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|15|1. Das Elternhaus in Haworth Von Wurzeln und Entwurzelung
Оглавление„Man hat den Eindruck, als seien Haworth und die Brontës untrennbar miteinander verwoben. Haworth drückt die Brontës aus, die Brontës drücken Haworth aus: Sie fügen sich ineinander wie eine Schnecke in ihr Haus. Ich möchte hier gar zu sehr darauf eingehen, inwiefern die Umwelt den Geist eines Menschen grundlegend beeinflussen kann: Oberflächlich betrachtet ist dieser Einfluss jedenfalls gewaltig und so lohnt es zumindest zu fragen, was gewesen wäre, hätte das berühmte Pfarrhaus in einem Londoner Slum gestanden – die gedrängten Bruchbuden von Whitechapel hätten sicherlich nicht dasselbe bewirkt wie die einsamen Hochmoore Yorkshires.“ (Barrett, S. 121; KP)
Diese Zeilen schrieb Virginia Woolf in ihrem Artikel „Haworth, November 1904“ – damals eine der ersten Publikationen in ihrer noch jungen Karriere als Autorin. Es ist bezeichnend, dass die Feministin und Schriftstellerin Woolf ausgerechnet über die Brontë-Schwestern schreibt, die kaum mehr als fünfzig Jahre vor ihr gelebt und geschrieben haben, allerdings unter ganz anderen Bedingungen. Die Frage, die sie aufwirft, wurde seitdem mehrfach gestellt und man geht einstimmig davon aus, dass die karge, aber erhabene Natur um Haworth nicht nur das Wesen der Brontës, sondern auch ihre Werke maßgeblich geprägt hatte. Fernab des Literaturbetriebes und des gesellschaftlichen Treibens inspirierte sie die raue Moorlandschaft mit ihren ebenso rauen Bewohnern zu kraftvollen Geschichten und eigenwilligen Figuren, die es so noch nicht gegeben hatte. Woolfs Vergleich mit der Schnecke und ihrem Haus erscheint dabei besonders passend. Denn zum einen war Haworth für alle drei lebenslang Rückzugsort und Zuflucht; zum anderen war es eine Bürde |16|, die vor allem Charlotte in späteren Jahren zu spüren bekam, als sie allein mit ihrem Vater im verwaisten Pfarrhaus lebte und dort mit Depressionen rang. Auch Heide und Moor, die sich ringsum erstreckten, waren Freiraum und Gefängnis gleichermaßen. Zwar durften die Geschwister dort von klein auf herumstreunen, wie es ihnen gefiel, allerdings bedeutete dieser weitläufige „Spielplatz“ auch, dass alle Wege von und nach Haworth über unwegsames Gelände führten, das bei Sturm und Regen kaum ein Fortkommen zuließ. Ihre wenigen Bekannten nahmen die strapaziöse Anreise nur selten auf sich und die Brontës selbst konnten sich Besuche auswärts kaum leisten. Mit den Dorfbewohnern pflegten sie keinen engeren Umgang und auch im näheren Umkreis fehlte es nicht nur an standesgemäßer Gesellschaft, sondern vor allem auch an Verwandtschaft. Insbesondere auf dem Land waren Familienbande besonders wichtig, nicht nur als Gesellschaft, sondern auch als Hilfe und Unterstützung in Notlagen. Doch die familiären Wurzeln der Brontës lagen mütterlicherseits weit im Süden und väterlicherseits weit im Westen. Die Geschwister mussten somit weitgehend ohne den familiären Rückhalt von Großeltern, Tanten, Onkeln und Vettern aufwachsen. Auch Charlottes Vater fühlte sich in Haworth nie ganz heimisch, obwohl er über die Jahre in seiner Gemeinde hohes Ansehen als Dorfpfarrer erlangen sollte. Er bezeichnete sich häufig als „Fremder in einem fremden Land“ (Fraser, S. 27; KP). Dieses Gefühl der Entwurzelung ist nicht völlig überraschend. Denn er stammte ursprünglich nicht nur aus einem anderen Land, sondern auch aus ganz anderen Verhältnissen.
Patrick Brontë wurde am 17. März 1777 (St. Patricks Day) in der Nähe von Drumballyroney, etwa 40 Kilometer südlich von Belfast, in arme Verhältnisse hineingeboren. Er war das älteste von zehn Kindern. Seine Eltern, Hugh und Eleanor Alice Brunty – auch Prunty Branty oder Pranty geschrieben – waren Bauern. Sie brachten ihre Kinderschar mit dem durch, was sie ihrer gepachteten Scholle abringen und durch Gelegenheitsarbeiten hinzuverdienen konnten. Um das Familieneinkommen aufzubessern, mussten die Kinder auf dem Feld mit anpacken oder sie wurden als Hilfskräfte an ansässige |17|Betriebe ausgeliehen. Patrick lernte somit früh, was harte körperliche Arbeit bedeutet. Er war ein kräftiger, hochgewachsener Junge, der sich in der Dorfschule früh als ausgesprochen aufgeweckt und begabt hervortat. Dennoch schickte ihn sein Vater im Alter von nur zwölf Jahren bei einem Grobschmied in die Lehre. Er sollte, wie alle Kinder der Bruntys, ein Handwerk lernen und es somit einmal besser haben als die Eltern, die als Bauern von der Willkür der Witterung und den Gezeiten abhängig waren. Doch ihr stiller Erstgeborener war von Anfang an anders gewesen als seine Geschwister und Altersgenossen. Er war nachdenklich, bildungshungrig und liebte die Schule. Dabei zeigte er eine für sein Alter außergewöhnliche Leidenschaft und Begabung für die Poesie. Nachdem ihn der Pastor und Dorflehrer des Nachbardorfes einmal zufällig beim Lesen und Rezitieren von John Miltons Paradise Lost belauscht hatte, erklärte er sich bereit, diesen so eifrigen jungen Schüler kostenlos zu unterrichten. Von nun an marschierte Patrick jeden Morgen vor seinem anstrengenden Tagewerk in den Nachbarort, um dort am Unterricht teilzunehmen. All diesen vielversprechenden, intellektuellen Bestrebungen und Begabungen zum Trotz schien der Lebensweg des jungen Mannes unausweichlich vorgezeichnet: ein Handwerk lernen, heiraten und das eigene „irische Kinderdutzend“ in die Welt setzen. Doch ausgerechnet während seiner Lehre in der Dorfschmiede hatte Patrick ein Erlebnis, das seinen weiteren Lebensweg maßgeblich beeinflussen und ihn nach Höherem streben lassen sollte.
Eines Tages ließ dort ein Adliger sein Pferd neu beschlagen und verwickelte den Schmied in eine Diskussion darüber, was einen wahren Gentleman ausmache. Dieser behauptete, dass es genau drei Arten von Edelmännern gäbe: den so geborenen, den von Glück und Wohlstand dazu gewordenen und den von Natur aus so veranlagten. Dabei zeigte er auf seinen Lehrling und fügte hinzu: „Sehen Sie sich beispielsweise diesen Jungen hier an. Obwohl er nur sechs oder sieben Jahre alt ist, ist er ganz das, was ich einen natürlichen Gentleman nennen würde.“ (Fraser, S. 5; KP) Patrick, der mit seinen kurzen Hosen und dreckigen Füßen daneben stand, lauschte diesen Worten mit Erstaunen und vergaß sie nie. Obschon ihn sein Meister in diesem |18|beiläufigen Kommentar halb so alt machte, wie er eigentlich war, hatte er hinsichtlich seiner schlummernden Ambitionen ins Schwarze getroffen. Noch viele Jahre später pflegte Patrick dieses Ereignis als Wendepunkt in seinem Leben zu bezeichnen. Sein Ehrgeiz war erwacht, zu dem zu werden, zu dem er geboren war – und das war weder Bauer noch Schmied.
Von nun an arbeitete er mit doppeltem Eifer an seiner Schulbildung, wurde im Alter von nur 16 Jahren Aushilfslehrer im benachbarten Glascar und gründete kurz darauf eine eigene Schule. So wurde der einflussreiche Geistliche Thomas Tighe auf ihn aufmerksam, der ihn zum Tutor seiner Söhne machte und ihn im Gegenzug Latein und Altgriechisch lehrte. Er war in den nächsten Jahren sein wichtigster und vor allem einflussreichster Förderer. Tighe war zudem ein enger Freund und Unterstützer des berühmten Erweckungspredigers John Wesley, dem Begründer der methodistischen Bewegung, die im kommenden Jahrhundert ihren Siegeszug durch England antreten und die Moralvorstellungen der viktorianischen Zeit nachhaltig prägen sollte. Patrick, der aus einem protestantischen, jedoch nur leidlich frommen Elternhaus stammte, hatte John Wesley seit seiner Jugend mehrfach predigen hören und zeigte sich tief beeindruckt von Wesleys Erweckungsbewegung und vor allem von ihrer Lehre der „vorauseilenden Gnade“. Denn abweichend von der Prädestinationslehre des damals weit verbreiteten Calvinismus, die besagt, dass nur einigen Auserwählten das Himmelreich zuteilwerden kann, versprach der Wesleyanische Methodismus Gottes Gnade und Erlösung allen Menschen gleichermaßen. Sie müssten diese nur annehmen, „erwachen“ und sich bewusst für ein Leben in „persönlicher Heiligung“ entscheiden. Das bedeutete, ein Leben in bibeltreuer Frömmigkeit zu führen und in allen Dingen im Einklang mit dem Willen Gottes zu handeln. Dazu gehörte vor allem die puritanische Ablehnung aller weltlichen Vergnügungen. Für den jungen Patrick muss diese Glaubenslehre, die gleiches Recht für alle versprach, besonders attraktiv gewesen sein. Nicht zuletzt passte sie gut zu seinen eigenen ehrgeizigen Maximen: Arbeite hart, lebe aufrecht und dann bringst du es weit. Auch die pietistischen Elemente sollte |19|er verinnerlichen und für den Rest seines Lebens befolgen, indem er einen äußerst asketischen Lebenswandel pflegte, den er später dann auch seiner Familie auferlegte.
Durch Tighe fand Patrick Zugang zu den politisch einflussreichsten Kreisen der Methodisten, den sogenannten Evangelikalen. Im Gegensatz zu Erweckungspredigern wie den Gebrüdern Wesley oder George Whitefield missionierten diese nicht auf der Straße, sondern bildeten eine junge, progressive und vor allem gut vernetzte Kirchengruppe, die die englische Hochkirche von innen heraus reformieren wollte. Anders als die althergebrachten, in sich zerstrittenen Kirchenparteien halfen die aufstrebenden Evangelikalen einander, wo sie nur konnten – unabhängig von Herkunft oder Stand. Von diesem kirchenpolitischen Klüngel sollte nun ausgerechnet der junge Aushilfslehrer aus Irland profitieren. Sein Förderer Tighe war ein Absolvent und ehemaliger Fellow des St. John’s College in Cambridge, das schon länger als evangelikale Kaderschmiede bekannt war. Mittels seiner Beziehungen verschaffte er seinem Protegé dort im Jahr 1802 einen Studienplatz sowie ein privates Stipendium, finanziert vom bekannten evangelikalen Reformpolitiker William Wilberforce. So gelang Patrick im Alter von nur 25 Jahren der Sprung von einer der damals ärmlichsten Gesellschaftsschichten Europas direkt ins Herz des britischen Establishments: nach Cambridge, einer der prestigeträchtigsten und teuersten Universitäten Englands.
In dieser elitären Umgebung wird es dem irischen Bauernsohn, der sich mit seinen mageren Ersparnissen und einer sehr knapp bemessenen Apanage über Wasser halten musste, nicht immer leicht gefallen sein, sich zu behaupten. So gesehen ist es nicht weiter verwunderlich, dass er ausgerechnet zu jener Zeit seinen Familiennamen von „Brunty“ in das weniger irisch und dafür vornehmer klingende „Brontë“ umänderte: ein Tribut an Admiral Nelson, der nach seinem Sieg über Napoleon in der Schlacht von Abukir zum „Duke of Bronte“ ernannt worden war. Patrick fügte dem Namen „Bronte“, eigentlich der Name einer Grafschaft in Sizilien, die Nelson verliehen worden war, noch das distinguierte Trema hinzug: Brontë. In der griechischen Mythologie personifizierte der Kyklop „Brontes“ |20|zudem den Donner – ein Umstand, der dem jungen Altphilologen bekannt und willkommen gewesen sein dürfte. Patrick hatte sich also einen Namen gewählt, der von einem englischen Nationalhelden inspiriert war, mythologisch-martialische Anklänge hatte und den er, als sei das alles nicht genug, noch um die gediegenen „zwei Tüpfelchen auf dem e“ ergänzte, was tief blicken lässt bezüglich seines überspannten Selbstverständnisses, das im Alter recht exzentrische Blüten treiben sollte.
Obwohl er somit seinen Familiennamen von allen irischen Spuren bereinigt hatte, war er zeit seines Lebens stolz auf seine Wurzeln und sehr empfindlich, wenn er das Gefühl hatte, dass man ihn deswegen herabsetzte. Nichtsdestotrotz kehrte er nach seiner Studienzeit nie mehr nach Irland zurück, sondern verbrachte den Rest seines Lebens in England. Durch seine Bildung und seinen neuen Namen war er hierfür perfekt ausgestattet und auch sonst war ihm seine einfache Herkunft nicht mehr anzusehen. Aus dem barfüßigen, schlaksigen Jungen war ein attraktiver junger Mann geworden: hochgewachsen, kräftig, mit rötlichem Haar und ebenmäßigen Gesichtszügen. Seine hohen Wangenknochen und die ebenmäßige Stirn, die in eine gerade Nase überging, entsprachen ganz dem damaligen aristokratischen Schönheitsideal eines griechischen Profils und verliehen ihm stets einen gewissen Ausdruck von Hochmut und Entschlossenheit. Er hatte nichts Bäuerisches oder Hinterwäldlerisches an sich und sollte selbst im hohen Alter von 80 Jahren noch eine ansehnliche Erscheinung abgeben.
Dieser Attraktivität erlag Maria Branwell, als sie Patrick 1812 in Bradford in Yorkshire kennenlernte. Er war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt und bereits seit drei Jahren in verschiedenen Gemeinden als Hilfsgeistlicher tätig gewesen. Nach dem Abschluss seines Studiums hatte er sich für eine Karriere bei der englischen Hochkirche entschieden, denn als Geistlicher konnte er endlich das sein, was ihm „von Natur aus“ vorherbestimmt gewesen war: ein Gentleman. Neben dem hohen Ansehen versprach eine kirchliche Karriere zudem finanzielle Sicherheit, ein aktives religiöses Leben sowie Zeit für intellektuelle Gelehrsamkeit, sei es im Rahmen kirchlichen Unterrichts |21|oder beim Verfassen von Predigten und religiösen Schriften. Letzteres lag dem bildungshungrigen, literaturaffinen Patrick, der schon in Cambridge sein knappes Geld lieber für Bücher denn für Essen ausgegeben hatte, besonders am Herzen. Darüber hinaus hatte er während seiner Anfangszeit als Hilfspfarrer einige religiöse Gedichte in diversen Zeitschriften sowie eine kleine Gedichtsammlung mit dem Titel Cottage Poems veröffentlicht, die vom schlichten Glauben der Landbevölkerung handelt und diesen so idealisiert wie didaktisch in Szene setzt. Seine Leidenschaft für das Schreiben wird in der Ankündigung des Buches offenbar:
„Der Autor dieses Bändchens schrieb, sofern er nicht von seinen geistigen Pflichten in Anspruch genommen wurde, immerzu an den Gedichten: von morgens bis mittags, und von mittags bis nachts erfüllte ihn diese Beschäftigung mit einem solchen unbeschreiblichen Glücksgefühl, dass er sich wünschte, es möge ein Leben lang andauern.“
(Green, S. 171; KP)
Später sollte er noch weitere Gedichte, einige Kurzgeschichten sowie einen Kurzroman mit dem Titel The Maid of Kilarney veröffentlichen, wobei sich letzterer bei seinen Kindern großer Beliebtheit erfreute und sie wohl auch dazu motivierte, ihm in Sachen Schreiben nachzueifern. Neben solchen frühen Bemühungen als Autor war der junge Hilfspfarrer zudem weiter in der Lehre tätig und prüfte die alten Sprachen an der methodistischen Woodhouse Grove School für arme Pastorensöhne, die von John Fennell, Maria Branwells Onkel, geleitet wurde.
Dort lernte er seine zukünftige Frau Maria kennen, die in der Schule bei der Betreuung der Schüler sowie bei anfallenden Hausarbeiten aushalf. Dies tat sie jedoch vor allem aus familiärem Pflichtgefühl und frommer Bescheidenheit, denn grundsätzlich kam sie aus gutbürgerlichen, wohlhabenderen Verhältnissen. Ihr Vater war ein angesehener Kaufmann und Ratsherr in der Hafenstadt Penzance in Cornwall gewesen, wo sie in besten Kreisen verkehrt war, eine sehr gute Ausbildung und eine streng methodistische Erziehung genossen hatte. Als sie 25 Jahre alt war, starben ihre Eltern und so war |22|sie nach Yorkshire gekommen, um bei ihrem Onkel und ihrer Tante zu leben, in deren Schule auszuhelfen und vielleicht auch, um einen Ehemann zu finden. Allerdings hatten ihre Eltern für sie gut vorgesorgt und daher zwangen sie keinerlei finanzielle Gründe, bald zu heiraten. So kam es, dass sie im Alter von 29 Jahren, als sie Patrick Brontë kennenlernte, immer noch unverheiratet und somit beinahe eine alte Jungfer war.
Er verliebte sich sofort in die zarte Maria mit den braunen Locken und scheuen Rehaugen, die nicht nur anmutig und fromm, sondern auch geistreich und belesen war. In ihrem zerbrechlichen Körper steckten darüber hinaus ein starker Wille und ein wacher Verstand, beide geprägt von resoluten religiösen Überzeugungen und Idealen, die nach einem Gleichgesinnten verlangten. In Patrick fand sie diesen und so gab sie für ihn bereitwillig ihre Unabhängigkeit auf, wie sie in einem Brief kurz nach ihrer offiziellen Verlobung schreibt:
„Seit einigen Jahren schon bin ich ganz mein eigener Herr und niemandem Rechenschaft schuldig; das ging so weit, dass meine Schwestern, die viel älter sind als ich, und sogar meine liebe Mutter mich in allen wichtigen Dingen um Rat zu fragen pflegten, wobei sie kaum jemals an der Schicklichkeit meiner Ansichten und Taten zweifelten: Du magst mich nun vielleicht der Eitelkeit bezichtigen, wenn ich das erwähne, aber du musst bedenken, dass ich mich dessen nicht brüste. Nur zu oft habe ich diese Freiheit als Nachteil empfunden, und obschon sie mich Gott sei Dank nie in die Irre geführt hat, habe ich in Momenten der Unsicherheit und des Zweifels dieses Fehlen eines Leiters und Lehrers in aller Schärfe zu spüren bekommen.“
(Gaskell, S. 38; KP)
Dieser frühe, rege Briefwechsel sowie die Brautwerbung insgesamt waren nur von kurzer Dauer. Noch im Dezember desselben Jahres, 1812, heirateten die beiden und bezogen ein gemeinsames Haus in Hightown.
Ihre Ehe sollte nur neun Jahre dauern, doch scheinen dies sehr innige, harmonische Jahre gewesen zu sein. Beide lebten aus Überzeugung ganz für die Kirche und Marias Tage als Vikarsfrau in der Pfarrei waren ebenso erfüllt wie die ihres Mannes: Sie unternahm |23|Armen- und Krankenbesuche, organisierte Teegesellschaften oder Bibelstunden und unterrichtete in der Sonntagsschule. Patricks Karriere entwickelte sich derweil vielversprechend und stetig weiter, ganz so wie der Nachwuchs der jungen Familie. In den Jahren 1814 bis 1820 brachte Maria in bester viktorianischer Manier beinahe jedes Jahr ein Kind zur Welt. Nach der Geburt ihrer ersten beiden Töchter Maria und Elizabeth im Frühjahr 1814 und 1815 zogen die jungen Eltern von Hightown nach Thornton, wo Patrick eine neue Stelle antrat – abermals als Hilfsgeistlicher, jedoch mit besserem Gehalt, einer größeren Gemeinde und einem eigenen kleinen Pfarrhaus für seine wachsende Familie. Dort kam am 21. April 1816 Charlotte zur Welt, dicht gefolgt vom einzigen Sohn Patrick Branwell im Juni 1817, Emily Jane im Juli 1818 und schließlich Anne im Januar 1820.
Maria Brontë, geb. Branwell
So viele Geburten in so kurzer Abfolge würden selbst in der heutigen Zeit und bei moderner ärztlicher Versorgung einer Frau einiges abverlangen. Das gilt umso mehr bei einer Frau von Marias |24|gebrechlicher Konstitution sowie angesichts der damals herrschenden Bedingungen in Sachen Hygiene und medizinischer Versorgung. Im Pfarrhaus in Thornton, wo Charlotte und sämtliche ihrer jüngeren Geschwister zur Welt kamen, gab es beispielsweise kein fließendes Wasser und keine beheizten Schlafzimmer. Wenn eine Niederkunft bevorstand, stellte man lediglich das elterliche Ehebett vor den Kamin im Salon, hieß die Mägde vom städtischen Brunnen Wasser holen, dieses erhitzen und ließ ansonsten der Natur ihren Lauf. Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dass es Maria überhaupt gelang, sechs gesunde Kinder zur Welt zur bringen. Von ihrer letzten Geburt sollte sie sich jedoch nicht mehr erholen. Als die junge Familie nur drei Monate darauf zu ihrem endgültigen Familiensitz nach Haworth umsiedelte, war die junge Mutter bereits vom Tod gezeichnet.
Dieser Umzug markierte einmal mehr einen beruflichen Aufstieg von Patrick Brontë. Man hatte ihm eine feste Stelle als Vikar – in der anglikanischen Kirche eine Art permanenter Hilfspfarrer – angeboten, die ein besseres Jahresgehalt versprach, mehr Verantwortung sowie lebenslanges Logis im örtlichen Pfarrhaus, das weitaus geräumiger war als das inzwischen eng gewordene Heim in Thornton. Obwohl Haworth keine eigenständige Gemeinde war, sondern zu Bradford gehörte, bot die Pfarrei einige Aufgaben für ihren Vikar: Patrick war hier zuständig für eine Gemeinde von beinahe 5000 Seelen, alle größtenteils der Arbeiterklasse zugehörig, die in dem kleinen Ort und teilweise weit verstreut in kleinen Weilern lebten. Dies sollte die Endstation seiner bis dahin so steilen Karriere werden. Eine solche Aushilfsstelle auf Lebenszeit war zwar nicht gerade das höchste der Gefühle, allerdings hatte Patrick nun eine Familie zu versorgen, sodass dieses solide Angebot durchaus attraktiv war, wie er einem Freund schrieb: „Mein Gehalt ist nicht besonders hoch, nur an die 200 Pfund im Jahr. Aber zusätzlich dazu bekomme ich ein ordentliches Haus, das mir für den Rest meines Lebens gehört und keine Miete kostet.“ (Wilks, S. 3; KP). Ein geräumiges Heim sowie ein festes Einkommen waren wichtiger für den Familienvater als ein weiteres Fortkommen auf der Karriereleiter. Außerdem bot diese Stelle |25|eine Altersvorsorge für ihn und die Seinen, denn solange er lebte, hatte er Anspruch auf beides.
Am 20. April 1824, einen Tag vor Charlottes viertem Geburtstag, machten sich die Brontës also auf die beschwerliche Tagesreise in ihr neues Zuhause, wo sie allesamt, mit wenigen Unterbrechungen, den Rest ihres Lebens verbringen sollten. Obwohl die Distanz zwischen Thornton und Haworth keine zehn Kilometer betrug, war der Weg beschwerlich und führte über steinige, teilweise nur schwer passierbare Straßen, die diese Bezeichnung kaum verdienten. Es stürmte und regnete in Strömen und der Planwagen, in dem Maria mit ihren sechs blassen, schmächtigen Kindern saß, bot nur spärlichen Schutz vor der Witterung. In ihrem geschwächten Zustand mussten ihr die endlosen, sturmgepeitschten Hochebenen Yorkshires besonders harsch vorgekommen sein, war sie doch das schöne Cornwall mit seinem milden Klima, regen Hafenstädten und pittoresken Küstenlandschaften gewohnt. Von nun an sollte sie inmitten des Hochmoores leben, das bei schlechtem Wetter den Horizont zu verdunkeln schien und dessen Monotonie allein von grauen Kirchtürmen und qualmenden Fabrikschloten unterbrochen wurde. Daniel Defoe hatte diesen öden Landstrich neunzig Jahre zuvor säuerlich als gänzlich „grauenvolle Gegend“ bezeichnet, vor allem, wenn man sie zu Pferde durchqueren musste, denn „kaum kamen wir einen Hügel herab, mussten wir auch schon den nächsten wieder hinauf“ (Fraser, S. 18; KP).
In diesem Meer aus Hügeln lag nun Haworth an einem steilen Hang, umflutet von der düsteren Moorlandschaft wie eine Insel. Dieses Eiland schien fernab aller Kontinente der Zivilisation zu liegen –und das, obwohl die florierende Webereistadt Keighly nur wenige Kilometer entfernt war. Doch so weit das Auge reichte, sah man nur Hügel und Senken des Hochmoors. Kein Feld und kein Garten unterbrachen diese Einöde, denn Ackerbau wurde hier nicht betrieben. Zu groß wäre der Aufwand, das Land urbar zu machen, zu gering der Ertrag des steinigen, sumpfigen Bodens. Wer an südlichere Gefilde mit ihren satten grünen Feldern und blühenden Wiesen gewöhnt war, suchte sie hier vergeblich. Allein im Spätsommer, wenn |26|die Heide blühte, wurde das graubraune Panorama für kurze Zeit von farbigen Schattierungen durchzogen und erhielt ein lieblicheres Aussehen. Doch blühte hier alles immer ein bis zwei Monate später als im Süden und auch nur für äußerst kurze Zeit. Eigentlich, so sollte Charlotte später einmal anmerken, gab es gar keinen richtigen Sommer in Haworth.
Der Ort selbst bestand nur aus einer einzigen, schlecht befestigten Straße, die dicht gesäumt von ärmlichen Häusern einen steilen Hang hinaufführte; an ihrem Ende und somit am höchsten Punkt des Ortes thronten die Kirche und das Pfarrhaus, das Hochmoor im Rücken. Ellen Nussey, Charlottes langjährige Freundin und Vertraute, beschrieb den beschwerlichen Weg dort hinauf einmal sehr anschaulich:
„Nach Meile um Meile wilder, unbebauter und größtenteils unbewohnter Landschaft, erreichten wir schließlich Haworth; doch zuvor mussten wir noch den Abhang eines gewaltigen Hügels hinab, der so steil war, dass an Weiterfahren gar nicht zu denken war; es hieß Aussteigen und das Pferd vorsichtig hinabführen. Kaum hatten wir die Talsohle erreicht, mussten wir auch schon wieder auf der anderen Seite hinauf, auf einer schmalen, mit kruden Felsbrocken gepflasterten Straße; die Hufe der Pferde stemmten sich nun in derbe Pflastersteine, ganz so, als würden sie klettern. Als wir den höchsten Punkt des Dorfes erreicht hatten, schien es, als wäre auf der Straße kein weiteres Fortkommen möglich; doch man lotste uns zu einer Einfahrt, gerade breit genug für den Wagen, wo wir wenden und von wo aus wir die nahegelegene Kirche sehen konnten; eine schmale Gasse führte uns von hier aus zum Tor des Pfarrhauses.“ (Smith, I, S. 596f.; KP)
Eben diesen beschwerlichen Aufstieg legten nun der neue Vikar mit seiner kränklichen Frau und seinen kleinen Kindern in ihrem klapprigen Planwagen zurück, dicht gefolgt von sieben kleineren Pferdekarren, die, ordentlich verzurrt und reichlich durchnässt, sämtliches Hab und Gut der Familie geladen hatten. Es muss eine etwas schäbig wirkende Prozession gewesen sein, die da unter den neugierigen Blicken der Einwohner vor dem Pfarrhaus eintraf.
Es ist viel geschrieben worden über dieses kalte, strenge Haus, das seine „Insassen“ von Anfang an dazu gezwungen zu haben schien,
|27|sich in fiktive Welten zu flüchten. Düster, kahl und zugig sei es gewesen: ein großes Mausoleum, eingefasst vom überfüllten Friedhof von Haworth. Es sollte den Tod mehrerer Familienmitglieder sehen und trotz der vielen Kinder würde hier meist nur das Ticken der großen Standuhr im Flur zu hören sein. Doch wie es dort oberhalb des Ortes thronte, musste das imposant emporragende Gebäude den Brontë-Kindern zunächst vorgekommen sein wie ein Schloss, das nach der Enge ihres Stadthauses in Thornton vor allem eins versprach: mehr Platz. Das große, rechteckige Haus hatte eine schlichte, neoklassizistische Fassade mit einem Ziergiebel über der Eingangstür, die sich an der Breitseite des Gebäudes befand und zu beiden Seiten von zwei Fenstern gerahmt war. Es hatte auf jeder Etage nur je vier Zimmer: im Erdgeschoss den Salon, Patricks Arbeitszimmer, die Küche und eine Speisekammer; im Obergeschoss vier Schlafzimmer sowie einen kleinen, kammerartigen Raum oberhalb des Vestibüls, der den Kindern als Spielzimmer oder, wie die Brontës es nannten, als „Kinderstudierzimmer“ diente. Vor allem hatte es einen kleinen Garten, der zwar nur äußerst spärlich bepflanzt war, aber immerhin weitaus größer als der Hinterhof in Thornton. Der eigentliche „Spielplatz“ der Kinder sollte jedoch das Moor werden, das sich direkt hinter dem Haus weiter die Anhöhe hinauf erstreckte. So am Hang gelegen, in direkter Nachbarschaft der Pfarrkirche St. Michael and All Angels, bot das Haus zudem eine schöne Aussicht über die Umgebung und das Gefühl, als könne man hier etwas freier atmen als in den manchmal erstaunlich tiefen Senken zwischen den Hügeln. Doch eben diese exponierte Lage stellte auch einen markanten Nachteil dar. Denn hier, am obersten Rand des Ortes, trafen die über die Moore dahinfegenden Böen ungebremst auf das Haus, das damals noch keinen Baumbewuchs hatte, um es abzuschirmen. Im schlecht isolierten Inneren konnte man somit selbst an freundlichen Tagen den Wind pfeifen hören, der um das Haus streifte und an den Fenstern rüttelte.
|28|Haworth, Ambrotypie, ca. 1861
Haworth Pfarrhaus und Friedhof
Die spartanische Inneneinrichtung im neuen Haushalt der Brontës hatte diesem ungemütlichen Außen nicht viel entgegenzusetzen. Es gab weder Vorhänge – Patrick hatte panische Angst vor Feuer – |29|noch Tapeten und auch kaum Teppiche, die den penibel sauber gehaltenen, aber kalten Steinboden bedeckten. Alles war im Hinblick auf Funktion und nicht auf Komfort oder Schmuck eingerichtet, was sowohl den puritanischen Neigungen des Paares als auch dem Mangel an Geld geschuldet gewesen sein mag. Die wenigen luxuriöseren Möbel und Gegenstände, die Maria als Mitgift in die Ehe gebracht hatte, waren bereits vor einigen Jahren bei ihrer Verschiffung aus Cornwall im Meer versunken und so strahlten lediglich das Studierzimmer und der Salon mit ihren Mahagonimöbeln, Bücherwänden und Teppichen eine gewisse Behaglichkeit aus.
Für Maria und ihre Kinder sollte sich das Leben vor allem in und um diese vier Wände abspielen, während Patrick zunächst vollauf damit beschäftigt war, sich in sein neues Amt einzufinden, das ihm doppelt so viele Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen bescherte wie zuvor. Auch war er bemüht, die Bevölkerung seiner neuen Gemeinde kennenzulernen, und so marschierte er für seine Besuche oft meilenweit über die Moore. Einen Wagen besaß die Familie nicht. Auch seine Kinder scheuchte er täglich an die frische Luft in den Garten. Die Bewegung im Freien sollte sie robust machen, so wie er und seine Geschwister es stets gewesen waren. Doch schienen seine Kinder mit ihrer schwächlichen Konstitution allesamt nach der Mutter zu kommen. Diese mied das oft kalte, feuchte Wetter und blieb von Anfang an die meiste Zeit im Haus. Es gelang ihr nicht, in Haworth Anschluss zu finden, zumal es dort keine Familien vom gleichen Stand oder Bildungsgrad gab und die Dorfbewohner Fremden gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen waren. Im gutbürgerlichen Thornton war das anders gewesen. Dort hatten die Brontës einen großen Freundes- und Bekanntenkreis besessen, wovon nicht zuletzt die vielen verschiedenen Paten der Brontë-Kinder zeugen, die aus jenen Tagen stammen. Das junge Ehepaar hatte dort aktiv am gesellschaftlichen Leben der Stadt teilgenommen, wie die Tagebuchaufzeichnungen von Elizabeth Firth, einer besonders engen Freundin der Familie, bezeugen. Ganz anders nun in Haworth, wo es eine „Gesellschaft“ in diesem Sinne gar nicht gab. Maria erlebte ihr neues Leben in Yorkshire in seiner ganzen Konsequenz und vor |30|allem in seinem scharfen Kontrast zu ihrer behüteten Jugend im lieblichen Cornwall. Doch trug sie ihr Los geduldig und ohne zu klagen, hatte sie doch bewusst all das aufgegeben, um dem Mann, den sie liebte, dorthin zu folgen, wohin der Ruf des Herrn ihn auch führen möge. So hatte sie es ihm in einer überschwänglichen Liebeserklärung kurz vor ihrer Hochzeit geschrieben:
„Sei versichert, dass du nicht bloß einen sehr großen Anteil meiner Zuneigung und Wertschätzung dein nennen kannst, sondern alles, was ich zu fühlen in der Lage bin … Wäre meine Liebe für dich nicht so groß, wie könnte ich so leichten Herzens meine Heimat und meine Freunde hinter mir lassen – eine Heimat, die ich so sehr liebte, dass ich mir oft dachte, nichts könne mich dazu bringen, ihr für längere Zeit den Rücken zu kehren, und Freunde, mit denen ich schon lange mein Glück ebenso wie meinen Verdruss zu teilen pflegte? Und doch haben sie an Gewicht verloren, und obwohl ich oft nicht an sie denken kann, ohne dass mir ein Seufzer entschlüpft, ist die Aussicht, mit dir alles Freud und Leid, alle Sorgen und Ängste im Leben zu teilen, zu deinem Wohlergehen beizutragen und der Gefährte deiner Pilgerschaft zu werden, wundervoller als alles andere, was diese Welt mir bieten könnte.“ (Wise & Symington, I, S. 18f.; KP)
Doch diese gemeinsame Pilgerschaft sollte nach nur neun Jahren in Haworth ein unerwartetes, viel zu frühes Ende finden. Maria, seit der letzten Geburt und den Strapazen des Umzugs hinfällig und geschwächt, brach im Januar 1821 plötzlich zusammen und wurde so krank, dass sie das Bett nicht mehr verlassen konnte. Was bis dahin wie eine übliche und nicht sonderlich besorgniserregende Unpässlichkeit erschienen war, entpuppte sich nun als todbringende Krankheit: Unterleibskrebs. Diese Diagnose war der Auftakt für ein langsames, qualvolles Siechtum, das sich fast acht Monate hinzog. Patrick, der viel zu spät den Ernst der Lage erkannt hatte, scheute keine Kosten und Mühen. Er heuerte verschiedene Spezialisten sowie eine Krankenschwester an, da Maria bald rund um die Uhr betreut werden musste, was die beiden Mägde, die schon den Haushalt und die sechs Kinder versorgten, nicht mehr leisten konnten. Dabei bestand er darauf, sie nachts höchstpersönlich zu versorgen, auch |31|wenn das bedeutete, dass ihm der Schlaf während seines anstrengenden Tagewerks fehlen würde. Die Kinder schlichen nurmehr auf Zehenspitzen durch das Haus, um ihre Mutter nicht zu stören, die immer teilnahmsloser wurde und es nur noch selten ertrug, ihre Kleinen zu sehen. Stattdessen liefen sie gemeinsam über die Moore, die Kleinsten unter den wachsamen Augen der Ältesten, Maria, die ungewöhnlich frühreif war und schon jetzt begann, die Mutterrolle zu übernehmen. Wenn sie nicht auf ihre Geschwister aufpasste, las sie ihrer Mutter vor oder leistete ihrem sich grämenden Vater Gesellschaft, ganz wie eine Erwachsene. Die neu angestellte Krankenschwester sprach noch Jahre später voll Staunen über das Verhalten der Brontë-Kinder zu jener Zeit:
„Man merkte kaum, dass da auch nur ein einziges Kind im Haus war, so ruhig, lautlos und artig waren die kleinen Dinger. Maria hat sich oft mit einer Zeitung in das Kinderstudierzimmer gesperrt – da war sie keine sieben Jahre alt! – und wenn sie wieder herauskam, konnte sie einem alles Gelesene erzählen: Parlamentsdebatten und was nicht alles. Sie war wie eine Mutter zu ihren Schwestern und ihrem Bruder. Ich habe noch nie so brave Kinder gesehen. Am Anfang fand ich sie temperamentlos, da sie so anders waren als alle anderen Kinder, die ich kannte.“ (Gaskell, S. 43; KP)
Mit dem plötzlichen Ausfall der Eltern in einer neuen, fremden Umgebung blieb den Geschwistern nichts anderes übrig, als sich an dem festzuhalten, was ihnen geblieben war: einander, das Moor und eine Phantasiewelt, gespeist von Informationen über die Außenwelt, die das Pfarrhaus in Form von Büchern, Zeitungen und Pamphleten erreichten. Sie lernten, weitgehend ohne eine erwachsene Bezugsperson auszukommen, denn Verwandte oder Freunde, die bei der Versorgung der Kranken oder der Kinder helfen könnten, gab es in Haworth keine. Schließlich bat Patrick Marias ältere Schwester Elizabeth Branwell, die schon einmal für ein Jahr zu Besuch gewesen war, um mit den Geburten und der wachsenden Kinderschar auszuhelfen, um Hilfe. Die vierzigjährige alte Jungfer machte sich also erneut auf den langen Weg von Cornwall nach Yorkshire, um ihrer Schwester bei ihrem Todeskampf beizustehen.
|32|Maria war kein leichter Tod vergönnt. Die Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder und ihres Mannes, für dessen aufbrausendes Temperament sie stets der ausgleichende, mildernde Gegenpart gewesen war, quälte sie. Zu den schier unerträglichen Schmerzen kam ein Hadern mit Gott, der es ihr beschieden hatte, eine kleine Familie zu gründen, nur um sie dann im Stich lassen zu müssen. Patrick sollte diesen letzten Kampf in Körper und Geist folgendermaßen beschreiben:
„Der Tod verfolgte sie unbarmherzig. Ihre Konstitution war bereits stark geschwächt und so schwand sie mit jedem Tag ein bisschen mehr; nach über sieben Monaten voller Schmerzen, grausamer als alle, die ich je einen Menschen erleiden sah, entschlief sie endlich in Jesus … Viele Jahre hatte sie mit Gott gelebt, aber der ewige Feind, der ihr ihre Heiligkeit neidete, verfolgte sie oft in ihren Gedanken während dieser letzten Prüfung. Dennoch, im Großen und Ganzen fand sie Frieden und Trost in ihrem Glauben und starb, wenn auch nicht triumphierend, so doch gefasst in der seligen wie demütigen Zuversicht, in Christus ihren Erlöser und im Himmelreich ihre ewige Heimat zu haben.“ (Green, S. 93; KP)
Maria Brontë starb am 15. September 1821 im Alter von 38 Jahren. Sie hinterließ ihren geliebten Ehemann sowie sechs Kinder. Charlotte war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal fünf Jahre alt.