setzte einen fragenden Blick auf. Der Mann sagte: „Sie können warten. Die Herren sind im Haus und kommen bald.“ Sie wartete, die Schreiber arbeiteten weiter. Nach langer Zeit kamen Baltasar und Caspar von Minden gut gelaunt und ins Gespräch vertieft herein.

Sie stutzten. Sie lächelten entgegenkommend. Eine schöne Frau. Margarete stellte sich vor: „Margarete von Minden, Angetraute des Albrecht. Und dies hier ist sein Sohn Sebastian.“ Die Herren von Minden stutzten. Naiv gläubig hob sie das Kind hoch und dem Großvater entgegen. Der wich brüsk zurück. Die Schreiber lauschten gierig. Die von-Minden-Männer rangen um Fassung.

Der Juniorchef riss sich zusammen und bat Margarete in ein abgeschiedenes Verhandlungszimmer. Der Alte folgte. Die drei von Minden setzten sich gegenüber. Caspar musste Zeit gewinnen. Er brauchte einen Plan. Was will diese Frau?

Während Caspar und Baltasar nahezu panisch überlegten, was zu tun ist, legten draußen im Kontor die Schreiber ihre Federn beiseite und hechelten gemütlich die Neuigkeit durch: Aha, die Frau von dem Albrecht ist aufgetaucht. Die will sich hier breit machen. Der Sohn des Albrecht ist ein Erbe. Das kann spannend werden. Hat jemand überhaupt Erbansprüche, wenn der Vater ein Mörder ist? Und so weiter.

Caspar forschte Margarete aus: „Wie legitimieren Sie sich. Berichten Sie.“ Baltasar dachte: Der Junge ist gut, erstmal hinhalten. Sie erzählte von sich und von den Jahren mit Albrecht und wie er verstorben war. Freilich schilderte sie das alles nicht zu drastisch. Die von Minden sind feine Leute, die finden das Elend der Armen eher anrüchig, denn bemitleidenswert, kalkulierte Margarete. Und sie hatte recht. Schon hakte Caspar nach: „Was hat Ihnen also der Albrecht konkret geboten? Wie haben sie gelebt?“ Margarete spürte Abwehr. Trotzdem erklärte sie freimütig: „Von Tagelohn und später als Knecht in solider Stellung. Es ging erst leidlich und dann recht gut.“ - „Was erwarten Sie jetzt von uns?“ - Margarete sagte fest: „Als legitimer Spross Ihres Hauses hat mein Sohn Anrecht auf Unterhalt.“ Caspar belferte: „Wie stellen Sie sich das vor?“ Inwendig machte er sich ganz hart: Wir werden uns nicht mit ihr auf eine Stufe stellen. Die Hure des Mörders kriegt keinen Groschen. Margarete spürte seine Bedrängnis auf und lenkte ein: „Ich kann mich selbst versorgen. Es geht um das Kind.“ - „Freilich“, gestand Caspar zu, gewann an Boden, grinste das Kind an und wich aus: „Womit wollen Sie sich durchbringen?“ Sie antwortete: „Ich bin Schauspielerin und kann hier ein Theater aufmachen.“ Um Himmels Willen!, schrillten Caspars Alarmglocken, ist sie des Wahnsinns?! Mit Mördern und Gauklern unter einem Dach. Soweit darf es nicht kommen! Er unterdrückte seine Aufwallung und rechnete nüchtern.

Der Alte hockte schweigend dabei. Margarete wartete.

Caspar holte aus: „Sehen Sie, Frau Margarete, das hört sich alles gut und schön und sehr plausibel an. Und ich sage Ihnen offenen Herzens, gern hören wir von dem Sohn unseres verschollenen Albrecht.“ Er grinste wieder das kleine Kind an und log unverblümt weiter: „Gern würden wir Sie und den Knaben hier versorgt wissen. Nur leider, leider, leider. Uns fehlen die Mittel dazu. Das Haus ist jetzt schon restlos übervölkert und unsere Kapitalien liegen fest. Leider haben wir fast keine Reserven mehr. Ich möchte es nicht so ehrlich sagen, aber Ihnen darf ich ja vertrauen: Wir haben längst die Grenzen unserer Möglichkeiten überschritten. Ich gebe Ihnen, sagen wir, zwanzig oder dreißig Goldstücke als Startkapital für Ihre guten Absichten. Mehr ist absolut nicht drin, und Sie gehen ihrem gewohnten Leben wieder nach.“ Margarete verzog spitz lächelnd den Mund und frohlockte: Donnerwetter! Wenn der so viel rausrückt, dann müssen die von Minden wirklich reich sein.

Sie überflog das Für und Wider: Zwanzig, dreißig Goldstücke ist ein Vermögen. Das reicht lange. Ein, zwei Jahre auf jeden Fall. Damit kann ich mich hier niederlassen, mein Theater aufbauen, Bücher schreiben, zu Erfolg und Ruhm kommen und uns eine sichere Existenz bieten. Schon schlichen sich Bedenken ein: Nur, mein Kind bleibt eine Halbwaise. Das Kind einer alleinstehenden Frau. Die bestehenden Vorurteile sind auch mit dem größten Selbstbewusstsein nicht aus der Welt zu schaffen. Bin ich dem Kind nicht schuldig, seinen Unterhalt einzutreiben und ihm seinen Platz in der Familie zu verschaffen?

„Sie müssen doch ein Interesse daran haben, ihren Neffen und Enkelsohn dauerhaft gut zu stellen“, drängte sich Margarete noch einmal vor. Die Männer hoben abwehrend die Hände. Caspar raunzte unflätig: „Ich kann Sie auch mit der Stadtwache fortschaffen lassen.“ Ist ja gut, dachte Margarete und lächelte gewinnend: „Abgemacht. Ich begnüge mich mit dreißig Goldstücken und ziehe mich zurück.“

Dreißig Goldstücke wurden ausbezahlt. Margarete quittierte den Erhalt. Als sie fort war, zerbröselte Caspar die Quittung und streute die Schnipsel ins Ofenfeuer. Er meinte: Eine Margarete von Minden muss hier nicht dokumentiert sein.

Margarete lief durch die Gassen von Tangermünde. Was sollte sie beginnen? Der Start war geglückt. Sie war schlagartig eine wohlhabende Frau geworden. Als nächstes brauchte sie Quartier und Aufenthaltsgenehmigung. Sie betrat die Wirtschaft am Markt.

Es waren nur eine Handvoll Leute im Gastraum. Wirt Ulrich schaute auf. Nur eine Frau. Ulrich wartete: Wo bleibt der dazugehörende Mann? Margarete sagte: „Ein Zimmer, bitte.“ Er zauderte: „Wollen wir nicht auf den Herrn Gemahl warten?“ Margarete sprach überzeugend: „Der Herr Gemahl ist in dringenden Geschäften verhindert. Er kommt erst in ein paar Tagen. Inzwischen müssen das Kind und ich hier rasten.“ Ulrich fand das unmöglich. Wenn wenigstens ein Diener dabei gewesen wäre. Er seufzte, wollte ablehnen, da schob Margarete ein blankes Goldstück über den Tresen. Ulrich nahm das Goldstück und rief nach der Magd: „Anna, ein Gast.“ Margarete bekam das Zimmer. Die Magd zündete Feuer im Kamin an, schlug das Bett auf, brachte Wasser und ein Nachtgeschirr. Margarete orderte ein Abendbrot, versorgte das Kind, legte es ins Bett und blieb dann lange am Fenster sitzen. Ein Gedanke verfestigte sich: Das hier ist unser Zuhause. Tangermünde hat uns zwar nicht gerade mit offenen Armen empfangen, aber wir sind auch nicht im hohen Bogen rausgeflogen. Es wird uns gut gehen in dieser Stadt. Ich spüre das. Dreißig Goldstücke sind ein sicheres Omen und ein solides Startkapital. Wir sind reich.

Unten in der Wirtsstube verkrümelten sich die Gäste einer nach dem anderen. Der letzte war der Tagelöhner Tönnies, der sich schon ewig an seinem halben Becher Branntwein festhielt. „Nun, mach, dass Du fertig wirst!“, knurrte Ulrich, „ich will abschließen und Du musst auch raus aus der Stadt.“ Tönnies erhob sich widerwillig, legte dem Wirt einen Groschen hin und knurrte zurück: „Pass‘ auf Deine eigenen Sachen auf! Die Frau musst Du bis morgen angemeldet haben, sonst entziehen Sie Dir die Konzession.“

Wirt Ulrich wusste das. Allerdings war auch er kein besonders reicher Mann. Da ließ er hin und wieder gern mal einen illegal bei sich wohnen. Er knöpfte diesem und jenem die Anmeldegebühr ab, vernachlässigte seine Pflicht und steckte das Salär als Gewinn in die eigene Tasche. Man muss ja sehen, wo man bleibt. Ulrich meinte: Dem Tönnies, diesem Klugschwätzer, kann das egal sein. Der hat hier kein Wohnrecht. Der fliegt nachts raus. Was gehen den fremder Leute Angelegenheiten an? Im Fall des soeben einquartierten Gastes entschied er: Was will mir eine allein reisende Frau? Und kommt der Ehemann, kann ich es immer noch richten. Das Goldstück steckte er ein und hatte die Sache schon vergessen.

Tönnies verdrückte sich.

Auf dem Weg über die freien Felder dachte er: Was mag die fremde Schönheit hier wohl anfangen? Haltung und Auftreten dieser Unbekannten hatten ihm sofort imponiert. Er stellte sich die Szene nochmal genüsslich mit allen Einzelheiten vor: Eine Frau betritt ohne männlichen Schutz die Wirtschaft, verlangt ein Zimmer, bekommt das Zimmer und wird wie ein ganz normaler Gast bedient. Dass ein Goldstück über den Tresen gewandert war, hatte Tönnies nicht gesehen, so konnte er schwärmend am Fantasiebild der stolzen Schönheit festhalten. Er kroch in einen Heuschober und gab sich süßen Träumen hin.

Am Abend saßen sämtliche von Minden gewöhnlich noch lange im Salon beieinander und werteten die Tagesereignisse in gemütlicher Runde aus. Meistens gab es nicht viel zu erzählen, man begnügte sich mit Klatsch und Tratsch. Heute war das anders. Nachdem Caspar in epischer Breite das Auftauchen der Schwägerin geschildert und seine Gegenmaßnahmen erläutert hatte, erwiderte seine Frau Juliana: „Ich halte es für unklug, dass Ihr der Fremden Geld gegeben habt. Damit gesteht Ihr ein, dass sie zu uns gehört. Besser wäre es gewesen, sie sofort mit der Stadtwache fortzuschaffen. Ihr glaubt, sie abgefunden zu haben, in Wirklichkeit habt Ihr sie damit nur angelockt.“ Baltasar und Caspar wehrten brüsk ab: „Was sollten wir denn machen? Sie kennt bis in jede Kleinigkeit unsere Familie. Das war doch keine Fremde. Sie hätte auch Dich davon überzeugt, eine von Minden zu sein.“ Juliana sprach streng: „Man muss sie abweisen, wegschicken, gar nicht auf sie eingehen.“ Die Männer waren betroffen. Hatten sie einen Fehler begangen?

Normalerweise redetet Juliana den Männern nicht ins Geschäft. Sie war dem Haushalt verpflichte und wusste, wie erfolgreich Caspar und Baltasar ihre beruflichen Aufgaben stemmen. Juliana fühlte sich im Schoß der Familie von Minden bestens ausgehoben und sorgte ihrerseits sehr zum Gefallen der Männer mit großer Hingabe für das leibliche Wohl aller Bewohner des Hauses in der Schlossfreiheit.

Juliana blieb äußerlich ruhig. Ihre Seele zog sich krampfhaft zusammen. Der legitime Erbe des Albrecht ist aufgetaucht! Margarete wird doch keine Ruhe geben, dachte sie und: Was würde ich dann tun? Habe ich nicht mit allen Mitteln um die Zukunft meiner Kinder gekämpft?

Wie war es denn gewesen, als Agnes geboren ist? Wie glücklich und stolz präsentierte ich das Kind? Hübsch zurecht gemacht auf silbern besticktem Kissen, im weißen Kleidchen, die rosigen Wangen, die feinen Händchen, der zarte Flaum auf dem winzigen Köpfchen. Wie blöd glotzten die Männer: Vater, Großvater, Urgroßvater. Nur ein Mädchen. Nur ein Mädchen! Freilich, einen kurzen Wimpernschlag lang hatte Caspar seine Tochter angestrahlt. Doch wie die beiden alten Herren ihn wegzogen und frivol geiferten „Du musst noch mal mächtig ran. Ein echter von Minden muss her“, da kehrte sich auch Caspar ab und hatte für das Mädchen keinen Blick mehr.

Caspar war stets ein friedlicher, aufmerksamer Hausgenosse und Liebhaber. Da war es für Juliana nicht schwer ein zweites Kind zu tragen. Allerdings spürte sie dann deutlich seinen Unmut, weil das nächste wieder nur ein Mädchen war. Rosi, nicht weniger hübsch, lebendig, anmutig als Agnes, und doch wieder nur ein Mädchen. Nur ein Mädchen!

So war Juliana aus dem Himmel des größten Glücks in den Abgrund der Wirklichkeit gestürzt. Wie eine Prinzessin war sie verwöhnt und von Caspar heimgeführt worden. Ahnungslos und naiv hatte sie sich den Aufgaben der Hausfrau und Mutter gestellt. Ihre ausgezeichnete Gesundheit, ihre gute Ausbildung, ihre ausreichende Aufklärung und eine reiche Mitgift legten seinerzeit das Unterpfand des Ehevertrages. Allein, ihre Unfähigkeit, einem Knaben das Leben zu schenken, verwandelte die Zuneigung der Männer in Missgunst. Argwöhnisch überwachten sie die intimsten Details der einzigen Frau im Haus, nur um recht bald ihren Erben im Arm halten zu können.

Verzweifelt und irritiert, sämtlicher Illusionen über Liebe und Familie beraubt, schaute sich Juliana um und lernte, wie in anderen Häusern fünf, sechs, manchmal acht Kinder zur Welt kamen, bevor der erhoffte Erbe und eventuell ein Reservekandidat das Licht der Welt erblickten. Sie forschte weiter. Was wurde später aus den überzähligen Erben? Die Mädchen konnten von Glück sprechen, wenn sich eine gute Partie fand, die meisten jedoch kamen in ein Frauenstift und fristeten ihr Dasein zwischen geistloser Zerstreuung und bei völliger Entsagung aller weltlichen Genüsse. Die überzähligen Knaben rekrutierte in der Regel das Heer.

Das Beispiel Albrecht spricht Bände: Nachdem das Haus von Minden in Caspars Händen sicher lag, erlosch das Interesse an dem Jungen. Anstatt ihn wenigstens sauber auszubilden und ihm eine ordentliche Rüstung zu kaufen, ließen sie ihn links liegen, bis er verlotterte und fortging. Ist Albrecht ein Mörder? Das weiß niemand so genau. Auf jeden Fall war Albrecht den ehrgeizigen Plänen seiner Familie im Wege. Das ist die knallharte Wahrheit, resümierte Juliana.

Sie realisierte also, dass sie hier als Zuchtstute eingestellt worden war. Sie rechnete: Wenn weitere Kinder, vor allem Knaben zur Welt kommen, verlieren Agnes und Rosi ihr Anrecht auf das Erbe. Nach der zweiten Entbindung verweigerte sich Juliana vehement dem ehelichen Beischlaf.

Mit Caspar wurde sie leichter fertig als gedacht. Er war nicht der Mann, der gewaltsam sein Recht fordert. Er blieb vorsichtig und rücksichtsvoll. Das gelegentliche Drängen seiner Lenden unterdrückte er, ohne sich jemals zu beklagen. Er gab sich mit freundlichen Worten und flüchtigen Zärtlichkeiten zufrieden.

Juliana verbreitete ihre Vorstellungen von der Zukunft in ganz kleinen Dosen: Mit dem Geld der von Minden kann die eine Tochter gut ausgebildet werden und an einem Fürstenhof unterkommen. Für die andere Tochter muss ein geeigneter Partner her und das Handelshaus der von Minden setzt sich über die weibliche Linie fort. Eine solche Vorgehensweise ist durchaus möglich. Caspar fügte sich in das Unvermeidliche.

Juliana fühlte sich sicher, zog in Ruhe ihre Mädchen auf, bis - ja, bis zu diesem Tage, da Margarete erschien und den Sohn des Albrecht präsentierte. Juliana war überzeugt, dass Margarete sich nicht mit dreißig Goldstücken abspeisen lässt. Sie wird wie jede Mutter mit Gewalt und mit Tricks für ihr Kind kämpfen.

Caspar verunsicherte der vehemente Einspruch seiner Ehehälfte. Er hatte bezahlt und die Sache als abgeschlossen betrachtet. Jetzt zweifelte Juliana. Fürs Geschäft zeigte sie selten Interesse. Wozu auch? Er ist hier der Souverän. Wenn sie aber manchmal Einwände geltend macht, erweist sie sich als durchaus gut informiert und gewissenhaft abwägend. Julianas Worte ließen ihn schwanken. Außerdem lag ihm am häuslichen Frieden.

Seine Kaltblütigkeit gegenüber Geschäftspartnern und Untergebenen kompensierte Caspar mit Wärme und Empfindsamkeit im familiären Milieu. Er war seiner Frau nicht unbedingt hörig. Soweit ging seine Demut ihr gegenüber nicht. Aber er verbrauchte eben seine Kräfte draußen und daheim neigte er zu Nachgiebigkeit.

Jetzt strauchelte er. Hat Juliana eventuell Recht?

Juliana spürte das Unbehagen ihres Mannes und lenkte friedfertig ein: „Man wird sehen. Vielleicht ist sie schon längst über alle Berge. Für die Zukunft muss gelten: Es gibt keine Margarete von Minden. Abweisen, leugnen. Die muss sich an unserer Tür totlaufen.“ Entgegenkommend hob sie ihr Glas und fragte: „Nun, wie mundet Euch der Wein?“ Ehemann und Schwiegervater wechselten gern das Thema. Sie ließen die Gläser klingen, tauschten Stadtklatsch aus und hingen doch alle in Gedanken an Margarete.

Baltasar sah, wie sein Sohn wiedermal vor seiner Frau einknickt. Dieser Hasenfuß! Unten im Kontor ist Caspar die geborene Händlerseele: Hart, wendig, fantasievoll, besonnen wickelt er sämtliche Verhandlungen ab und geht aus jeder Unternehmung mit Gewinn heraus. Als Händler ist er ein Genius, als Familienoberhaupt eine Null.

Doch das ließ Baltasar jetzt laufen, wie es lief. Er hatte fürs Alter vorgesorgt. Er konnte sich zurückziehen. Wozu sich Aufregungen verschaffen und Sorgen machen? Caspar hat Margarete zurecht abgefunden und abgeschoben. Halten seine Entscheidungen vor der Hausfrau Urteil nicht stand, ist das sein Kummer und nicht zu ändern. Was soll jetzt noch kommen? Die Frau des Mörders ist ein sehr kleines Licht und wird genauso schnell abtauchen, wie sie das Geld rasch weggesteckt hatte. Caspar hat also vollkommen richtig gehandelt, auch wenn es ihm nicht liegt, seiner Frau die Stirn zu bieten.

Während sie nun also vordergründig gelöst plauderten und sich im Hinterkopf mit Margarete beschäftigten, hegte auch Großvater Conrad seine Überlegungen.

Mit der verstorbenen Ursula war er längst im Reinen. Die war tüchtig gewesen, hatte ihm zwei Enkelsöhne, den Caspar und den Albrecht, gebracht. Caspar war ein würdiger und geschickter Nachfolger. Da konnte man ihm nichts nachsagen. Allein die Wahl Julianas als Ehefrau erwies sich als kompletter Reinfall. Die bekam zwei Mädchen und blieb dann taub. An einen Erben war nicht mehr zu denken. Deren Vorstellungen, das Haus an Rosi oder Agnes zu übergeben, ertrug der Alte hilflos und unglücklich wie eine Plage. Das Auftauchen des Sohnes Albrechts erschien ihm wie eine Fügung Gottes.

Er trank seinen Wein aus, verabschiedetet sich zur Nacht und stieg in das Dachgeschoss hinauf. Dort legte er sich angezogen aufs Bett und wartete auf den Geist der Ursula.

Am nächsten Morgen zog Conrad seinen Gehrock an, nahm seinen Stock, ließ sich im Kontor dreißig Goldstücke auszahlen und schlenderte dann in Tangermünde herum. Er hatte Plan und Ziel und fühlte sich gut dabei. Die Neugierde seines Sohnes, wozu er so viel Geld brauche, hatte der Alte mit dem Wort „Überraschung“ befriedigt. Nun musste er die Margarete finden.

Am Marktplatz entdeckte er Tönnies. Der kam ihm gerade recht. Tönnies war im Moment bei einer Gemüsehändlerin beschäftigt. Da konnte man ihn leicht auslösen. Conrad von Minden steuerte auf den Stand zu und bestellte bei der Händlerin zwanzig Pfund Äpfel, einen Träger für seine Einkäufe und bezahlte mit einem Goldstück. Die Frau, glücklich über das gute Geschäft am frühen Morgen, schichtete die Ware in einen Korb und ordnete an: „Tönnies, begleite den Herrn heim.“ Der Tagelöhner gehorchte und sie zogen ab.

An einer Straßenecke nahm sich der Alte den Tönnies vor: „Hör mal Junge, Du kennst Dich doch aus. Gestern ist eine junge Frau hier angekommen, vielleicht auch schon wieder abgereist. Wenn Du weißt, wo sie steckt, oder wenn sie hier wieder auftaucht, dann schicke sie doch zu mir.“ Tönnies hielt die Hand auf und grinste spitzbübisch. Der Alte schob ein Goldstück in die offene Hand. „Sie ist im Wirtshaus am Markt abgestiegen“, gab Tönnies bekannt und forschte: „Wozu braucht Ihr sie?“ Conrad klärte ihn über die verwandtschaftlichen Verhältnisse auf. Tönnies pfiff anerkennend: Die Schönheit ist nicht nur stolz, sondern auch noch reich. „Aber warum haust sie dann in der Wirtschaft?“ - „Weil meine Kinder elende Geizkragen sind!“, giftete der Alte, „und genau diesen Zahn werde ich ihnen ziehen.“ Tönnies zweifelte: Das kann nicht gut gehen. Er behielt seine Meinung für sich und fragte: „Wohin mit den Äpfeln?“ - „Kannst sie haben“, winkte der Alte ab und ging zum Wirtshaus am Markt.

Margarete war überrascht und erfreut, als der Großvater sich zu erkennen gab. Wenn der Stammvater der von Minden sich auf ihre Seite stellt, kann nichts mehr schief gehen. Sie strahlte den Mann an. Margarete musste ihre Geschichte noch einmal von vorn erzählen. Der Alte hörte interessiert zu, stellte ein paar Fragen und war schließlich voll und ganz von der Legitimität Margaretes und ihres Sohnes überzeugt. Gern hörte er, wie sich Albrecht draußen durch Fleiß und Anstand bewährt hatte. Von wegen ein Spieler, von wegen ein Feigling. Albrecht war erwachsen geworden. Der rechte Erbe ist eingetroffen. Behutsam nahm der Großvater den Urenkel in die Arme, schaukelte ihn und säuselte: „Sebastian, sehr schöner Name.“

Nun entwickelte er den Plan: „Wenn Du recht bekommen und Deinen Sohn von uns anerkannt wissen willst, musst Du uns auf dem Rathaus verklagen. Mein Sohn ist ein verdammter Lügner und in Familiensachen eine Lusche geworden. So einen zwingt man nur Kraft des Gesetzes.“ Margarete wich zurück. Klagen? Klagen! Die eigene Familie vor den Kadi zerren? Das schafft böses Blut. „Kann man es nicht friedlich versuchen?“, wendete sie zaghaft ein. Der Alte streng: „Friedlich? Niemals! Die sind mit allen Wassern gewaschen. Du bekommst keinen Fuß in unsere Tür.“ - „Nicht?“, fragte Margarete verunsichert. Conrad fest. „Gegen die kommst Du nicht mit bitten und betteln an. - Was willst Du denn? Recht für Dein Kind? Das erstreitest Du nur vor Gericht.“ Margarete überlegte: Der Alte mag recht haben. Er kennt seine Familie. Ich nicht. Aber verbaue ich mir nicht mit der Klage jeglichen friedlichen Zugang, ja letzten Endes, das geborgene Nest, das wir alle brauchen? Conrad schmeichelte: „Es ist doch für den Kleinen“, er streichelte behutsam Sebastians Köpfchen, „so ein Kind ist doch schutzlos. Da braucht es Geld, ein Dach überm Kopf und Beziehungen.“

So lieb der Großvater sprach, so klar seine Argumente waren, Margarete verfestigte den Gedanken: Eine Klage kommt nicht in Frage. Die Leute haben mir nichts getan. Vorerst war ich zwar nicht freudig begrüßt, aber immerhin auf Anhieb eine reiche Frau geworden. Die Männer hatten gezahlt. Sie hatten gemurrt und gezahlt. Ist es nicht ihr gutes Recht, erstmal ihr Haus vor einer völlig Fremden zu verschließen? Wer nimmt denn gleich eine Unbekannte bei sich auf? Sie werden es sich überlegen und später von allein einlenken.

Margarete wich aus: „Ich werde es mir überlegen und komme später darauf zurück.“ - „Na fein“, antwortete der Großvater geneigt und legte achtundzwanzig Goldstücke auf den Tisch. „Du wirst hier solange wohnen, bis der Prozess vorbei ist. Geld habe ich genug. Ich regele das mit dem Wirt. Außerdem brauchst Du einen Rechtsbeistand, den werde ich Dir auch besorgen.“ Margarete sah das Gold, war geblendet und hörte nur noch mit halbem Ohr hin, wie der Alte sich genüsslich die Szenen vor Gericht ausmalte. Er würde als Zeuge aussagen, der Sohn knickt ein, Enkel Caspar muss klein beigeben und die taube Juliana ist aus dem Rennen. „Dann übernimmst Du das Haus, ich ziehe wieder in die Wohnetage und wir beide kümmern uns anständig um den echten von Minden. Ist das so?“, versicherte er sich augenzwinkernd der Zustimmung Margaretes.

Die Visionen waren verlockend, allein die Ausführung allzu gewagt. Margarete wand sich: „Großvater, ich will Dir ja nichts abschlagen. Auch denke ich, dass Du da eher die rechte Sichtweise hast. Du kennst Deine Leute, ich nicht. - Das mit dem Wirt kläre ich und einen Rechtsbeistand brauche ich nicht. Ich kann mich allein vertreten.“ Dem Alten imponierte die junge Frau. Er wähnte sich am Ziel, erhob sich, küsste seine Enkeltochter und das Kind, und ging frohen Mutes heim. Was er dem von-Minden-Unternehmen zum Ruhm, der Frau Juliana zum Trotze eingerührt hatte, sah er als gottgefälliges Werk.

Margarete zählte die Münzen, legte sie zu den anderen und resümierte: Wir sind angekommen, nicht angenommen, aber immerhin angekommen. Jetzt habe ich den Familienältesten auf meiner Seite. Das läuft ja wie geschmiert. Der Großvater wird peu à peu für mich gut sprechen und die anderen werden mir ihre Herzen öffnen.

Sie sinnierte eine Weile, wie es weiter gehen soll, und entschied dann: Ich werde ab und an die Familie besuchen und schauen, wie die Dinge liegen. Alles in allem werde ich ihnen etwas Zeit geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen und ziehe dann zu ihnen. Dauerhaft ist Wohnen in der Schänke sowieso nichts für uns. Doch bis dahin, sollte noch etwas Wasser die Elbe runter fließen. So dachte Margarete und träumte sich in eine respektable, gut versorgte, reiche Zukunft.

In der folgenden Nacht setzten die Herbststürme ein. Der Wind zerrte an den Dächern und Fensterladen. Conrad von Minden lag wach. Bei solchem Wetter schläft man schlecht. Er lauschte und wartete auf den Geist der Ursula. Die kam dann auch tatsächlich im weißen Gewand, lächelte und setzte sich zu Conrad ans Bett. „Nun, wie habe ich das gedeichselt?“, fragte Conrad ein wenig selbstherrlich. Die Schwiegertochter antwortete: „Vater, Du bist wunderbar.“ - „Siehst Du“, ergänzte er, „nun kommt zwar nicht der Albrecht heim, aber seine Frau und sein Sohn. Ist das gut so?“ Ursula nickte und lächelte wieder. Sie schwiegen eine ganze Weile. Der Alte wurde schläfrig. Ihm fielen die Augen zu. Da sagte Ursula: „Komm Vater, ich will Dir was zeigen. Ich habe nämlich den Albrecht im Himmel gesehen.“ Der Alte sträubte sich: „Mitten in der Nacht? Was soll denn das? Können wir uns nicht vertagen? Ich bin so müde.“ Ursula nahm ihn bei der Hand. Er überwand und erhob sich. Kann man der lieben Frau etwas abschlagen? Sie führte ihn behutsam aus dem Dachkämmerchen fort.

Der nächste Morgen: Dass der Großvater mal eine Mahlzeit ausließ, war nichts Ungewöhnliches. Hin und wieder pflegte er auf dem Zimmer zu speisen oder er hatte gar keinen Appetit. Also bekam die Magd Agathe nach dem Frühstück Order, dem Alten ein Glas Milch und zwei weiße Brötchen hinaufzubringen. Agathe fand Conrad von Minden neben dem Bette liegend. Er war tot.

Juliana von Minden bestellte den Medicus, die Totenfrauen, den Sargtischler und Transportarbeiter. Der Tote wurde begutachtet, gewaschen, frisch eingekleidet, in den Sarg gelegt und zur Kirche getragen. Sie bahrten ihn auf, ließen eine Messe lesen und die Glocken läuten. Leute strömten herbei. Auch Margarete von Minden ward von dem Auflauf angezogen.

Sie erfuhr: Conrad von Minden ist gestorben. Ihr Unterstützer ist heimgegangen. Das veränderte Margaretes Lage schlagartig. Der Plan, sich allmählich in die Herzen und das Haus der von Minden hineinzuschleichen, taugte nichts mehr. Da stirbt einer und schon ist alles anders, gewahrte sie, geriet in leichte Panik und steigerte sich in Befürchtungen hinein. Was sie dem gemächlichen Selbstlauf hatte überlassen wollen, kam ins Wanken. Mit dem Großvater schwand die Hoffnung, er werde für sie ein gutes Wort einlegen und die Dinge in ihrem Sinne richten. Jetzt ist Baltasar Familienoberhaupt. Der hatte bei der ersten Begegnung nichts gesagt. Der machte eine blasse Figur. Den sollte ich für mich gewinnen, meinte Margarete, und entschied: Sofort! Man muss das Eisen solange schmieden, wie es glüht. Sie lief ins Gasthaus, putze sich ein wenig heraus und ihrer anziehenden Wirkung völlig sicher, eilte sie in die Schlossfreiheit und klopfte bei den von Minden an.

Schadenfroh, süffisant feixend, tuschelten die Schreiber: „Die lässt nicht locker.“

Margarete wurde ins Verhandlungszimmer geführt und nahm den Herren gegenüber Platz. Konsterniert registrierten Baltasar und Caspar: Sie ist schon wieder da! Sie eröffnete ungeschickt: „Ich dachte, ich meine, man könnte, wir sollten -“ Sie fand den Anfang nicht und stockte.

Caspar donnerte los: „Was erlauben Sie sich. Ich glaube jetzt nicht, was Sie hier aufführen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden werden Sie wortbrüchig. Sie haben sich verpflichtet, sich zurückzuziehen.“ Er bedauerte, kein Protokoll aufgesetzt und sich auf ihre Zusage verlassen zu haben. Solche Nachlässigkeiten fallen einem immer auf die Füße. Er geriet in Wut, sah rot, sprang auf und brüllte: „Stadtwache! Stadtwache! Wir werden ausgeraubt.“

Die Schreiber vorn im Kontor hörten die Stimme des Herrn, und einer, ein ganz diensteifriger, stob los, um Hilfe zu holen. Das ging sehr schnell, die Ordnungshüter waren gut trainiert und binnen Minuten stürmten Landsknecht Karl Hafermaß und eine Handvoll seiner Kameraden das Haus der von Minden. Was sie sahen, war eher lächerlich, denn wehrbedürftig: Eine sehr junge Frau saß kummervoll auf einem Stühlchen und die beiden Hausherren redeten hochroten Kopfes auf sie ein. Hafermaß überblickte die Szene und dachte: Für so einen Quatsch holen die die Stadtwache. Hier ist doch kein Raub im Gange. Wer wird denn nun eigentlich bedroht?

„Zu Diensten!“, meldete er sich zackig. Caspar ließ von Margarete ab und geiferte: „Bindet die Frau. Abführen. Ausweisen.“ Hafermaß tat, wie ihm befohlen war. Er griff Margarete am Arm und zerrte sie hoch. Augenblicklich fuhr sie spitz auf: „Ich kann alleine laufen!“ Hafermaß nahm Abstand.

Von den Landsknechten umringt stolperte Margarete aus dem Haus. Inzwischen hatten sich Schaulustige auf der Straße eingefunden. Die Schreiber drängten der abziehenden Gruppe nach, mischten sich unter die Zaungäste und in Sekundenschnelle verbreitete sich die Nachricht: Die von Minden haben ihre Schwiegertochter verstoßen und ihren Enkel aus dem Haus gejagt. Ja, so geht es, war die einhellige Meinung, man legt sich besser nicht mit den von Minden an.

Während Margarete die Straße hinunter geleitet wurde, gewann sie ihre Fassung wieder und unterhandelte mit dem Hauptmann: „Ich habe mir Wohnrecht erkauft. Ich muss ins Wirtshaus zu meinem Kind. Ihr könnt mich nicht fortjagen.“ Hafermaß kannte die Aufenthaltsbestimmungen. Freilich durften die von Minden ihm befehlen, die Frau aus dem Haus zu entfernen, mitnichten aber aus der Stadt. Er fühlte sich von den von Minden wegen einer läppischen Sache vorgeführt. Also entschied er streng: „Das überprüfen wir erstmal.“

Wirt Ulrich erbleichte, wie sechs Landsknechte mit seiner Mieterin in die Stube traten. Aufenthaltskontrolle!, realisierte er schlagartig. Geistesgegenwärtig griff er zwei Krüge und rief zur Anna hin: „Gäste! Die wollen trinken.“ Anna stellte Becher zurecht und Ulrich goss ein. Gierig schütteten die Knechte den Branntwein runter, Margarete entschlüpfte und der Wirt holte aus: „Jungs, Ihr wisst doch, dass ich jeden, aber auch jeden gründlich abrechne und anmelde. - Was soll denn der Aufstand?“ Karl Hafermaß setzte seinen Becher ab und ließ sich nachschenken. Als der zweite Becher geleert war, führte er aus: „Wahrscheinlich Familienkrach bei den von Minden. Genaues weiß ich auch nicht.“ Er beschrieb die Szene, wie er sie vorgefunden hatte, den Befehl und endete: „Wenn Du aber beschwörst, die Frau wohnt hier, dann hat alles seine Ordnung und meine Pflicht endet an dieser Stelle.“ Ulrich nickte treu und schenkte ein drittes Mal nach.

Margarete war über die Wendung tief erschrocken, denn die widersprach ganz krass ihrer bisherigen Erfahrung. Die Menschen begegneten ihr in der Regel freundlich, waren manchmal auch ignorant oder gleichgültig, aber eine so aggressiv offene Ablehnung hatte sie noch nie erfahren. Man verhaftete sie und brachte sie vor aller Leute Augen fort. Diese Aufführung demütigte Margarete. Das schmerzte, das wühlte, das ließ ihr keine Ruhe. Allmählich kamen ihr des Großvaters Worte zu Bewusstsein: „So einen zwingt man nur Kraft des Gesetzes.“ Allein, sie musste sich fragen, ob ihre Mittel ausreichen, sich in die Familie einzuklagen. Außerdem war zu bedenken, was sie damit wirklich erreicht: Ewiger Hader mit der Schwägerschaft ist vorprogrammiert.

Margarete hockte im Zimmer und dachte nach. Nichts übereilen, mahnte die Stimme der Vernunft. Zurückschlagen verlangte die gekränkte Seele. Unentschieden raffte sie sich auf, nahm ihr Kind hoch und ging hinunter in die Gaststube. Es war Abendbrotzeit. Margarete hatte Hunger. Sie musste essen und ihr angeschlagenes Nervenkostüm beruhigen.

Die Landsknechte waren fort. Nur ein Gast saß noch in der Stube. Das war der Tönnies. Er lud Margarete freundlich ein, zu ihm zu kommen und bot ihr einen Apfel an.

Der Mann hatte beste Laune, denn für diesem Winter hatte er Quartier unter festem Dach bezogen. Der alte von Minden hatte ihm ein Goldstück und zwanzig Pfund Äpfel geschenkt. Das war ein Vermögen. Mit dem Goldstück mietete sich er sich beim Wirt ein und die Äpfel waren Verpflegung für viele Tage. Wenn er jetzt auch noch ab und an Gelegenheitsarbeit bekommt, wird sogar Nahrung bis zum Frühling da sein. Es sieht gut aus.

Er lachte die hübsche Frau vergnügt an. Margarete setzte sich, nahm den Apfel und biss herzhaft hinein.

Ulrich näherte sich und fragte: „Wollt Ihr Abendbrot? Es ist noch Fleisch vom Mittag da.“ Margarete nickte. Tönnies wehrte ab: „Ich kann‘s mir nicht leisten. Bleib‘ bei meinen Äpfeln.“ Ulrich schlotterten noch die Knie vom Auftritt der Landsknechte. Er legte generös fest: „Ach was, Kinder, es ist noch genug da. Lasst uns essen. - Anna, deck doch mal den Tisch und komm mit ran.“ Er hoffte, dass ihm bei einer geselligen Mahlzeit wohler werden wird.

Anna beeilte sich. Sie trug die restlichen Speisen auf und setzte sich. Die vier rückten um die Fleischtöpfe zusammen und langten herzhaft zu. Die Magd belächelte die Großzügigkeit ihres Herren: Was der mit seiner Krämerseele vorn aufbaut, reißt er mit seiner Gutmütigkeit hinten wieder ein. Ulrich ist einerseits berechnend und hat andererseits ein großes Herz, dachte sie, mit so was kommt man nicht weit.

Sie ließen es sich schmecken. Die Gemüter beruhigten sich und allmählich kamen sie ins Plaudern. Ulrich ließ den Branntweinkrug kreisen. An Sparen oder Abmessen, war heute nicht mehr zu denken. Was er vorhin den Landsknechten in die Kehle gegossen hat, wirft sowieso wochenlange Haushaltskalkulationen über den Haufen. Morgen geht es hier wieder anders lang, nahm sich er vor.

Gemütlichkeit breitet sich aus.

Die zerriss abrupt, weil von draußen Lärm hereindrang. In diesem Moment trieben die Landsknechte die Obdachlosen und Bettler aus den Gassen zusammen und zum Tor hinaus. Die Mittellosen sträubten sich. Geschrei, Weinen, Zetern, Schimpfen, Schlagen, Treten.

Die vier im Wirtshaus duckten sich unwillkürlich. Sie wussten: Bei dem heraufziehenden Herbstwetter bieten die städtischen Mauern mehr Bedeckung als das freie Feld. Manchmal gelingt es dem einen oder anderen armen Mann in einer Nische oder einem Schuppen zu verschwinden, dort zu nächtigen, und wenn schon nicht große Wärme, dann doch zumindest erträglichen Wetterschutz zu finden. Allerdings läuft auch der unfreiwillige Gastgeber Gefahr, streng verwarnt oder ausgepeitscht zu werden, weil er sein Anwesen nicht gut genug verschlossen, seine Räume nicht kontrolliert hat. Ulrich stieß seine Magd an: „Anna, ist der Hof zu, der Stall abgeriegelt?“ Sie nickte. Er stand auf, nahm den großen Schlüssel vom Brett und verriegelte die Wirtschaft. „Jetzt ist Ruhe“, vermerkte er und setzte sich wieder.

Ruhe war längst nicht. Draußen ging es weiter. Einer schrie: „Euch müsste man die Stadt überm Kopf anzünden!“ Andere stimmten ein. Dann Peitschenhiebe und Pferdegetrappel. Die Szene war bekannt und den vier Menschen in der Wirtsstube schnürte es die Kehle zu.

Margarete packten Mitleid und Zorn: „Euch muss man das Handwerk legen!“ Die jammervolle Zeit mit Albrecht rückte wieder ganz nah. Kälte und Hunger spürte sie körperlich. Zu dem Leid kamen jetzt die guten Vorsätze: Was hindert uns eigentlich, den Armen ein Stück Brot und ein Dach über dem Kopf zu schaffen? Sie überflog ihre Möglichkeiten. Die waren zu gering. Ja, wenn man Geld, Einfluss und Macht hätte! Schon stieß ihr das reiche Haus der von Minden auf: „Die haben. Die könnten! Sie tun es aber nicht. Sie tun es nicht, weil sie bequem und satt sind.“

Anna, Ulrich und Tönnies schauten verdutzt zu Margarete. Sie gewahrten, wie die sich abarbeitet, ihre Gedanken riesige Kreise ziehen, ja wie sich unerbittlicher Hass breit macht.

Ulrich besänftigte ängstlich: „Wir sind es doch gewöhnt. So ist es in der Ordnung.“ Anna und Tönnies empfanden wie Margarete und schwiegen doch.

Margarete schaukelte sich weiter hoch. Die kleine, sanfte, schöne Frau schwang sich zur Walküre auf: „Geht es denn nur um mich? Nein, es geht auch um das Vermächtnis meines Mannes!“

Endlich zog Ruhe ein. Die Gassen waren geräumt. Margarete hielt erschöpft den Atem an, horchte in sich hinein und sagte trocken: „Ich verklage den von Minden auf Unterhalt.“

Tönnies dachte: Die hat Mut.

Anna dachte: Ob das was bringt?

Ulrich dachte: Das geht schief.

Nach der Mahlzeit begab sich Margarete auf ihr Zimmer und verfasste eine Klageschrift gegen Baltasar von Minden. Sie forderte die Einsetzung ihres Sohnes Sebastian in seine verbrieften Rechte als direkter Nachfahre der Familie. Der Klage heftete sie die ausführliche Darstellung der Familiengeschichte an. Dieses Wissen war ausreichende Legitimation. Darüber hinaus galt das geschriebene Wort als Beweis schon an sich. Margarete fühlte sich stark. Wie der Schriftsatz vollständig war, gewann sie die feste Überzeugung, dass sie einen Fuß in das reiche Haus setzen und von dort aus souverän Geld abschöpfen wird. Sie sah sich als mildtätige Samariterin und als Rächerin der Vertriebenen. Ihre Siegeszuversicht war leicht überspannt, das spürte sie ganz klar und deutlich, rechtfertigte sich aber vor sich selbst und schlüpfte genüsslich in eine große, gute Rolle.

Drei Wochen später lief Tönnies seinen Weg auf Stendal zu. Das Wetter war hundsmiserabel und verstärkte das Reißen in den Gelenken. Er war allein unterwegs. Die Straße zwischen Tangermünde und Stendal war menschenleer. Wer nicht unbedingt etwas zu erledigen hatte, blieb im Haus. Während Tönnies so lief, sich die Schmerzen verbiss, lenkte er sich mit frohen Erinnerungen ab: Zweimal hatte ihn schon die schöne Margarete in Dienst genommen. Einmal hatte er für sie ein Schriftstück zum Rathaus getragen. Diese Kleinigkeit war ihr ein paar Groschen wert gewesen. Und jetzt ist er zum Haffner in Stendal unterwegs, einen Brief und eine Geldsendung zu überbringen. „Tönnies, geh‘ und mach das ordentlich. Die Haffners brauchen das Geld und haben nicht verdient, dass man sie betrügt“, hatte Margarete ihm aufgetragen. Auf ihn konnte man sich verlassen, das wusste hier jeder, und Margarete zu hintergehen, käme ihm schon gar nicht in den Sinn. Weil, ja, weil ich sie liebe, gestand er sich ein. Allerdings hat Margarete kaum Augen für ihn. Da begnügte er sich damit, sie anzuhimmeln.

Der Sturm legte sich. Der Himmel riss auf. Die Sonne schien. Jörgen Haffner trat vors Haus, schaute nach oben und sagte: „Ei, ei, was ist der Tag doch noch freundlich geworden.“ Er blieb seinem optimistischen Grundsatz treu: Wenn man schon kaum noch was zu beißen hat, die Aussichten für den Winter trübe sind, dann muss man sich wenigstens das Wetter loben. Ein Fußgänger kam durch die Gasse auf ihn zu und sprach: „Guten Tag, Meister, in welchem Haus wohnen denn die Haffners?“ Jörgen antwortete: „Fremder, Ihr seid schon da. Ich bin der Hausherr.“ Tönnies fragte: „Darf ich eintreten?“ Haffner lachte: „Wer besucht denn freiwillig den Scharfrichter?“ Tönnies trat unerschrocken näher: „Ich bringe eine Botschaft von Margarete.“ Haffner strahlte auf und öffnete die Tür weit.

Zehn Goldstücke hatte Margarete ihnen eingepackt und einen Brief mit den aktuellen Nachrichten verfasst: Es geht ihr gut, sie ist gut untergekommen, das Kind ist wohlauf, es mangelt ihr an nichts, auch arbeitet sie in Ruhe an ersten Stücken für ihr Theater. Die Haffners lasen die Post mehrfach und freuten sich sehr. Das Geldgeschenk war mehr als Margarete hier jemals verbraucht hatte. Mit „ach, das wäre doch nicht nötig gewesen“ und „das hätte sie doch nicht machen müssen“ ging Ottilie Haffner sofort daran, ihre Schulden beim Schlachter und beim Bäcker zu bezahlen sowie die Vorratskammer aufzufüllen. Sie drängten den Tönnies, über Nacht zu bleiben. Er musste wieder und wieder jede Kleinigkeit über Margarete erzählen. Als Ottilie und Jörgen spät im Bette beieinander lagen, sagte der Mann zufrieden: „Mit dem Tönnies hat die Margarete einen Beschützer gefunden. Der liebt das Mädel, der hält zu ihr.“ Die Frau stimmte zu, denn auch sie hatte deutlich gemerkt, mit wie viel Wärme Tönnies von Margarete spricht. Sie löschten das Licht und schliefen eng umschlungen, ja sorgenfrei und wirklich glücklich ein.

Grete Minde in Tangermünde

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