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Kapitel 1 Konfrontation

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Windermere House, London, Frühjahr 1797

Ruhig sah sich Annabell Scott Mannings, Duchess of Kent, im Besuchersalon des Londoner Wohnhauses ihrer Tante um. Obwohl er durchaus geschmackvoll eingerichtet war, konnte ein geschultes Auge an ein paar Details erkennen, dass es dem Inhaber an finanziellen Mitteln fehlte. Der Teppich verlor an Farbe, und offensichtlich war die Sitzgruppe verstellt worden, um beginnende Abnutzungserscheinungen desselben zu verdecken. Das Ergebnis war eine merkwürdige Konstellation von zwei Chaiselonguen und drei Paar zierlicher Stühle. Die drei Beistelltische rundeten das Bild keineswegs ab, waren sie doch Überbleibsel verschiedener Epochen und standen unsymmetrisch zu den Sitzgelegenheiten. Dafür war nicht an Kunst gespart worden. Große Gemälde hingen an den Wänden und lenkten von den alten Seidentapeten ab. Auf dem Kaminsims und den Kommoden standen Figurinen und handtellergroße Abbildungen der Familienangehörigen. Der Töchter des Hauses, genau genommen, und die waren darauf außergewöhnlich gut getroffen, obwohl die Jüngste in Persona nicht halb so damenhaft erschien wie auf dem kleinen Porträt.

Annabell wendete den Bildnissen den Rücken zu und nahm seufzend auf einer Chaiselongue Platz, die ungünstig zum Fenster stand. Das grelle Morgenlicht der Maisonne raubte ihr den Blick. Sie schloss die Augen und ließ ihr Gesicht in ihm baden. Die Wärme der Strahlen sackte durch zu ihren Knochen und vertrieb die Unruhe, die sich ob des anstehenden Gesprächs in ihr aufgebaut hatte.

Annabell wappnete sich. Sie würde unerbittlich sein müssen, so wie es die Verwandten vor all den Jahren zu ihr gewesen waren. Sie würde eisenhart auftreten und mit Vergeltung drohen. Mit dem Ruin, sollte es nötig sein.

Sie war bereit, die Tante und den Onkel gesellschaftlich völlig zu vernichten. Annabell schluckte das schlechte Gewissen und alle aufkeimenden Gedanken über die Konsequenzen resolut hinunter. Es war nötig, und sie durfte nicht klein beigeben.

Sie war darauf gefasst, lange warten zu müssen, bevor sich die Verwandten mit ihr befassten. Daher war sie gehörig erstaunt, als der Butler sie bat, ihm zu folgen. Sie wurde in das Arbeitszimmer Lord Windermeres geführt und dort vom Earl of Windermere persönlich begrüßt: »Euer Gnaden, bitte nehmen Sie doch Platz, ich hoffe, Sie haben nicht zu lang warten müssen …«

Nervös wrang der Lord die Hände und sah seiner Nichte besorgt ins Gesicht. Diese erwiderte kalt seinen Blick und senkte hoheitsvoll den Kopf zu Begrüßung.

»Wie ich sehe, ist Lady Windermere säumig.«

»Ihre Ladyschaft ruht noch, ich bin sicher, wir können alle eventuellen Geschäfte ohne sie …«

»Inakzeptabel«, unterbrach die Duchess of Kent eisig und nahm befriedigt zur Kenntnis, wie ihr alternder Onkel schluckte. Schnell klingelte der Earl nach dem Butler und trug ihm auf, die Dame des Hauses schnellstmöglich herzubringen. Räuspernd setzte der Earl erneut an: »Euer Gnaden, darf ich Ihnen ein Glas Sherry anbieten? Oder lieber eine Tasse Tee?«

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Windermere, und mein Billett war eindeutig.«

Die Nachricht, die Annabell ihren Verwandten vor ihrem überraschenden Besuch hatte zukommen lassen, war in der Tat eindeutig gewesen. Sie hatte genug Informationen und verdeckte Andeutungen enthalten, um dem Lord Angst und bange werden zu lassen. Nach endlosen Momenten, die Windermere mit gepflegter Konversation zu überbrücken versuchte, erschien die Tante in einem leicht derangierten Zustand. Sie begrüßte die Nichte überschwänglich und brachte mehrfach zum Ausdruck, wie gut es die letzten Jahre mit ihr gemeint hätten.

Die Duchess verzog ansatzweise das Gesicht. Ohne weiteres Federlesen kam sie zum Grund ihres Besuches.

»Ich benötige eure Unterstützung und ich denke, ihr werdet sie mir gerne gewähren.« Obwohl sie keine Frage gestellt hatte, beeilten sich die Windermeres, ihr wortreich ihre volle Unterstützung zuzusichern und überschlugen sich dabei fast mit der Bekundung, wie herzlich gerne sie ihr halfen. Angewidert wendete die junge Frau dem Paar den Rücken zu.

»Ich werde dieses Jahr an der Saison teilnehmen. Ich beabsichtige einen Skandal heraufzubeschwören, und eure Hilfe wird darin bestehen …«

Sie drehte sich wieder zu dem Lord und seiner Frau um, um sich den Moment der Verblüffung nicht nehmen zu lassen. Mit einem leichten Lächeln auf den sinnlichen Lippen fuhr sie fort: »… meine Identität zu wahren. Ich werde als Miss Bell Beaufort auftreten, Suffolks Cousine, und ihr werdet dafür sorgen, dass all eure teuren Bekannten nicht die kleine Annabell Scott in mir sehen. Ich denke, ich muss nicht erwähnen, was bei einem Ausrutscher eurerseits auf euch zukäme, oder? Wenn man bedenkt, dass die arme Marie und die bedauernswerte Ninette mittellos einen Gemahl finden sollen …«

Annabells ehrlich bekümmerte Miene wurde durch ein ermutigendes Lächeln aufgeheitert.

»Aber dem muss ja nicht so sein! Sorgt dafür, dass eure Töchter sich nicht verplappern!« Mit einem letzten wohl einstudierten Blick, der seinerseits Schlimmes in Aussicht stellte, nickte sie ihren Verwandten knapp zu und rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Raum.

Ärgerlich zischte Lady Windermere ihrem Gemahl zu: »Das ist alles deine Schuld!«

»Du hast ihr Geld auch ausgegeben, Werteste, vergiss das nicht!«, grummelte der Earl erschöpft und fuhr sich durch das schütter werdende, graue Haar. »Wer hätte auch gedacht, dass Madeleine ihrer Aufgabe nicht nachkommt! Verfluchtes Gör!«


London, Barkley Square, Beaufort House

Mit einem Lächeln begrüßte Annabell den Lakaien, der ihr bei ihrer Rückkehr ins Haus ihres Schwagers die Tür öffnete. Sie nahm sich den Hut ab, rollte sich routiniert die Handschuhe herunter, um sie auszuziehen, und reichte beides dem wartenden Lakaien. Dann folgte sie den Stimmen ihres Schwagers und ihrer Schwester, die sich wie gewohnt am Frühstückstisch zankten. Annabell blieb am Türrahmen gelehnt stehen und betrachtete die liebliche Szene vor ihr. Lord Suffolk war aufgestanden und stützte sich vornüber gebeugt auf dem Tisch ab, sein markant geschnittenes Gesicht war nur wenige Zentimeter vom Gesicht seiner hübschen, brünetten Frau entfernt, die ihm aufmüpfig die Zunge rausstreckte, bevor sie leichthin bemerkte: »Und ob!«

Suffolk war deutlich anzusehen, dass er gerade zu einer langen Litanei ansetzen wollte, als er seiner Schwägerin gewahr wurde, deren vor Schalk glänzende Augen ihre Belustigung verrieten. Marcus Beaufort, 5. Viscount of Suffolk, straffte seine muskulöse Gestalt und deutete eine Verbeugung an.

»Schwester, du bist schon auf?«, erkundigte sich Sarah und strahlte sie an.

»Ich bin sogar schon zurück!«, antwortete Annabell lachend und schlenderte zur Anrichte, um sich vom Büfett zu bedienen.

»Und? Wie haben Lord und Lady Windermere reagiert?«

Mit großen Augen beobachtete Sarah ihre kleine Schwester, gespannt auf den Bericht wartend. Annabells Plan war ihr gar nicht geheuer, und sie wusste, dass auch Marcus ihn für bedenklich hielt. Nein, das war das falsche Wort. Viscount Suffolk verabscheute ihren Plan, und nur seiner abgrundtiefen Abneigung seinem Schwager gegenüber hatte Bell seine Unterstützung zu verdanken – und der Tatsache, dass es dem Viscount von je her unmöglich gewesen war, dem kleinen Quälgeist Bell etwas abzuschlagen.

»Sie haben wie erwartet reagiert: gar nicht«, seufzte Bell schulterzuckend und goss sich Kaffee in die Tasse. »Sie werden tun, was ich von ihnen verlange. Schließlich bin ich die Duchess of Kent.«

Diese Feststellung verlangte nach einem neuerlichen Seufzer, der länger und wesentlich schmerzlicher war.

»Vergiss nicht: Ich könnte Madeleine mit ihren Töchtern wieder zu ihnen zurückschicken. Ich könnte die Heiratsaussichten von Ninette und Marie ruinieren oder einfach nur mein Brautgeld zurückverlangen! Ihnen bleibt keine Wahl, sie werden tun, was ich ihnen sage!« Ein bitterer Zug legte sich um die sonst so sanften Lippen der Duchess. »Zumindest drohe ich ihnen nicht mit Gewalt.«

»Oh, Annabell!« Sarah eilte zu ihr und strich mitleidig über Annabells Rücken. Sie fühlte sich wieder so schuldig wie vor sieben Jahren. Suffolk biss wütend die Zähne zusammen. Seit ihrer Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise wurden seine Frau und er die Last der Mitschuld nicht mehr los. Annabell bemühte sich stets, redlich ihre Vorwürfe zu zerstreuen, schließlich hatten Suffolk und Sarah das junge Mädchen damals in sicheren Händen geglaubt. Aber so einfach ließ sich das Gewissen nicht beruhigen oder gar beschwichtigen.

Annabell schenkte der Schwester ein zärtliches Lächeln. Sie nippte an ihrer Tasse und suchte nach den richtigen Worten, um Sarah und Suffolk die in deren Augen stehenden Schuldgefühle wieder zu nehmen, obwohl sieben Jahre emsiger Beteuerungen dies bisher nicht geschafft hatten.

»Es ist vorbei«, versicherte sie, »und fürchterlich lange her.«

»Nein«, widersprach Suffolk grimmig, und seine Miene verzog sich zu resigniertem Ärger. Seine Wangenmuskeln zuckten unter der Belastung fest aufeinander gepresster Lippen. »Das ist es nicht, und obwohl ich hoffe, dass das Ende endlich naht, wird es kein glückliches sein.«

Sarah blinzelte ihre Tränen fort, und Annabell atmete tief durch.

»Es wird glücklich sein, Marcus«, versicherte sie sanft. Sie stellte die Tasse fort und trat auf den Viscount zu, um ihn zu umarmen. »Ich werde glücklich sein, wenn das alles erst einmal vorbei ist.«

Suffolk verlor seine Steifheit und legte kurz die Arme um die Schwägerin. Nach einem kleinen Moment löste sie sich wieder von ihm, umarmte kurz die beistehende Schwester und verkündete jovial: »So, ich habe noch ein paar Vorbereitungen für heute Abend zu treffen, bitte gebt mir Bescheid, wenn Madeleine eintrifft! Wir haben noch einiges zu besprechen.«

Sie warf den beiden Menschen, die ihr das Wertvollste auf der Welt waren, eine Kusshand zu, bevor sie aus dem Raum eilte.


Cormack House, London

Es herrschte wie gewohnt dichtes Gedränge im Ballsaal, und die Luft war dick genug, um in feine Scheiben geschnitten werden zu können. Annabell ließ sich von Suffolk vom Tanzparkett geleiten und strahlte ihn glücklich an. Er war der einzige Mann, mit dem sie es aufrichtig genoss zu tanzen. Wahrscheinlich war der Grund dafür, dass Suffolk ihr Lehrer gewesen war und sie sich in seinen Armen geborgen wie ein Neugeborenes fühlte. Er verabschiedete sich sogleich mit dem Hinweis, ein Auge auf Ninette werfen zu wollen, wie er es früher am Abend deren Schwester versprochen hatte. Neben Sarah hatte sich auch ihre Cousine Madeleine bei ihnen eingefunden und drückte ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange.

»Du siehst hinreißend aus, Annie!«, schwärmte sie hingerissen und biss sich dann auf die Lippen. »Verzeih, Bell … ich muss mich erst daran gewöhnen!«

Annabell lächelte Madeleine an und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Gewöhne dich besser schnell daran!«, mahnte sie gespielt streng. Sie strich sich über die blass blaue Robe, die sie erst am Morgen zugestellt bekommen hatte und die wie angegossen passte. Ein perfektes Kleid für ihren ersten Auftritt in der Gesellschaft als Bell Beaufort. Für die Duchess of Kent wäre es bei weitem zu schlicht gewesen, erwartete man doch von einer so hochgestellten Persönlichkeit Außergewöhnliches. Die Hausherren hatten sie bei ihrer Vorstellung neugierig gemustert, und der Grund dafür war kaum verwunderlich. Als Peer der britischen Krone war Suffolk kein unbekanntes Blatt, genauso wenig wie seine Familienangehörigen. Wie genau Bell dazugehörte, war bisher ein zu ergründendes Geheimnis. Ein gewolltes Geheimnis. Madeline hatte beteuert, dass etwas Rätselhaftes Bell genügend Aufmerksamkeit bescherte, um bemerkt zu werden, sich die Neugierde aber schnell befriedigen ließe durch sorgsam gestreute Informationen. Annabell war nicht glücklich damit.

Zwar schätzte sie die Möglichkeit, in die Gesellschaft eingeführt zu werden, aber eigentlich wollte sie lediglich die Sache beenden, derentwegen sie nach London gekommen war und dann nach Bath zurückkehren, wo sie auf dem Landsitz ihres Schwagers in Ruhe ihr Leben verbringen wollte. Abgeschieden von der Welt, gerade so, wie sie die letzten sieben Jahre verbracht hatte. Annabell senkte den Blick zu Boden und drehte etwas von dem Taft ihres Kleides um die darin vergrabenen Finger. Sie wusste, dass sie bereits mit ihrem Kleid Aufsehen erregt hatte.

Madeleine war es nicht müde geworden, sie ob ihrer Schlichtheit und der viel zu biederen Aufmachung in den Ohren zu liegen. Sie müsse hervorstechen, hatte die Cousine gemahnt, ganz so, als galt es, für Annabell einen Galan zu finden. Einen Gatten. Allein der Gedanke brachte sie zum Erschauern. Sie war nicht deswegen nach London gekommen, schließlich war sie bereits verheiratet, und zwar mit einem Duke der britischen Krone. Leider. Lediglich, dass Annabell auf Schmuck verzichtet hatte, war gebilligt worden, schließlich trug ein unverheiratetes Mädchen keine Juwelen. Stattdessen trug sie nur ein kleines perlenbesetztes Medaillon um ihren Hals und einige Perlen in ihrem goldenen Haar, das von Annabells Zofe zu einem lockeren Arrangement aus dicken Locken hochgesteckt worden war. Die Schlichtheit ihres Auftretens unterstrich ihren makellosen Teint und den saphirklaren Glanz ihrer von dichten Wimpern umkränzten Augen.

»Miss Beaufort …«

Leise seufzend drehte sich die Angesprochene um und sah sich ihrem nächsten Tanzpartner gegenüber. Der schüchterne dritte Sohn des Earls of Bloomfield, Honorable Mr. James Norton, verbeugte sich tief und reichte ihr, sie atemlos anstarrend, den Arm.

»Mr. Norton«, begann Annabell und versagte sich ein Seufzen. »Ich muss gestehen, mir ist nicht nach Tanzen zumute, es ist so schrecklich warm hier drin …«

»Oh!«, stammelte Norton, die Hand fallenlassend, die er gehoben hatte, um ihre auf seinem Arm zu platzieren. »Ich … vielleicht … Punsch?«

Annabell schenkte ihm ein dankbares Lächeln. »Das wäre wirklich zauberhaft, Mr. Norton.«

Schnell verschwand der junge Mann gehetzt in der Menge. Annabell seufzte und runzelte die Stirn. Hinter ihnen brach jemand in spöttisches Lachen aus.

»Der tapsige Norton macht sich hervorragend als Schoßhündchen!«

Annabell drehte sich ärgerlich um. Mr. Norton mochte kein eloquenter Gesellschafter sein, aber er besaß offenkundig ein gutes Herz. Es war niederträchtig von dem Kerl, den anderen Herrn so zu verunglimpfen. Besagter Jemand sah mit heißen Augen an ihr herab und verzog die Lippen zu einem zufriedenen Grinsen.

Annabell presste ihre aufeinander bei der unverschämten Musterung. Es bedurfte kaum eines Blickes, um in ihm den notorischen Frauenheld zu erkennen und da sie selbst mit einem solchen Exemplar der Gattung Mensch verheiratet war, hatte sie keinen Bedarf an der Bekanntschaft mit einem weiteren. Sie beschloss, ihn einfach zu ignorieren.

Der Herr allerdings hatte anderes im Sinn, schlenderte nonchalant zu den Damen und verbeugte sich formvollendet.

»Euer Gnaden!«, murmelte er und ließ damit Annabells Herz fast zum Stehen kommen. Dass er dabei die Cousine ansah, rettete ihr das Leben.

»Sie sehen hinreißend aus, wie stets.«

Er sah mit einem Blick auf Madeleine herab, der nicht nur Besagte erröten ließ, bevor er sich vor Sarah verbeugte und einen viel zu interessierten Blick zu Annabell warf. Er entließ die Hand der Schwester nach einem nicht gerade dezenten Kuss darauf und hob in Erwartung, Annabells Hand aufzunehmen, die seine.

Madeleine riss die Augen auf und zuckte entschuldigend die Schulter.

»Lord Argyll, darf ich Ihnen … Lord Suffolks Cousine zweiten Grades vorstellen? Miss Bell Beaufort. Bell, dies ist Viscount Argyll, ein Freund meines Schwagers, seiner Gnaden, der Duke of Kent.«

Das machte Annabell keineswegs geneigter, war ihr doch jeder Freund ihres Gatten ebenso zuwider wie selbiger. Sie wollte ihm die Hand verweigern, aber die Not in den Augen der Cousine ließ sie sich besinnen. Als namenloser Niemand vom Lande sollte man einen Adeligen nicht vor den Kopf schlagen, indem man es an gutem Benehmen missen ließ. So machte Annabell einen Knicks und murmelte einen Gruß. Noch immer hielt Argyll ihre Hand und grinste mit einem Blick auf sie nieder, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie kannte diesen Blick, hatte ihn an ihrem Gatten kennengelernt, obwohl er nicht sie so angesehen hatte. In Erinnerung daran entriss sie ihm die Hand mit einem Ruck und wendete ihm demonstrativ die kalte Schulter zu, als sie sich zu ihrer Schwester umdrehte.

»Lady Suffolk, sagten Sie nicht, Sie wollen …«

Argyll lächelte amüsiert und unterbrach sie, indem er erklärte: »Miss Beaufort, ich glaube, ich bin verliebt.«

Annabell erstarrte unversehens. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie musste die Fäuste ballen, um ihre Wut zu beherrschen. Sie war noch immer ganz starr, als sie sich wieder zu dem Viscount umdrehte und verärgert feststellte: »Und ich glaube, Mylord, dass Sie gar nicht wissen, was es bedeutet zu lieben, also langweilen Sie mich nicht mit Ihren Unwahrheiten!«

Neben ihr kicherte Sarah hinter ihrem eilig aufgeklappten Fächer unterdrückt. Bell ignorierte es, war sie doch dabei, den unverschämten Mann mit bloßem Willen niederzustarren. Sie sollte sich nicht aufbringen lassen, ging ihr flüchtig durch den Kopf. Keine zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber sie konnte eine so dumme Behauptung nicht hinnehmen.

»Sie irren fürchterlich, Miss Bell, aber sagen Sie mir, was wissen Sie von der Liebe?«

Annabell schluckte, mit dem Wunsch beseelt, es einfach bewenden lassen zu können. Leider traf sie gerade dieses Thema mitten ins Herz. Verächtlich sah sie zu ihm auf, in seine dunklen, braunen Augen, die ihren Blick keineswegs belustigt erwiderten. Irritation flackerte in ihnen und ernsthaftes Interesse. Mit Gänsehaut erklärte sie knapp: »Liebe ist, wenn einem das Glück des Anderen mehr am Herzen liegt als das eigene. Liebe ist, wenn der bloße Gedanken an den Geliebten einem die Tränen in die Augen treibt. Liebe ist, wenn man weiß, dass der Geliebte fehlbar ist und ihn trotzdem liebt …« In Annabells Augen blitzte es gefährlich, als sie leise hinzusetzte: »Ich kenne Männer Ihres Schlages. Für Sie ist es Liebe, wenn es Sie im Schritt juckt!«

Sie presste die Lippen aufeinander, sich durchaus bewusst, wie unangebracht ihre Worte waren. Wie anzüglich und offenbarend. Madeleines ersticktes Stöhnen war dafür ein guter Indikator. Mit einer Entschuldigung auf den Lippen fuhr Annabell zu ihr herum. Noch in der Bewegung gefror sie zu Eis. Madeleines Laut war keine Reaktion auf Bells unverblümte Rede gewesen, sondern eine Warnung, dass sie einen unerwarteten Zuhörer hatten. Schnell brachte sich Bell wieder unter Kontrolle und versank vor dem Duke, wie die anderen beiden Frauen, in einen graziösen Knicks. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals, und sie war sich nicht sicher, ob sie eine Begrüßung über die Lippen bekommen würde. Wäre Suffolk doch nur geblieben, anstatt nach Ninette zu sehen, obwohl die Cousine einen Tugendwächter durchaus benötigte.

»Madeleine, ich wusste nicht, dass du vor hattest, diese Veranstaltung aufzusuchen«, murmelte der Duke, wobei er der Schwägerin einen Kuss auf die Wange drückte und ihr versicherte, dass sie hübsch anzusehen war. Annabell schlotterten die Knie. Gott sei Dank spürte sie eine leichte Berührung an ihrem Ellenbogen und wusste, ohne sich umsehen zu müssen, dass ihr Schwager ihr zur Hilfe geeilt war. Dankbar schenkte sie ihm ein schwaches Lächeln, als er ihr leise ins Ohr flüsterte: »Dich kann man keinen Augenblick allein lassen, ohne dass du in Schwierigkeiten gerätst!«

Suffolk verbeugte sich angedeutet vor dem Schwager und begrüßte ihn ohne große Freude: »Westbrook, darf ich Ihnen meine Cousine zweiten Grades, Bell Beaufort, vorstellen?«

Noch einmal knickste Annabell und hielt den Blick gesenkt. Es erforderte eine schier undenkbare Menge an Kraft, nicht in unkontrolliertes Zittern auszubrechen, ein nur zu verräterisches Zittern. Sie hielt sich vor, dass eine Begegnung unausweichlich war. Schließlich hielt sich der Duke ganzjährlich in der Hauptstadt auf, während er Annabell auf ein kleines Landgut in der Einöde versauern ließ. Nun, bisher. Annabell gedachte dies mit aller Eindringlichkeit zu ändern.

Argyll schlug dem Duke freundschaftlich auf die Schulter.

»Hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr! Was hältst du von der süßen Miss Bell. Très jolie, n’est-ce pas? Je me demande si je ne devrais pas la faire une offre.« Äußerst hübsch, nicht wahr? Ich trage mich mit dem Gedanken, ihr ein Angebot zu unterbreiten.

»Epargnez-moi cette, Thomas!«, murrte der Duke, die Augen verdrehend und maß Annabell mit nachdenklichem Blick, während der Viscount seinen anzüglich über das Mädchen gleiten ließ. Wieder aufblickend zog er überrascht eine Braue hoch. Bell schäumte vor Wut über die unangebrachte Annäherung des Viscounts, dessen Angebot sehr wahrscheinlich nicht von der Art war, wie man sie vermeintlich unverheirateten, jungen Mädchen antragen durfte. Sprich: Es wäre sicherlich kein Heiratsantrag zu erwarten, sondern eher eine Carte blanche. Eine Ungeheuerlichkeit, einem Mädchen von Stand mit diesem Angebot zu kommen, seine Mätresse zu werden! Sie sah ihn kalt an, hob langsam eine ihrer zierlich gebogenen Brauen und schürzte die Lippen, während sie ihren verächtlichen Blick über die athletische Gestalt des Lords wandern ließ. Seine Mundwinkel hoben sich, und als sie in seinem Gesicht anlangte, zwinkerte er ihr zu. Annabell kräuselte die Lippen, bevor sie jegliches Angebot abwies: »Merci, j´ai décidé de ne pas accepter!« Vielen Dank, aber ich verzichte!

Ruhig knickste sie vor dem Duke, der sie nicht minder interessiert als sein Freund betrachtete und ob des Seitenhiebs überrascht auflachte.

»Wenn seine Gnaden mich entschuldigen möchte.«

Auf dem Absatz kehrte sie um und lief genau in Mr. Nortons ausgestreckte Arme, der nicht schnell genug reagieren konnte und den Inhalt seines Limonadenglases über sie ergoss. Annabell stöhnte unglücklich, als sich das klebrige Getränk auf ihrem Dekolleté ausbreitete.

»Suffolk, wer ist der Vormund dieser Dame, ich werde mich sofort um ihre Hand bemühen!« Argyll hob sein Lorgnon vors Auge und besah sich eingehend Bells durchnässte Büste. Zu seinem Bedauern schien das Kleid aus zu festem Stoff zu bestehen, als dass man einen guten Blick auf die darunterliegenden Formen erhaschen könnte.

»Wenn Sie nicht augenblicklich Ihre anzüglichen Bemerkungen unterlassen, Argyll, werden Sie sich eines schönen Morgens auf einer einsamen Lichtung wiedersehen …«, knirschte Suffolk und verstellte dabei den Blick auf Annabell.

»Thomas, Suffolk meint es bitterernst, lass Miss Bell in Frieden«, ordnete der Duke ruhig an, ohne seinen eigenen Blick von dem Mädchen fortreißen zu können.

»Aber ich will sie heiraten. Schau sie dir an! Ach was, hör´ sie dir an! Wenn ich sie dazu bringen kann, mich zu lieben, ist meine gepeinigte Seele gerettet! Bell, seien Sie versichert, ich beginne mich bereits um Ihr Glück zu sorgen!«

Ergriffen fasste er sich ans Herz und ignorierte die bösen Blicke des Viscounts of Suffolk. »Bitte sagen Sie mir, dass ich hoffen darf …«

Suffolk wollte ärgerlich dazwischen fahren, aber Annabell hielt ihn mit einer leichten Berührung zurück. Argyll war zu arrogant, um dem Wort eines Standesgenossen Gehör zu schenken und da sie sicherlich nie wieder von ihm angesprochen werden wollte, musste sie das Problem selbst lösen. Sie trat näher an die Herren heran und senkte ihre Stimme, so dass Außenstehende ihre Worte nicht vernehmen konnten.

»Mylord, selbst wenn Sie der letzte Mann auf Erden wären, mein Leben von Ihrem Geheiß abhängen oder ich wahnsinnig werden würde, würde ich weder mein Herz noch meinen Körper an einen Mann wie Sie verschwenden. Ich schlage demütigst vor, dass die Herren die Auslage betrachten und ihre Gier dann an einer willigen Witwe oder törichten Ehefrau stillen und um meine Wenigkeit zukünftig einen weiten Bogen machen!«

Angewidert rümpfte sie die zierliche Nase und drehte sich, ohne weiter auf den Duke und seinen Freund zu achten, zu ihrem Schwager um.

»Cousin, wäre es möglich, dass Sie die Kutsche rufen lassen, um mich nach Hause zu bringen?«

»Suffolk, das ist unmöglich, Sie können uns Ihren kleinen Schatz nicht schon entführen! Nathan, sag doch auch mal was dazu!«, fuhr Argyll auf, wobei er näher an Suffolk und sie herantrat. Annabell brachte sich bei ihrer Schwester und der Cousine in Sicherheit, wobei sie sich dem Blick ihres Gatten nur zu bewusst war. Durchschaute er ihre Ränke?

Die letzten sieben Jahre waren nicht unsichtbar an ihr vorbeigegangen. Von dem schlaksigen, hellblonden Mädchen war sie zu einer wohlproportionierten jungen Dame herangewachsen. Ihre Sommersprossen waren verschwunden, ebenso wie ihre Naivität und Unbeschwertheit. Daran trug allerdings nicht die Zeit Schuld, sondern ihr vermaledeiter Gatte, der sie sieben Jahre lang mit Ignoranz gestraft hatte.

Nathan Mannings, Duke of Kent, Marquess Westbrook und Träger weiterer erlauchter Titel, betrachtete das Mädchen irritiert. Sie war auf ganz eigentümliche Weise faszinierend. Es lag definitiv nicht an ihrer bezaubernden Gestalt oder dem hinreißenden Kussmund, obwohl beides exquisit war und von sich aus anziehend. Vielleicht lag es an ihrer Impertinenz? Keine junge Dame von Stand hätte es gewagt, solche Worte in den Mund zu nehmen, geschweige denn sie vor einem Duke zu äußern. Zumindest nicht, solange sie Interesse an einer guten Verehelichung hatte. Zwar war er selbst nicht mehr auf dem Markt, aber seine Bekanntschaft sollte dennoch als Bonus betrachtet werden. Sie hatte mit ihren franken Worten nicht nur Thomas vor den Kopf gestoßen. Dafür waren sie zu eindringlich gewesen. Sie hatte gewollt, dass er mit einbezogen wurde in deren Bedeutung. Dass sie vielleicht sogar auf ihn gemünzt waren.

Etwas, was ihn durchaus verärgerte, wenn schon nicht verwunderte. Suffolk mochte ihn nicht, hasste ihn gar. Als dessen Cousine wusste sie vermutlich von Suffolks Groll und den Ursachen. Nathan senkte kurz die Augen. Er musste sich dessen Unverschämtheit wohl gefallen lassen, aber ihre? Insgeheim gab er seinem Freund recht, ihre Schönheit war exquisit und ihr Mundwerk erfrischend. Vielleicht konnte er das Unrecht, das er begangen hatte, wieder gut machen. Vielleicht konnte er zumindest Miss Beaufort von seinem Charakter überzeugen, wenn schon sonst niemanden aus ihrem Clan. Mit einem einnehmenden Lächeln sah er wieder auf.

»Thomas, du hast tatsächlich ein Auge für ungewöhnliche Frauen, und du hast recht. Miss Bell kann uns einfach noch nicht verlassen, zumindest nicht, bevor sie nicht mit mir getanzt hat.« Er hob die Hand, in der Annahme, dass sie klug genug war einzusehen, wann sie auf verlorenem Posten stand. Zu seiner immensen Irritation ergriff sie aber nicht seine Hand, sondern wechselte erzürnte Blicke mit ihrem Cousin und seiner Schwägerin. Madeleine erbleichte und rang nach Worten suchend die Hände.

»Ouch, Westbrook, das kannst du wirklich nicht verlangen, An … Miss Beauforts Kleid ist ruiniert, sie muss wirklich nach Hause. Übrigens, ich habe wieder einen langen Brief von deiner Frau erhalten, es wird dich sicher freuen zu hören …«

Unter Nathans gefährlichem Blick brach Madeleine ängstlich ab. Annabell hatte den Moment seiner Unaufmerksamkeit genutzt, um sich unauffällig hinter Marcus zurückzuziehen und war binnen Wimpernschlägen in der dichten Menge verschwunden.

Kein Duke zum Verlieben!

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