Читать книгу Stahllilie und die Liga der Zerbrochenen - Katherina Ushachov - Страница 5
Eli - vor langer Zeit
ОглавлениеDer Prüfungsraum war eiskalt, denn aus irgendeinem Grund hielt der Lehrkörper es für angemessen, sie ausgerechnet im Raum mit den Maschinenkühlungen die Probeklausuren schreiben zu lassen. Nur dass die Atemwölkchen vor ihnen die Konzentration nicht wirklich hoben – ständig schweiften Elis Gedanken ab. Beispielsweise zu der Frage, ob genug Atemwölkchen reichen würden, damit es im Raum schneite.
Nikosh neben ihm konzentrierte sich so stark, dass er sich die Unterlippe fast schon zerbiss. Warum auch immer er die Angewohnheit hatte, auf seinen Lippen herumzukauen. Wenn er das lange genug machte, sah er bald aus wie ein Vampir, eine dieser Gestalten aus dem zerfledderten und halb zerfallenden »Penny Dreadful«-Heftchen, das seine Großeltern mit nach Motis gebracht hatten, als sie auf den Eisplaneten ausgewandert waren.
Heftchen aus Papier, eine Rarität, um die Eli von allen anderen Kindern beneidet wurde.
Die Gedanken an Erdliteratur halfen allerdings nicht dabei, die Mathematikaufgabe zu lösen, die auf ihren Tablets blinkte. Unauffällig schielte Eli auf Nikoshs Display und versuchte in dessen Lösungsweg irgendeinen Anhaltspunkt zu erkennen. Nicht, dass bei dem spärlichen Licht sonderlich gut zu lesen war, was die dunkelgrünen Zahlen auf graugrünem Grund bedeuten sollten, aber einen Versuch war es trotzdem wert. Er hatte keine Ahnung, was er ausrechnen musste, um zur nächsten Aufgabe zu gelangen. Je mehr er schaffte, desto besser und nur die Besten würden zur nächsten Stufe der Aufnahmeprüfung zugelassen werden.
»Vergesst nicht, wenn ihr schummelt, betrügt ihr nur euch selbst.«
Bei den Worten des Lehrers blickte Nikosh verwirrt auf, sah kurz zu Eli und hob unter dem Tisch den Daumen. Dann blickte er wieder auf seine Zahlen und Formeln.
Das war nur ein Testlauf. Trotzdem, es war eine Frage des Prinzips, er musste gut sein! Mindestens so gut wie Nikosh, wenn nicht besser. Besser wäre ihm natürlich lieber, denn seine Eltern erwarteten, dass er der Klassenbeste wurde und spätestens bei der wirklichen Prüfung einen prestigeträchtigen Platz auf der weiterführenden Wissenschaftsschule ergattern würde. Wenn er das nicht schaffte, würden sie ihn schneiden. In einer Wohneinheit, die nur halb so groß war wie ein durchschnittliches Klassenzimmer, mehr als unangenehm.
Der bloße Gedanke daran, auf engstem Raum dem enttäuschten Schweigen seiner Eltern ausgesetzt zu sein, lähmte Eli. Er starrte die Gleichung an, bis die Ziffern vor seinen Augen zu verschwimmen begannen und die eckigen Zahlen sich gegeneinander verschoben. Eli blinzelte – und sah mit einem Male, dass die Lösung recht offensichtlich war. Er musste nur, wie in einer linearen Gleichung, einige Zahlen und Variablen von einer Seite zur anderen schieben und das war nun wirklich nicht schwer.
Nächste Aufgabe.
Er wusste nicht, bei welcher Nummer Nikosh war, ob sie überhaupt noch gleichauf rechneten. Vielleicht hatten sie nur dieselbe Startgleichung und danach bekamen sie unterschiedliche? Und vielleicht sollte er auch schauen, was die anderen vor und neben ihm rechneten.
Eigentlich wollte er ihn doch gar nicht übertrumpfen, schließlich war es viel schöner, mit dem besten Freund auf die gleiche Schule zu gehen. Aber Nikoshs Familie war in der Hinsicht locker, also hatte er einfach Vorrang!
***
Sie standen gemeinsam vor der großen Tafel. Weiße Steckstriche, Buchstaben und Zahlen zeigten ihre Prüfungsergebnisse allen, die zufällig an diesem Korridor vorbeikamen und die es eigentlich nichts anginge.
Eli wand sich etwas. »Gleiche Punktzahl? Ich dachte, dann gibt es ein Stechen.«
»Scheinbar nicht, auf der Tabelle haben sie uns einfach nebeneinander gereiht.« Nikosh sah selbst nicht allzu glücklich darüber aus.
Das hatte für Eli ein paar frostige Blicke und ein Schnauben seitens seiner Mutter gegeben, aber es hätte schlimmer kommen können. Viel schlimmer. Und Nikosh hatte bestimmt Verständnis, er wusste ja, wie es bei ihm daheim aussah.
Nikosh lehnte sich gegen die Trennwand des Schulsektors und holte tief Luft. »Also …«
»Hm?«
»Wenn wir dann beide auf der Wissenschaftsschule sind … und nicht mehr daheim wohnen … willst du mit mir in einen Schlafsaal?«
Eli runzelte die Stirn. »Warum stellst du so eine Frage?«
Nikosh senkte den Blick. Sein Mundwinkel zuckte und seine Stimme klang merkwürdig gepresst. »Oh … also nicht … tut mir leid, ich hätte nicht …«
»Klar will ich mit dir in den Schlafsaal, Doofkopf. Du bist mein bester Freund!«
Nikosh hob den Kopf und lächelte. »Danke. Das … das bedeutet mir viel.«
Eli sah ihn erstaunt an. »Es ist doch nur ein Schlafsaal.«
Aber sein Freund schüttelte nur den Kopf und wedelte mit den Händen in der Luft umher. Als würde er versuchen, Wörter einzufangen. »Ja … also … es ist kompliziert und eigentlich unwichtig, also …«
»Ist es bei dir daheim etwa doch übel? Warum sagst du nichts?« Eli nahm ihn an den Schultern und sah ihn ernst an.
»Nicht direkt übel, es … es geht. Ich will nicht jammern, weil es bei dir echt scheiße ist und ich muss nur den Mund aufmachen und stelle fest, dass meine Probleme dagegen Nanobits sind, weißt du?«
»Willst du darüber reden?«
Nikosh schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Vielleicht später, wenn ich … Wie hat deine Mutter reagiert?«
»Wie immer. Sie war so warmherzig wie ein Wintersturm am Forschungstag. Und deine?«
»Oh, das … Lösen wir erst einmal deine Probleme, ja?«
Und weil sich Elis Probleme erst lösen würden, wenn er bei seinen Eltern ausgezogen war, konnte das noch eine geraume Weile dauern. Trotzdem hätte er zu gerne gewusst, was so an seinem besten Freund nagte. »Aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, irgendwas für dich machen kann, sagst du das, ja? Versprich mir das.«
Nikosh drehte den Kopf zu einer Seite, was aussah, als hätte er zu einem Kopfschütteln angesetzt und es sich mittendrin anders überlegt. Dann nickte er.
***