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Kapitel 3 Der Tanz um den heißen Brei
ОглавлениеThemse Ufer unweit von London, Ende Oktober 1797
Annabell war stets informiert, wo sich seine Gnaden, ihr Gemahl aufhielt. Sie plante ihre Auftritte in der besseren Gesellschaft gewissenhaft, um die Gefahr, ihm wieder zu begegnen, so gering wie möglich zu halten. Leider ließen sich Begegnungen nicht völlig vermeiden, genauso wenig, wie sie es schaffte, dem nervtötenden Lord Argyll erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Etwas, was wesentlich schwieriger war, gab es doch keinen Spitzel, der ihr von den Zielen des Lords unterrichten konnte. An einem sonnigen Nachmittag nahm Annabell in Gesellschaft ihres Schwagers und ihrer Schwester an einem Picknick an der Themse teil, ein Ausflug, bei dem Annabell weder seine Gnaden noch Lord Argyll erwartet hatte. Trotzdem fand sie sich unerwartet in den Armen seiner Lordschaft wieder, als sie sich unbedachterweise etwas von der Gruppe entfernte, um einen Moment allein zu sein. Unbemerkt schlich er sich von hinten an sie heran und drehte sie herum, wobei er seine Hände um ihre Mitte legte.
»Bell, ich habe sehnlichst auf diesen Augenblick gewartet!« Der Lord grinste seine Beute verführerisch an und verstärkte seinen Halt um ihre Hüfte, als sie versuchte, ihn von sich zu stoßen.
»Nehmen Sie sofort Ihre Hände von mir!«, befahl Annabell verärgert und trat nach dem Bein des unverschämten Mannes. Leider traf sie ihn nicht mit voller Wucht, da sie von ihren Röcken behindert wurde. Argyll zog sie enger an seine Brust und vergrub sein Gesicht in der Fülle ihrer blonden Haare.
»Ah, Sie riechen wie ein Rosengarten! Ich beneide jeden Zentimeter Stoff Ihres verhassten Kleides, da es ihm erlaubt ist, sich an Ihre samtige Haut zu schmiegen«, flüsterte er und bereitete ihr mit dem Klang seiner Stimme eine Gänsehaut. Sie wusste nicht viel über Zweisamkeit, aber eines wusste sie sicher: Der Tonfall gehörte ins Schlafzimmer und sollte keineswegs bei einem vermeintlich unbedarften Mädchen angewendet werden. Wutentbrannt zischte sie: »Lassen Sie mich …«
Er ließ sie nicht ausreden, sondern senkte seinen Mund auf ihren, um ihr einen Kuss zu rauben. Annabell biss ihm in die Unterlippe und stieß ihn von sich, als er, überrascht von ihrem Angriff, seine Umklammerung löste. Die Überraschung in seinem Gesicht gab ihr ihre Contenance zurück, und sie hob stolz den Kopf. Sie trat aus seiner Reichweite, wobei sie seine Lordschaft nicht aus den Augen ließ und sich ihrer einwandfreien Erscheinung versicherte. Erleichtert, dass ihre Frisur nicht in Mitleidenschaft gezogen war, fuhr sie ihn an: »Ich verlange, dass Sie aufhören, mir aufzulauern, Mylord!«
»Auflauern?« Lord Argyll erholte sich von seiner Überraschung und breitete nonchalant die Arme aus. »Liebes, du missverstehst meine Intention.« Er grinste sie an. »Obwohl ich von deinem Bestreben, deine Unschuld zu wahren, entzückt bin!«
Annabell schnaufte ungläubig. »Unterlassen Sie Ihre Unverschämtheiten!«
Der Lord zwinkerte ihr zu. »Du wirst sie noch zu schätzen wissen, Cherie.« Mit einem Schritt war er bei ihr und ergriff ihre geballte Hand, um sie an seine Lippen zu ziehen. »Glaube mir, du wirst den Tag hindurch danach lechzen, meinen Liebesworten zu lauschen.«
Annabell war zu abgestoßen, um ein Wort über die Lippen zu bringen. Zu genau stand ihr die Erinnerung vor Augen, wie Damen tatsächlich nach der fragwürdigen Aufmerksamkeit von Herren wie ihm sehnten. Die Countess of North zum Beispiel, die dem vermeintlichen Charme des Dukes bereits erlag, lange bevor er den Titel übernahm. Annabell schluckte den Ekel herunter, der die Bilder der Vergangenheit begleitet hatte, und richtete ihren brennenden Zorn auf das Exemplar Kröte, das zugegen war.
»Ihren Liebesworten zu lauschen, wird bestenfalls nur Peinlichkeit in mir wecken und sicherlich nicht den Wunsch …«
»Gegenwärtig nur zu verständlich«, versicherte er mit einem weiteren Kuss auf das Samt ihres Handschuhs. Sie versuchte, sich zu befreien. »Aber wenn du erst meine Frau bist, Lady Argyll, verspreche ich dir …«
Seine Versprechungen scherten sie einen feuchten Kehricht, und ihre Worte bewirkten offensichtlich das gleiche in ihm. Verärgert mahlte sie mit ihrem Kiefer und überlegte fieberhaft, wie sie diesen vermaledeiten Mann endlich loswurde.
»Lord Argyll …«, setzte sie knirschend an und hob dafür den Blick in seine funkelnden, aber wahrhaften Augen.
»Thomas.«
Annabell ignorierte seine Bitte um eine vertrauliche Ansprache und fuhr mit felsenfester Stimme und strafendem Blick fort: »Lord Argyll, anscheinend nahmen Sie mich nicht ernst, als ich Ihnen sagte, dass ich keinen Mann wie Sie heiraten werde. Genau genommen werde ich gar keinen Mann heiraten. Das ist nicht Sinn und Zweck meines Aufenthalts in London …«
Der Lord lachte ehrlich amüsiert auf und trat näher an das widerspenstige Mädchen heran. »Natürlich nicht, welches Mädchen kommt schon nach London, um einen reichen Ehemann zu finden? Ich habe sehr viel Geld, Bell, und ich würde es liebend gerne für dich ausgeben.«
Ausweichend machte Annabell einen Schritt zurück und stieß gegen einen Baum. Die Ernsthaftigkeit in seinem Antlitz verängstigte sie mehr als seine vorherigen Angriffe auf ihre Tugend.
»Ich brauche keinen reichen Ehemann, ich bin gut versorgt! Lord Argyll, ich bitte Sie, hören Sie mit diesem Unsinn auf. Sie wissen so gut wie ich, dass das Einzige, was Sie an mir interessiert, die Tatsache ist, dass ich noch nicht in Ihrem Bett war. Sie hegen keine ehrlichen Gefühle für mich …«
Argyll stützte sich gegen den Baum in Annabells Rücken und hielt sie somit zwischen seinen Armen gefangen. Sein zärtlicher Blick weilte auf ihren schimmernden Lippen.
»Meine Gefühle sind aufrichtig genug, um dich zu meiner Frau machen zu wollen, warum reicht dir das nicht?«
Annabell blinzelte verwirrt und haderte mit sich und dem Schicksal. Warum musste ihr das widerfahren? Reichte es nicht, dass sie einem Frauenhelden in die Hände gefallen war? Musste es wirklich jeder auf sie abgesehen haben? Auch noch mit so einer perfiden Masche?
Als wäre es eine Gunst, geheiratet zu werden! Danach. Als reichte es, einen Ring am Finger zu tragen und sein Leben fortan allein zu fristen! Bitter schüttelte sie den Kopf.
»Sie würden mich heiraten, meine Gunst genießen, solange es Ihnen gefällt und dann? Wenn Sie meiner überdrüssig sind, wohin mit mir? Würden Sie mich aufs Land verbannen, um ungehindert Ihre Liebschaften wieder aufnehmen zu können?«
Prüfend musterte sie den Lord, der bei ihren Ausführungen tatsächlich nachdenklich geworden war. Argyll war bestürzt über den Schmerz in den Augen der Frau in seinen Armen und über die Bitterkeit in ihrer Stimme. Zwar hatte er nicht weiter über den Verlauf seiner Ehe mit diesem hinreißenden Geschöpf nachgedacht, doch musste er sich eingestehen, dass ihr Vorwurf nicht von der Hand zu weisen war. Viele Adlige verfuhren so mit ihren unglücklichen Ehefrauen. Er berührte ihre Wange und wischte die Träne weg, die sich unbemerkt aus ihrem Auge gestohlen hatten.
»Wer dich wegschickt, wäre ein ausgemachter Trottel.«
Langsam beugte er sich über sie, um ihr einen Kuss auf die Nasenspitze zu hauchen.
»Ich kann dir nichts versprechen, aber …«
Thomas Boyle lehnte sich noch weiter zu der Frau in seinen Armen herab, um einen neuen Versuch zu wagen, ihre Lippen zu kosten, als hinter ihm die gelangweilte Stimme seines verfluchten Freundes erklang: »Thomas, hat Miss Beaufort dir nicht bereits mehrfach deutlich gesagt, was sie von dir hält?«
Verhalten seufzend drehte sich der Angesprochene bei dem Tadel um. Angelegentlich betrachtete er seinen Hemdsärmel und klaubte unsichtbare Staubkörner von ihm.
»Ah, Westbrook, soweit ich mich erinnere, sprach sie von Männern wie mir, nicht von mir. Ich bin sicher, Miss Bell hegt zarte Gefühle für mich. Wie dem auch sei, was führt dich zu uns?«
Bell verdrehte entnervt die Augen und seiner Gnaden Reaktion bestand simpel in einer hochgezogenen Braue.
»Suffolk sucht nach seiner schönen Cousine, und ich wollte ihr ersparen, in eine kompromittierende Situation zu geraten und sich gezwungen zu fühlen, dich heiraten zu müssen …«
Bell schnaubte entrüstet, die Männer nahmen sie nicht einmal zur Kenntnis, während sie über sie sprachen. Behände entwand sie sich vollständig den Armen ihres Möchtegern-Gatten und richtete das kleine Hütchen auf ihrem Kopf. Da sie keinen Spiegel bei sich trug, musste sie hoffen, nicht allzu zerzaust auszusehen. Da sie keinesfalls länger in der Gesellschaft ihres Gatten verweilen wollte als unbedingt nötig, versuchte sie, sich unbemerkt von dannen zu machen. Mit vorsichtigen Schritten entfernte sie sich von Lord Argyll, darauf bedacht, keinen Zweig knacken zu lassen.
»Seit wann bist du der Beschützer Suffolks weiblicher Verwandten?«
Thomas ballte verärgert die Faust und musterte seinen hochmütigen Freund unwillig. Nathans eisgraue Augen blitzten gefährlich.
»Da Miss Beaufort unweigerlich mit meiner Gattin verwandt ist, beschütze ich lediglich ein Mitglied meiner Familie. Denk daran, bevor du dich wieder dazu hinreißen lässt, dich ihr aufzudrängen!«
Annabell lachte verächtlich auf, ohne es eigentlich zu wollen. Es war ein Reflex, ausgelöst durch Nathans absolut hirnrissige Feststellung. Leider zog sie damit auch die volle Aufmerksamkeit der Streithähne auf sich. Argyll drehte sich, während Kent lediglich den Kopf in ihre Richtung wendete. Beide schauten verdutzt aus. Kalt sah sie ihren Gemahl an und verzog die Lippen, bevor sie ausspuckte, was ihr auf der Zunge lag: »Ich gehe davon aus, Euer Gnaden, dass ich Ihren Schutz genauso wenig genießen möchte, wie Ihre Frau es tut! Und was Lord Argylls Aufmerksamkeit angeht …« Vermutlich würde sie es bereuen, aber in ihrer Rage beschloss sie, Nathan auf seinen Platz zu verweisen. Sie sah ihn nicht als ihren Gatten, und somit fühlte sie sich nicht seiner Weisung unterlegen oder ihm in irgendeiner Weise verpflichtet. Er würde wissen, dass sie es getan hatte, und dies gab den Ausschlag. Festen Schrittes und durch ihren Groll auf alles entschlossen trat sie wieder zu seinem Freund. »… sie ist höchst willkommen!«
Damit presste sie sich an den verdatterten Lord und zog sein Gesicht zu sich herunter, um ihn zu küssen. Dafür musste sie die Augen schließen und sich vorhalten, dass es nur ein Kuss war, keine Einladung zu weiteren Vertraulichkeiten. Dennoch versackte ihr Entschluss schließlich in aufwallender Angst.
Thomas brauchte einen Augenblick, bevor er seine Arme um sie schloss und die Führung übernahm. Erst Nathans leise Warnung ließ ihn wieder zur Vernunft kommen. Langsam ließ er Bell los und sah auf sie herab. Ihm blieb keine Zeit, über ihr verändertes Verhalten zu grübeln, denn kaum war Bell seinen Armen entschwunden, traf ihn ein harter Schlag ins Gesicht. Argyll ging zu Boden und starrte ungläubig zu seinem Freund auf, der seinerseits keinen zweiten Gedanken an ihn verschwendete, sondern sich zu Annabell umdrehte. Sie betrachtete Thomas wenig mitleidig mit einem »Selbst schuld!« auf den Lippen. Im nächsten Augenblick wurde sie in Nathans Arme gerissen, der ihr zuknurrte: »Du kannst nichts ablehnen, was du nicht kennst!« Und musste dann den verlangenden Ansturm seines Mundes abwehren. Die Berührung seiner Lippen warf sie um. Ihre Knie gaben nach, und sie wäre gefallen, wenn Nathan sie nicht so fest an sich gepresst gehalten hätte. Ohne auf Widerstand zu treffen, eroberte er ihren Mund und berauschte sich an ihrem unverwechselbaren Geschmack, obwohl ihm dabei sehr bewusst war, dass er etwas moralisch höchst Verwerfliches tat. Schließlich küsste er nicht nur eine weitere Jungfrau, sondern auch die Cousine seines Schwagers, ohne einen Gedanken an seine kleine Frau zu verschwenden.
An seine arme, kleine Annabell, die sicherlich den Tag verfluchte, an dem sie ihm begegnet war. Es waren aber nicht seine Bedenken, die ihn den Kuss unterbrechen ließen, sondern ein stechender Schmerz in seinen Lenden.
Annabell war dankbar dafür, dass sie in den letzten Jahren noch ein gutes Stück gewachsen war, wodurch sie ihrem Gemahl nicht mehr wie bei ihrer Hochzeit bis zur Brust reichte, sondern ihm fast bis zur Nase ging. Sie war groß genug, um einen fiesen Trick anzuwenden, den ihr einst ihr lieber Schwager vorgeschlagen hatte, sollte sie in Situationen wie diese geraten. Sie hatte ihr Knie in eine ideale Position gebracht und es mit einem Ruck hochgezogen. Ihres Halts beraubt, torkelte sie einige Schritte rückwärts und fand sich in einem dritten Paar Arme wieder.
»Verflixt, ist London denn jedes Gentlemans beraubt?«
»Ich dachte, wir wären uns einig, dass die Bezeichnung Gentleman nicht dem entspricht, dessen Bedeutung es impliziert«, flüsterte Suffolk seiner sichtlich empörten Schwägerin milde amüsiert ins Ohr. Mit einem erleichterten Aufschrei warf sich Annabell in seine beschützenden Arme. Suffolk musterte die versammelten Herren aus funkelnd blauen Augen. Sein goldenes Haar war leicht zerzaust, und seine stürmische Miene drückte sein Missfallen deutlich genug aus. Dennoch klang Amüsement mit, als er feststellte: »Wie ich sehe, hast du ganze Arbeit geleistet, Bell!«
Angelegentlich warf er einen Blick auf den Duke, der sich immer noch den schmerzenden Schritt hielt, während der Viscount of Argyll sich bereits den Dreck von seiner Kleidung klopfte.
»Wurde sie vielleicht auch im Fechten und Boxkampf unterrichtet, Suffolk? Nun, zumindest brauche ich meiner Braut nicht mehr selbst zu zeigen, wie sie sich unerwünschten Annäherungen erwehren kann …«
Thomas warf Bell einen liebevollen Blick zu, den sie allerdings nicht bemerkte, da sie ihr Gesicht immer noch an der Schulter Lord Suffolks vergraben hielt.
»Ein guter Hinweis, Argyll, Boxen könnte ihr tatsächlich weiterhelfen, am besten, sie trainiert mit meinen Töchtern. Alles in Ordnung, Bell?«
Zittrig lächelnd sah sie zu ihm auf und fühlte sich durch seine Sorge sogleich um einiges ruhiger. Sie nickte kurz und klopfte ihm auf die Brust. Zufrieden erklärte sie: »Ich bin froh, dass ich dich habe, weißt du das? Wie werden wir Sarah los, damit ich dich heiraten kann?«
Suffolk drückte sie lachend an sich. »Gar nicht, fürchte ich, weißt du, ich liebe meine Gattin!«
Annabell machte ein angewidertes Gesicht. »Pfui Spinne, das ist doch absolut gewöhnlich, Eheleute, die sich lieben!«
Annabell grinste verwegen und drehte Suffolk in die Richtung, aus der er gekommen war. Dem stand allerdings nicht der Sinn danach, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Er schlüpfte aus ihren Händen und fixierte den Duke mit deutlichem Missfallen.
»Offensichtlich haben Sie einen starken Drang dazu, die Mädchen meiner Familie zu drangsalieren. Ich warne Sie, lassen Sie die Hände von Bell! Das Gleiche gilt auch für Sie, Argyll. Bell sucht keinen Ehemann und damit das klar ist, auch keine Affäre!«
Nathan sah seinen Schwager dunkel an, er wusste, dass Suffolk nicht die beste Meinung von ihm hatte, durchaus nachvollziehbar, aber ihn der Drangsal zu bezichtigen, ging schon etwas zu weit. Er hielt Suffolk auf, der im Begriff war, endlich dem Drängen seiner Cousine nachzugeben, indem er nach seinem Arm griff.
»Ich habe Annabell nie absichtlich wehgetan …«
Unter der leichten Berührung fuhr Suffolk herum und spie seinen verhassten Schwager außer sich vor Zorn an: »Sie war ein kleines Mädchen! Alles, was Sie getan haben und sogar was Sie nicht getan haben, hat sie verletzt! – Und Sie tun es immer noch, indem Sie es nicht einmal für nötig halten, ihre Briefe zu öffnen!« Nur mühsam hielt sich Suffolk zurück. Er atmete schwer, und nur die energische Hand Annabells erinnerte ihn an das höhere Ziel. Es gab keine Erwiderung zu dieser Anklage, zumindest keine angemessene, weshalb Nathan schwieg. Er hatte nicht geahnt, dass Annabell diesem Mann so ungeheuer wichtig war. Eigentlich hatte er sich nicht einmal gefragt, wem Annabell etwas bedeutete. Er hatte immer angenommen, dass sie außer ihrer Schwester Sarah und den Windermeres keine weiteren Bekannten hatte. Zynisch schalt er sich einen Narren. Er hatte die Verbundenheit der Windermere-Mädchen mit seiner Frau erlebt und wusste, dass sie nicht nur mit Madeleine engen Briefkontakt hielt. Warum sollte sie nicht auch in ihrem Schwager einen entsprechenden Beschützerinstinkt auslösen?
»Marcus, bitte lass uns gehen!«
Mit einem letzten, zornigen Blick zurück folgte Lord Suffolk Annabell, die ihn leise, aber bestimmend für seinen Ausbruch schalt.
Windermere Castle, Sommer 1789
»Ich kann Marie nicht finden!«, quengelte Ninette Windermere und zog ungeduldig an der Hand der großen Cousine. Annabell lächelte nachsichtig auf das elfjährige Mädchen herab. Eigentlich sollte die Gouvernante, Miss Croven, auf die drei Mädchen aufpassen, genau genommen sie aus dem Blickfeld der Gäste halten, die zu Lady Windermeres Hausparty erschienen waren. Leider waren die beiden Kinder des Hauses der überforderten Angestellten entwischt, und so hatte diese Annabell gebeten, ihr bei der Suche zu helfen. Das junge Mädchen half der Gouvernante gern, da sie wusste, welchen Ärger es geben würde, sollten Lord und Lady Windermere das Versäumnis der Angestellten bemerken. Annabell strich Ninette über den blonden Schopf und versicherte ihr: »Wir finden sie! Keine Angst. Wo hast du sie denn das letzte Mal gesehen?«
»Wir waren im Garten, wir haben Verstecken gespielt!«
Annabell Scott seufzte leise. Verstecken war Maries Lieblingsspiel, leider nahm die Fünfjährige das Spiel sehr ernst, gewöhnlich blieb das Kind in seinem Versteck, bis es tatsächlich gefunden wurde.
»Wo hast du denn schon überall gesucht?«, fragte sie die Cousine und hoffte, dass sie Marie fanden, bevor es Abend wurde. Nicht, dass das Verschwinden des Mädchens den Herrschaften auffallen würde. Der Earl und die Countess of Windermere verirrten sich nie, aber auch wirklich nie, in den Kindertrakt. Aber wenn Marie bis zur Abenddämmerung nicht gefunden wurde, würde sich Miss Croven genötigt fühlen, ihre Abwesenheit zu melden. Annabell mochte sich gar nicht ausmalen, wie die Reaktion der Verwandten ausfallen würde, und brauchte es auch nicht. Ihr Onkel besaß eine lockere Hand und die Tante eine scharfe Zunge.
Ninette gab an, dass sie den Lust- und den Kräutergarten bereits abgesucht hatte und nicht glaubte, dass ihre kleine Schwester sich in den anschließenden Park traute. Ninettes Unterlippe fing verräterisch an zu beben, und in den klaren, blauen Augen sammelten sich Tränen. Sie wusste ebenso gut wie ihre vier Jahre ältere Cousine, dass sie in argen Schwierigkeiten steckten, sollte ihr Ungehorsam entdeckt werden. Lord Windermere war bei den Kindern für seine Wutausbrüche berüchtigt. Annabell zog die Jüngere in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Wir finden sie, mach dir keine Sorgen!«
Während sie das Mädchen tröstete, sah sie sich aufmerksam um. Sie hatte das Haus durch den Dienstbotenausgang neben der Küche verlassen und war im Kräutergarten auf die Cousine gestoßen. Es war nicht zu befürchten, dass sich Lord Windermeres Gäste hierher verirrten, anders sah es allerdings mit dem Lustgarten, dem Park und eigentlich allen anderen Orten im Haus aus, abgesehen selbstverständlich dem dritten Stock. Dort gab es nur Lagerräume, die Zimmer der Dienstboten und die Aufenthaltsräume der Kinder.
»Hör zu, Ninny, ich schau mich in den Ställen um, und du, du gehst zurück ins Haus. Hast du gehört? Sag Miss Croven, dass ich auch gleich hochkomme, hoffentlich mit Marie!«
Ohne Widerrede lief Ninette Richtung Küche. Besorgt strich sich Annabell über die Stirn. Sie war erst seit zwei Wochen auf Windermere Castle und konnte es kaum mehr erwarten, wieder abgeholt zu werden. Oh, sie mochte ihre Cousinen, sehr sogar. Sie genoss es, Spielkameraden zu haben, auch wenn sie nicht in ihrem Alter waren, und war daher immer zu einer Runde Verstecken mit Marie bereit oder „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mit Ninette. Nun, fast immer. Gerade in dem Moment wäre es ihr lieber, nicht spielen zu müssen. Sie seufzte auf und begab sich schweren Herzens in ihr Schicksal. Schnellen Schrittes lief sie zu den Ställen, immer darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden. Vorsichtig drückte sie das Tor zum Stall gerade so weit auf, um sich hindurchzwängen zu können. Achtsam sah sie sich um, durchsuchte die leeren Boxen und vergaß auch nicht, in die belegten Boxen einen Blick zu werfen. Leise rief sie nach der Cousine, in der Hoffnung, von dem Mädchen trotz der Geräuschkulisse gehört zu werden.
Die Pferde machten einen ungeheuren Krach, sie scharrten mit den Hufen im Heu, kauten ihren Hafer und wieherten nahezu unaufhörlich. Annabell biss sich auf die Lippen; wenn Marie nicht in der Futterkammer oder der Sattelkammer war, musste sie auf den Heuboden hochklettern. Kein besonders angenehmer Gedanke! Das Problem dabei war nicht das Hochklettern. Sie war zuversichtlich, dass sie die steile Stiege erklimmen konnte, allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie wieder herunterkommen sollte. Andererseits bräuchte sie sich darüber vermutlich keine Sorgen zu machen, so beruhigte sie sich lakonisch, denn ein unbeabsichtigter Blick nach unten würde sie sicherlich umbringen. Ihr Herz würde schneller und schneller schlagen und schließlich ganz bestimmt einfach aufhören, so wie bei ihrem Vater. Ihre Schwester Sarah war dabei gewesen, als dieser in einem Moment noch wie ein Wahnsinniger brüllte und im nächsten Augenblick verstummt zu Boden ging. Wie ein gefällter Baum. Aus Angst. Weil Sarah auf einen Baum geklettert war. Es war also möglich, aus Angst zu sterben. Und wer sagte, dass sie dieses Mal nicht so viel Angst haben würde, dass es mit ihr vorbei sein würde? Beim letzten Mal, jedenfalls war es sehr schlimm gewesen und wenn Marcus, ihr Schwager, sie nicht im letzten Moment gefunden und von dem Vorsprung gerettet hätte … Sie war nahe ihres Elternhauses an den Klippen spazieren gewesen, von einem durch die Gicht feuchten Felsen gerutscht und beinahe ins wogende Meer gestürzt. Seitdem mied sie nicht nur glitschige Felsen, sondern Höhen generell. Von ihren Gedanken abgelenkt, achtete sie nicht auf die verräterischen Laute, die sie sonst sicher aufgehalten hätten, und öffnete die Tür zur Sattelkammer. Erschrocken blieb sie mitten in der Bewegung stehen. Ein Pärchen hatte sich diesen kaum besuchten Ort für ein Stelldichein ausgesucht und bot dem unbedarften Mädchen ein schockierendes Bild. Die Dame saß halb auf einem Sattelbock und stützte sich mit den Armen nach hinten ab, während ihr Galan zwischen ihren entblößten Schenkeln stand und seine Hüfte rhythmisch gegen ihre stieß. Dabei ergaben sich seltsame Töne, die von den spitzen Schreien der Frau allerdings überlagert wurden. Entgeistert fragte sich Annabell, wie sie das hatte überhören können und blinzelte. Sie fasste sich schnell und wollte sich lautlos zurückziehen, als die Dame sie entdeckte und in ein ohrenbetäubendes Kreischen ausbrach. Geschwind stieß sie den Mann von sich und bedeckte ihre Blöße mit ihren farbenfrohen Röcken. Erbost lief sie zu dem erstarrten Mädchen und griff ihr ins Haar, um ihren Kopf nach hinten zu ziehen. Annabell schrie gepeinigt auf. Sie fasste nach der Hand in ihren losen Zöpfen und versuchte, sie aus ihrem Haar zu lösen. Stattdessen verstärkte sich der Zug, bis ihre gesamte Kopfhaut wie Feuer brannte. Tränen schossen in ihre Augen, und sie musste sich auf die Lippe beißen, um sie zurückzuhalten.
»Wenn du auch nur einen Ton verlauten lässt, wirst du mich kennenlernen, hast du mich verstanden? Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, verfluchte Göre!«
Annabell sah auf und fuhr unter dem gehässigen Blick der giftgrünen Augen zusammen.
»Lass sie los, Miranda. Das ist doch bloß ein Kind!«
Der Mann war neben die Dame getreten, die das Mädchen drangsalierte, und griff nun seinerseits nach der brutalen Hand in den goldblonden Zöpfen des Kindes. Miranda zog noch ein letztes Mal und ließ sie dann so plötzlich los, dass Annabell nach hinten fiel. Genau diesen Moment wählte Marie, um aus ihrem Versteck zu springen und sich weinend auf die Cousine zu werfen. Die Kleine hatte sich hinter der großen Zaumzeugtruhe verborgen und geduldig darauf gewartet, dass man sie fand. Annabell schloss das Kind in die Arme und flüsterte, selbst den Tränen nahe: »Da bist du ja! Du brauchst nicht zu weinen, ich habe dich ja gefunden.«
Nathan Mannings seufzte innerlich. Er hatte sich eigentlich nur mit der hübschen Countess of North amüsieren wollen, bevor er sich mit seinem Bruder traf, um über eine Aufstockung seiner Apanage zu sprechen. Da Albert, sein älterer Bruder und der derzeitige Lord Westbrook, Duke of Kent, mit seinen Eskapaden eher unzufrieden war, würde dieser Zwischenfall wahrscheinlich zu einer negativen Antwort führen. Ärgerlich sah er von der aufgebrachten Lady North zu den beiden Mädchen am Boden. Die Ältere warf ihm einen ängstlichen Blick zu. Entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, verbeugte er sich kurz vor den Kindern.
»Missen Windermere, nehme ich an? Ihr Diener. Darf ich Ihnen aufhelfen?«
Nathan hörte Miranda hinter sich schnauben. Er verstand wohl, dass die Situation für sie noch wesentlich unangenehmer war als für ihn. Ihr Gemahl war für seinen Unmut bekannt, und sie hatte eine Tochter, die sie gerade gut zu verheiraten trachtete. Er ignorierte seine derzeitige Geliebte und reichte dem ihn misstrauisch betrachtenden Mädchen die Hand, die sie schließlich zögernd annahm. Sie war federleicht, und durch den Schwung stieß sie gegen seinen Körper. Rasch schob sie sich wieder von ihm fort und half dem immer noch weinenden Mädchen hoch. Marie presste sich an die Cousine und jammerte: »Seine Lordschaft wird so ungehalten sein! Bestimmt wird er mich ganz böse bestrafen!«
Marie schniefte herzzerreißend und vergrub ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht in die Falten des Rocks ihrer Cousine.
»Hab keine Angst, Marie, seine Lordschaft wird ganz bestimmt nichts erfahren«, versicherte Annabell und strich dem aufgebrachten Kind beruhigend über den Rücken. Abschätzend musterte sie den Lord und die Lady. Die Dame sah sie immer noch aus zusammengekniffenen Augen einschüchternd an, während ihr Liebhaber den Mädchen zuzwinkerte.
»Aber diese Leute werden doch alles verraten!«, schluchzte Marie verzweifelt.
»Aber nein! Glaub mir, die Herrschaften möchten sicher genauso wenig wie wir, dass jemand von unserem Zusammentreffen hier erfährt!«
Annabell wandte sich dem Lord zu und versprach ernsthaft: »Wir haben niemanden gesehen, weil wir gar nicht da waren. Sie waren doch heute auch nicht im Stall, oder Mylord?«
Nathan lachte amüsiert auf.
»Nein, Ihre Ladyschaft und ich waren heute nicht im Stall. Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen Absprachen zu treffen, Miss Windermere.«
Er verbeugte sich wieder vor ihr und griff belustigt nach der Hand des Mädchens, um sie zu küssen. Errötend entzog sie ihm ihre Hand wieder und senkte die Wimpern. Dann gab sie sich einen Ruck und blinzelte durch eben diese dunklen, langen Härchen zu dem Gentleman auf. Sie fand schon ihren Schwager Lord Suffolk zum Niederknien gut aussehend, aber dieser Mann sah noch besser aus! Suffolk war blond und blauäugig, von durchschnittlicher Größe und athletischer Figur. Dieser Mann vor ihr war aber größer. Er hatte rabenschwarzes Haar und durchdringende, graue Augen. Sein Lächeln war schier umwerfend, und die Berührung seiner unbehandschuhten Hand an ihrer war aufrüttelnd gewesen. Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen und wünschte sich flüchtig, dem Rat der Gouvernante gefolgt zu sein: Ihr Haar nicht mehr in mädchenhaften Zöpfen zu tragen. Nach einem letzten Blick in die stürmisch grauen Augen des Lords knickste Annabell flüchtig vor der sie immer noch grimmig betrachtenden Lady und verließ dann schnellen Schrittes die Sattelkammer. Ihre Cousine folgte ihr dicht auf und bombardierte sie, kaum den Augen der Erwachsenen entwichen, mit neugierigen Fragen.